Entscheidungsstichwort (Thema)

Verlängerte Waisenrente bei fehlendem Ausbildungsplatz

 

Leitsatz (amtlich)

Eine erweiternde oder entsprechende Anwendung von RVO § 1267 Abs 1 S 2 dahin, daß Waisenrente auch Kindern zusteht, die nach Vollendung des 18. Lebensjahres keinen Ausbildungsplatz erhalten, ist nicht zulässig.

 

Orientierungssatz

1. Es läßt sich weder aus dem Sinn und Zweck der verlängerten Waisenrente noch aus ihrer Funktion im System der Sozialversicherung eine Anspruchsberechtigung in allen Fällen ableiten, in denen Vater oder Mutter über das 18. Lebensjahr des Kindes hinaus verpflichtet gewesen wären, Unterhalt zu leisten oder das tatsächlich getan hätten.

2. Gegen die in § 1267 Abs 1 S 2 RVO getroffene Regelung bestehen keine verfassungsrechtlichen Bedenken.

 

Normenkette

RVO § 1267 Abs 1 S 2 Fassung: 1971-01-25; GG Art 6 Abs 1

 

Verfahrensgang

SG Berlin (Entscheidung vom 02.05.1979; Aktenzeichen S 31 J 284/78)

 

Tatbestand

Die am 13. Juni 1956 geborene Klägerin beansprucht Halbwaisenrente aus der Versicherung ihrer am 15. Februar 1977 verstorbenen Mutter.

Den im Februar 1977 gestellten Rentenantrag der Klägerin lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 1. August 1977 ab, weil die Klägerin, die das 18. Lebensjahr bereits vollendet habe, sich nicht in Schul- oder Berufsausbildung befinde und auch die übrigen Voraussetzungen des § 1267 Abs 1 Satz 2 Reichsversicherungsordnung (RVO) nicht erfüllt seien. Der Widerspruch der Klägerin wurde zurückgewiesen (Widerspruchsbescheid vom 25. Januar 1978).

Das Sozialgericht (SG) hat die dagegen gerichtete Klage mit Urteil vom 2. Mai 1979 abgewiesen. Es hat im wesentlichen ausgeführt, das Vorbringen der Klägerin, sie habe weder mit Hilfe des Arbeitsamtes noch durch eigene Bemühungen einen Ausbildungsplatz erhalten können, rechtfertige es nicht, ihr Waisenrente zuzubilligen. Auch wenn der Gesetzgeber den Waisen in der Berufsausbildung Renten zuerkenne, so gehe das Risiko, keine Lehrstelle zu erhalten, nicht in Form einer Waisenrente zu Lasten der Sozialversicherung. Durch Beschluß vom 25. Juni 1979 hat die Kammervorsitzende beim SG die Sprungrevision unter Umgehung der Berufungsinstanz gegen dieses Urteil zugelassen.

Mit ihrer Revision macht die Klägerin geltend, mindestens in entsprechender Anwendung des § 1267 RVO stehe ihr die begehrte Halbwaisenrente zu. Seit längerem sei sie beim zuständigen Arbeitsamt als Anwärterin für einen Ausbildungsplatz eingeschrieben. Wegen der angespannten Situation auf dem Arbeitsmarkt, insbesondere bei den Lehrstellen, habe ihr ein Ausbildungsplatz nicht nachgewiesen werden können. Auch ihre eigenen diesbezüglichen Bemühungen seien ohne Erfolg geblieben. Wenn der Gesetzgeber ein erhöhtes Rentenbedürfnis für diejenigen Waisen anerkenne, die sich in der Berufsausbildung befänden oder sich nicht selbst unterhalten könnten, so müsse das erst recht für Kinder gelten, die aufgrund der prekären Lehrstellensituation gar nicht in der Lage seien, eine Berufsausbildung anzutreten.

Die Klägerin beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und nach dem

Klageantrag zu erkennen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

Die Sprungrevision der Klägerin ist zulässig. Zwar hätten die ehrenamtlichen Richter bei der nachträglichen Zulassung der Sprungrevision (§ 161 Sozialgerichtsgesetz -SGG-), die von der Kammervorsitzenden des SG am 25. Juni 1979 allein beschlossen worden ist, mitwirken müssen; aber auch dieser verfahrensfehlerhafte Beschluß bindet das Bundessozialgericht (BSG - vgl BSGE 51, 23, 30).

In der Sache vermochte jedoch die Revision keinen Erfolg zu haben, denn der Klägerin steht die verlängerte Waisenrente nach Vollendung des 18. Lebensjahres nicht zu.

Bereits im Jahre 1974 war die Klägerin 18 Jahre alt geworden. Halbwaisenrente hätte ihr beim Tode ihrer Mutter am 15. Februar 1977 aus deren Versicherung - abgesehen von den Anspruchsberechtigungen aufgrund eines freiwilligen sozialen Jahres und bei körperlichen oder geistigen Gebrechen - längstens bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres nur zugestanden, wenn sie sich in Schul- oder Berufsausbildung befunden hätte (§ 1267 Abs 1 Satz 2 RVO). Das war nach den unangreifbaren Feststellungen des SG (§ 161 Abs 4 SGG) nicht der Fall.

Die Klägerin will § 1267 Abs 1 Satz 2 RVO erweiternd oder entsprechend dahingehend angewendet wissen, daß Waisenrente auch solche Kinder erhalten, die wegen fehlender Ausbildungsplätze nicht in der Lage sind, eine Berufsausbildung anzutreten. Außer dem Wortlaut des Gesetzes sprechen gegen die Ansicht der Revision die Erforschung des Sinnes der Vorschrift und die Funktion der Waisenrente im System der sozialen Sicherung. Gegen die in § 1267 Abs 1 Satz 2 RVO getroffene Regelung bestehen auch keine verfassungsrechtlichen Bedenken.

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat im System der Sozialversicherungsleistungen die Aufgabe der Waisenrente dahingehend umschrieben, sie solle einen Ausgleich für die durch den Tod von Vater oder Mutter eingetretene Beeinträchtigung der Familiengemeinschaft, des natürlichen wirtschaftlichen Gefüges des Familienhaushalts, gewähren. Sie habe daher Unterhaltscharakter, insofern sie den Ausfall der familiären Unterhaltsleistungen ganz oder wenigstens zum Teil ersetzen solle. Die verlängerte Waisenrente entspreche speziell dem Bedarf des noch in der Ausbildung Stehenden zur Deckung seines Unterhalts (vgl BVerfGE 28, 324, 348). Da die Ersatzleistungen der Sozialversicherung diesem Bedarf entsprechen sollen, der durch den Wegfall der Unterhaltsleistung typischerweise entsteht, hat der Gesetzgeber die Gewährung von Waisenrente für die Zeit nach Vollendung des 18. Lebensjahres zulässigerweise auf Fälle beschränkt, in denen normalerweise anzunehmen ist, daß sich die Waise nicht selbst unterhalten kann (vgl BVerfGE 28, 324, 354 f; 40, 121, 134 f = SozR 2400 § 44 Nr 1).

Der Gesetzgeber ist bei der Waisenrentenregelung davon ausgegangen, daß grundsätzlich der Bedarf an Unterhaltsleistungen mit der Vollendung des 18. Lebensjahres aufhört. Nur in den "typischen" Fällen, in denen normalerweise anzunehmen ist, daß sich ein 18-Jähriger - und damit nach dem Gesetz Volljähriger - nicht selbst unterhalten kann (freiwilliges soziales Jahr, Berufsausbildung, Gebrechlichkeit) will der Gesetzgeber über diese Altersgrenze hinaus Waisenrente bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres gewähren. Diese "verlängerte" Waisenrente kommt dagegen nicht schon immer dann in Betracht, wenn der Versicherte - wäre er nicht gestorben - voraussichtlich Unterhaltsleistungen erbracht hätte. Nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG ist eine derartig typisierende Betrachtungsweise unter Vernachlässigung der Besonderheiten einzelner Fälle gerade bei der Ordnung von Massenerscheinungen im Sozialversicherungsbereich verfassungsgemäß (vgl BVerfGE 17, 1, 23; 28, 324, 355 und BSG in SozR 2200 § 1255 Nr 6 mwN). Das gilt bei einer versicherungsrechtlichen Komponente, wie sie die Waisenrente aufweist, besonders auch für die notwendige typisierende Begrenzung des Versicherungsrisikos (so BVerfGE 40, 121, 136). Folglich läßt sich weder aus dem Sinn und Zweck der verlängerten Waisenrente noch aus ihrer Funktion im System der Sozialversicherung eine Anspruchsberechtigung in allen Fällen ableiten, in denen Vater oder Mutter über das 18. Lebensjahr des Kindes hinaus verpflichtet gewesen wären, Unterhalt zu leisten oder das tatsächlich getan hätten. Auch war der Gesetzgeber nicht gehalten, insoweit allen "Wechselfällen des Lebens" Rechnung zu tragen, bei denen es im Einzelfall angezeigt sein könnte, durch den Tod von Vater oder Mutter ausgefallene Unterhaltsleistungen auszugleichen.

Nicht zu den typischen Risiken, die von der verlängerten Waisenrente erfaßt werden, gehört der Fall der Klägerin, der es nicht gelungen ist, den erstrebten Ausbildungsplatz für den Beruf einer Fotografin zu erhalten. Dieses im Vorfeld der Ausbildung liegende Risiko unterscheidet sich im Hinblick auf die Funktion der verlängerten Waisenrente deutlich von den dort erfaßten Risiken der bereits begonnenen Berufsausbildung oder der Gebrechlichkeit. Das Risiko, keinen Arbeits- oder Ausbildungsplatz zu erhalten, wird in unserem System der sozialen Sicherung grundsätzlich im Rahmen des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) abgedeckt. Befindet sich die Waise nicht in der Berufsausbildung, dann ist damit noch nicht gesagt, daß sie unterhaltsbedürftig ist. Von einem - nicht in Berufsausbildung stehenden - 18-Jährigen und damit Volljährigen darf vielmehr in der Regel erwartet werden, daß er den eigenen Lebensunterhalt selbst verdienen kann. Dies ist jedenfalls vorübergehend bis zum Erhalt eines Ausbildungsplatzes auch durch Aufnahme einer ungelernten Tätigkeit möglich. Es ist daher verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, wenn der Gesetzgeber in derartigen Fällen keine typische Bedarfssituation angenommen hat, bei der der Ausfall väterlicher oder mütterlicher Unterhaltsleistungen gerade durch eine Sozialversicherungsrente ausgeglichen werden müßte (vgl BVerfGE 40, 121, 135).

Die demnach unbegründete Revision der Klägerin mußte zurückgewiesen werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1659092

BSGE, 237

NJW 1982, 1120

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