Leitsatz (amtlich)

Erreicht ein Beschädigter in seinem Ausweichberuf eine über dem Vergleichsberuf liegende Berufsstellung und gibt er diese schädigungsbedingt auf, so hat er nur dann Anspruch auf Berufsschadensausgleich, wenn sein Einkommen unter das Vergleichseinkommen sinkt; eine höhere Berufsstellung im Ausweichberuf kann nicht als Vergleichsberuf gewertet werden (Aufgabe von BSG vom 30.11.1971 10 RV 150/70 = SozR Nr 53 zu § 30 BVG).

 

Normenkette

BVG § 30 Abs 3; BVG § 30 Abs 4; BVG § 30 Abs 5

 

Verfahrensgang

SG Stuttgart (Entscheidung vom 13.10.1987; Aktenzeichen S 15 V 509/87)

 

Tatbestand

Der Kläger beantragte im Oktober 1986 Berufsschadensausgleich. Er hat als Soldat im Zweiten Weltkrieg den rechten Arm verloren und bezieht wegen dieser Schädigungsfolgen und wegen eines Wackelknies sowie verschiedener Narben Beschädigtenrente entsprechend einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 80 vH. Vor dem Wehrdienst hatte er eine Maschinenschlosserlehre absolviert; nachher war er in verschiedenen Beschäftigungen tätig, ab 1949 als Dienstordnungs (DO)-Angestellter bei einer Berufsgenossenschaft, zuletzt mit den Bezügen eines Amtsrats (Besoldungsgruppe A 12). Ende Januar 1984 ist er auf seinen Antrag nach Vollendung des 60. Lebensjahres entsprechend § 42 Abs 3 Nr 2 Bundesbeamtengesetz (BBG) ohne Nachweis einer Dienstunfähigkeit in den Ruhestand versetzt worden. Ein Berufsschadensausgleich wurde mangels schädigungsbedingten Einkommensverlustes abgelehnt (Bescheid vom 29. Januar 1987). Das Sozialgericht (SG) hat den Beklagten verurteilt, dem Kläger ab 1. Oktober 1986 Berufsschadensausgleich entsprechend einem Vergleichseinkommen eines Beamten des gehobenen Dienstes mit der Besoldungsgruppe A 12 in der 14. Dienstaltersstufe zu gewähren (Urteil vom 13. Oktober 1987). Es hat die Schädigungsfolgen als wesentliche Bedingung für das Ausscheiden aus dem Erwerbsleben und die dadurch verursachte Einkommensminderung beurteilt. Ob der Kläger, wie er behauptet, wegen Stumpfbeschwerden nicht mehr seine beruflichen Aufgaben habe voll erfüllen können, sei nicht entscheidend. Für den Anspruch genüge, daß er ohne die Schwerbehinderteneigenschaft, die auf die Schädigungsfolgen zurückzuführen sei, nicht die Möglichkeit gehabt hätte, mit Vollendung des 60. Lebensjahres sich in den Ruhestand versetzen zu lassen. Die Schwerbehinderteneigenschaft zeige eine Dienst- und Erwerbsunfähigkeit an, ohne daß das Gegenteil nachgewiesen werden könne. Das Vergleichseinkommen sei nicht nach dem vor dem Wehrdienst erlernten Beruf zu bestimmen, sondern nach der Berufsstellung, die der Kläger zuletzt vor dem schädigungsbedingten Ausscheiden aus dem Hauptberuf erreicht habe. Dieses Einkommen sei nicht nach § 8 Berufsschadensausgleichsverordnung zu kürzen, da der Kläger ohne die Schädigungsfolgen noch erwerbstätig wäre.

Der Beklagte rügt mit der - vom SG zugelassenen - Sprungrevision, daß das Vordergericht nicht in der erforderlichen Weise auf einen nachzuweisenden Ursachenzusammenhang zwischen Einkommensverlust und Schädigungsfolgen abgestellt habe. Ein schädigungsbedingtes Ausscheiden aus dem letzten Beruf sei nicht zwingend aus der vorzeitigen Versetzung in den Ruhestand aufgrund des § 10 DO iVm § 42 Abs 3 Satz 1 Nr 2 BBG zu schließen. Im übrigen spreche die allgemeine Erfahrung, daß mehr als 80 vH der männlichen Erwerbstätigen vorzeitiges Altersruhegeld in Anspruch nehmen, gegen die Annahme, der Kläger wäre ohne seine Schädigungsfolgen über den 31. Januar 1987 (Vollendung des 63.Lebensjahres) hinaus erwerbstätig geblieben.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des SG aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er beruft sich auf das angefochtene Urteil.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

Die Sprungrevision des Beklagten ist begründet. Das Urteil des SG ist aufzuheben, die Klage abzuweisen.

Der Anspruch auf Berufsschadensausgleich ist nicht begründet. Anspruchsvoraussetzung ist nach § 30 Abs 3 Bundesversorgungsgesetz (BVG), daß das Einkommen des Beschädigten aus gegenwärtiger oder früherer Tätigkeit "durch die Schädigungsfolgen gemindert ist (Einkommensverlust)". Ob der Kläger "durch die Schädigungsfolgen" aus seinem Beruf als aktiver Amtsrat vorzeitig ausgeschieden ist, braucht hier nicht entschieden zu werden. Denn es steht fest, daß der Kläger dadurch jedenfalls keinen Einkommensverlust iS des BVG erlitten hat. Entgegen der Meinung des SG ist nämlich Einkommensverlust nicht der Unterschiedsbetrag zwischen den Dienst- und den Ruhestandsbezügen eines Amtsrats. Ein Einkommensverlust läge nur vor, wenn die Ruhestandsbezüge geringer wären als das Durchschnittseinkommen in dem Beruf, den der Kläger als Schlosser wahrscheinlich erreicht hätte.

Daß die Differenz zwischen den Dienstbezügen und den Ruhestandsbezügen nicht maßgebend ist, ergibt sich aus der Begriffsbestimmung des Einkommensverlustes, die das Gesetz in § 30 Abs 4 und 5 BVG festlegt. Nach § 30 Abs 4 Satz 1 BVG ist Einkommensverlust der Unterschiedsbetrag zwischen dem derzeitigen Bruttoeinkommen aus gegenwärtiger oder früherer Tätigkeit zuzüglich der Ausgleichsrente (derzeitiges Einkommen) und dem höheren Vergleichseinkommen. Das Vergleichseinkommen, das höher sein muß als das derzeitige Einkommen, ist nach § 30 Abs 5 BVG zu errechnen. Das Vergleichseinkommen errechnet sich danach auf statistischer oder tariflicher Grundlage "aus dem monatlichen Durchschnittseinkommen der Berufs- oder Wirtschaftsgruppe, der der Beschädigte ohne die Schädigung nach seinen Lebensverhältnissen, Kenntnissen und Fähigkeiten und dem bisher betätigten Arbeits- und Ausbildungswillen wahrscheinlich angehört hätte".

Schon diese Fassung des Gesetzes - "ohne die Schädigung" - zeigt, daß der schädigende Vorgang insgesamt weggedacht und der wahrscheinliche Berufsweg von der Zeit an nachgezeichnet werden muß, in der die Schädigung iS des § 1 Abs 1 BVG stattgefunden hat. Es ist damit zur Ermittlung der maßgebenden Berufsgruppe von dem Beruf auszugehen, aus dem der Beschädigte damals durch die Schädigung verdrängt worden ist. Dieser Beruf einschließlich der Entwicklung, die ein Nichtbeschädigter in diesem Beruf genommen hätte, ist Vergleichsgrundlage. Dieser Beruf - Vergleichsberuf - bleibt auch maßgebend. Zwar ist es heute nicht mehr unwahrscheinlich, daß im Laufe eines Arbeitslebens der Beruf gewechselt wird. Wenn aber - wie hier - kein Anhalt dafür besteht, daß der Beschädigte ohne die Schädigung in einen bestimmten Beruf übergewechselt wäre, kann kein anderer Vergleichsberuf zugrunde gelegt werden.

Insbesondere kann nicht der Beruf, auf den der Beschädigte nach der Schädigung ausgewichen ist - Ausweichberuf -, als Vergleichsberuf herangezogen werden. Nur wenn der Beschädigte seinen vor der Schädigung ausgeübten oder angestrebten Beruf trotz der Schädigung ausübt und durch die Schädigung an einem Aufstieg in diesem Beruf gehindert wird, kann die höhere Berufsstellung zur Ermittlung eines höheren Vergleichseinkommens dienen (§ 2 Abs 2 Berufsschadens-Ausgleichs-VO).

Ein Ausweichberuf kann auch dann nicht zum Vergleichsberuf werden, wenn der Beschädigte in seinem Ausweichberuf aufsteigt und mehr verdient, als er in dem Vergleichsberuf verdienen würde. Das gilt auch dann, wenn der Beschädigte wegen der Schädigungsfolgen in dem höherbezahlten Ausweichberuf weniger verdient, als er als Gesunder in diesem Beruf verdienen würde. Das folgt nicht nur aus dem Wortlaut des § 30 Abs 5 BVG, sondern auch aus seinem Sinn. Denn solange er soviel oder mehr verdient als in dem Beruf, aus dem er infolge der Schädigung verdrängt wurde, besteht kein finanzieller Schaden, der auf diese Verdrängung zurückgeführt werden könnte. Sonstige schädigungsbedingte Nachteile, die er in diesem Beruf - dem Ausweichberuf der zum "Aufsteigerberuf" geworden ist - immerhin noch haben kann, werden durch die Grundrente ausgeglichen. Das folgt aus § 30 Abs 2 BVG, wonach besondere Nachteile zu einer Erhöhung der Grundrente führen.

Das Gesetz erlaubt es somit nicht, hier den Beruf eines aktiven Amtsrats als Vergleichsberuf und den eines Amtsrats im Ruhestand als Ausweichberuf zu beurteilen.

Der 10. Senat des Bundessozialgerichts -BSG- (SozR aF BVG § 30 Nr 53) hat allerdings entschieden, daß es zwingende Gründe geben kann, die dazu führen, bei der Berechnung des Berufsschadensausgleichs einen Ausweichberuf als Vergleichsberuf zugrunde zu legen. Er hat dies in einem Fall angenommen, in dem ein Beschädigter durch besonderen Leistungswillen eine weit über dem eigentlichen Vergleichsberuf stehende Berufsstellung erreicht hatte, dann aber infolge einer Verschlimmerung der Schädigungsfolgen gezwungen war, auch diesen Ausweichberuf aufzugeben. In diesem Fall sei es sozial nicht vertretbar, den Beschädigten nun wieder nach dem ursprünglichen Vergleichsberuf zu entschädigen. Es sei dem Beschädigten ein derartiger sozialer Abstieg nicht zuzumuten.

Der erkennende 9. Senat, der nunmehr für das Recht der Kriegsopferversorgung ausschließlich zuständig ist, folgt dieser Auffassung nicht, denn auch unter Aufrechterhaltung der klaren Unterscheidung von Ausweich- und Vergleichsberuf kann in den Fällen, die der 10. Senat im Auge hatte, ein unzumutbarer sozialer Abstieg des Beschädigten verhütet werden. Die besondere Leistung, die den Beschädigten zu einem Aufstieg in dem Ausweichberuf geführt hat, fällt nämlich bei der Prüfung der Frage ins Gewicht, welche berufliche Entwicklung der Beschädigte in seinem Vergleichsberuf wahrscheinlich genommen hätte. § 30 Abs 5 BVG verlangt nicht nur die Feststellung, welchen Beruf der Beschädigte unmittelbar nach der Schädigung ausgeübt hätte, sondern auch, welche berufliche Stellung der Beschädigte ausgehend von diesem damaligen Beruf heute hätte. Dabei ist der "bisher betätigte Arbeits- und Ausbildungswille" mit entscheidend. Zwar mag dabei vor allem an den vor der Schädigung betätigten Willen gedacht sein; der in dem Ausweichberuf in den nächsten Jahrzehnten betätigte Wille läßt aber überzeugende Rückschlüsse darauf zu. Ein besonderer Erfolg in dem Vergleichsberuf wird damit wahrscheinlich.

So ist es auch hier. Die besondere Leistung, die der Kläger in seinem Ausweichberuf als Angestellter im öffentlichen Dienst gezeigt hat, macht es wahrscheinlich, daß er auch in seinem Vergleichsberuf als Schlosser besonderen Erfolg gehabt hätte. Es ist wahrscheinlich, daß er auch in diesem Beruf eine gehobene Stellung, etwa in der metallverarbeitenden Industrie, erlangt hätte. Die Durchschnittswerte, die in diesem Vergleichsberuf zugunsten des Klägers zugrunde zu legen sind, sind aber immer noch niedriger als die Ruhestandsbezüge, die der Kläger tatsächlich erhält (vgl die "Vergleichseinkommen für die Feststellung der Berufsschadens- und Schadensausgleiche nach dem BVG", die jährlich durch den Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung im Bundesanzeiger bekannt gemacht werden, zuletzt Bundesanzeiger 1988, Nr 96 S 2282).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1658128

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