Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 01.10.1980) |
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 1. Oktober 1980 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
I
Streitig ist ein Anspruch auf verlängerte Waisenrente.
Der 1957 geborene Kläger bezog nach seinem 1965 verstorbenen Vater von der beklagten Landesversicherungsanstalt (LVA) bis zur Vollendung des 18, Lebensjahres im März 1975 Halbwaisenrente.
Ebenfalls seit März 1975 befindet sich der Kläger in einer Justizvollzugsanstalt. Dort absolvierte er vom 1. November 1975 bis 30. April 1979 eine Berufsausbildung als Schreiner. Er erhielt eine Ausbildungsbeihilfe von arbeitstäglich zwischen 4,– und 5,– DM.
Den Antrag des Klägers bereits von Oktober 1978 auf Wiedergewährung der Waisenrente wegen Berufsausbildung lehnte die Beklagte mit der Begründung ab, daß er nicht durch diese, sondern durch die Strafhaft gehindert sei, sich seinen Lebensunterhalt durch eine Erwerbstätigkeit zu verdienen (Bescheid vom 4. April 1979).
Das Sozialgericht (SG) hat diesen Bescheid aufgehoben und die Beklagte verurteilt, dem Kläger für die Zeit vom 1. November 1975 bis 30. April 1979 Waisenrente zu gewähren (Entscheidung vom 25. April 1980). Auf die zugelassene Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) in dem angefochtenen Urteil vom 1. Oktober 1980 die Entscheidung des SG abgeändert und die Beklagte nur noch verpflichtet, dem Kläger Waisenrente vom 1. Oktober 1978 – Antrag des Klägers auf Wiedergewährung – bis 30. April 1979 zu gewähren; im übrigen hat das LSG die Klage abgewiesen und die Revision zugelassen. In der Begründung führt das Berufungsgericht aus, der Kläger erfülle mit seiner Berufsausbildung alle Voraussetzungen des § 1267 Abs. 1 Satz 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) für die Weitergewährung der Waisenrente bis – höchstens – zum 25. Lebensjahr. Dem stehe die Tatsache der Strafhaft nicht entgegen. Die Auffassung der Beklagten finde im Gesetz keine Stütze. Auf die tatsächliche Unterhaltsfähigkeit der Waise komme es nicht an.
Gegen diese Entscheidung richtet sich die Revision der Beklagten. Sie bringt vor, eine Berufsausbildung im Sinne des Gesetzes liege ua nur vor, wenn Zeit und Arbeitskraft der Waise durch die Ausbildung in einem Umfang in Anspruch genommen werden, die es ihr unmöglich macht, außerhalb der für die Ausbildung erforderlichen Zeit einem Lohnerwerb nachzugehen, der einen ausreichenden Lebensunterhalt sichert. Es müsse also zumindest die theoretische Möglichkeit bestehen, daß die Waise ohne die Ausbildung einer regelmäßigen Erwerbstätigkeit nachgehen könne. Das sei bei dem besonderen Zwangs Charakter der Strafhaft nicht der Fall. Die Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) in BSGE 14, 285, 287 – Waise als Fürsorgezögling – lasse sich auf den vorliegenden Fall nicht anwenden.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 1. Oktober 1980 abzuändern, das Urteil des Sozialgerichts Mannheim vom 25. April 1980 aufzuheben und die Klage in vollem Umfang abzuweisen.
Der Kläger ist im Verfahren vor dem BSG nicht vertreten.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision der Beklagten ist zulässig, aber nicht begründet.
Waisenrente erhalten nach § 1267 Abs. 1 Satz 1 RVO nach dem Tod des Versicherten ua seine Kinder bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres. Nach Satz 2 aaO wird jedoch die Waisenrente bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres für ein Kind gewährt, das sich ua in Berufsausbildung befindet. Daß die Ausbildung des Klägers zum Beruf eines Schreiners in der Justizvollzugsanstalt Berufsausbildung im Sinne des Gesetzes war, kann nicht zweifelhaft sein. Das behauptet auch die Beklagte nicht. Sie versagt dem Kläger die Halbwaisenrente für die Zeit der unstreitigen Berufsausbildung sinngemäß mit der Begründung, daß er schon durch die Strafhaft, nicht erst und nicht allein durch die Berufsausbildung gehindert gewesen sei, einer Unterhalts sichernden Erwerbstätigkeit nachzugehen.
Es trifft zu, daß der Gesetzgeber durch § 1267 Abs. 1 Satz 2 Regelung 1 RVO der Tatsache Rechnung trägt, daß die Waise über das 18. Lebensjahr hinaus durch eine Berufsausbildung daran gehindert ist, ihren Unterhalt durch eine Erwerbstätigkeit sicherzustellen. Nur für die dritte Regelung aaO ist das Außerstandesein der Waise, sich wegen der im Gesetz genannten Umstände selbst unterhalten zu können, ausdrücklich genannt; sie gilt aber bei evident gleichem Regelungszweck ebenso für die ersten beiden Regelungen aaO (allgemeine Meinung, vgl. zB BSGE 14, 285, 287 = SozR Nr. 4 zu § 1267 RVO; Zweng/Scheerer, Handbuch der Rentenversicherung, 2. Aufl, § 1262 Anm. V B b).
Es ist ferner richtig, daß der Kläger allein schon durch die Strafhaft gehindert war, in der streitigen Zeit seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Indessen übersieht die Beklagte, daß der Kläger hieran in gleicher Weise auch durch die Berufsausbildung zum Schreiner gehindert war; diese Verhinderung durch die Berufsausbildung läge für die streitige Zeit, würde die Strafhaft hinweggedacht, genauso vor. Einen rechtlichen „Vorrang” in der Ursächlichkeit der Hinderung, wie dies die Beklagte anzunehmen scheint, kommt der Strafhaft nicht zu. Allenfalls trifft zu, daß die Strafhaft ursächlich dafür war, daß der Kläger die hier streitige Berufsausbildung überhaupt aufgenommen und zu Ende gebracht hat. Das vermag aber nichts daran zu ändern, daß die Berufsausbildung dem § 1267 Abs. 1 Satz 2 RVO genügt; die Gründe, warum es zu der Berufsausbildung gekommen ist, sind nach dem Gesetz irrelevant.
Steht nach allem fest, daß bei dem Kläger in der streitigen Zeit sowohl die Verbüßung einer Strafhaft wie eine Berufsausbildung im Sinne des § 1267 Abs. 1 Satz 2 aaO ursächlich dafür waren, daß er sich seinen Lebensunterhalt nach Vollendung des 18. Lebensjahres nicht selbst verdienen konnte, so steht ihm Halbwaisenrente zu: In der gesetzlichen Rentenversicherung gilt dort, wo es um den ursächlichen Zusammenhang eines Erfolges mit einem bestimmten Ereignis geht, nicht anders wie in der gesetzlichen Unfallversicherung und im Recht der sozialen Entschädigung der Kausalbegriff der wesentlichen Bedingung (vgl. hierzu mit zahlreichen Hinweisen aus der höchstrichterlichen Rechtsprechung den erkennenden Senat zuletzt in SozR 2200 § 1251 Nr. 69). Da, wie ausgeführt, die Berufsausbildung des Klägers nicht weniger als die Verbüßung einer Strafhaft dazu geführt hätte, daß er in dem hier streitigen Zeitraum einer unterhaltssichernden Erwerbstätigkeit nicht hätte nachgehen können, handelt es sich bei ihr um eine wesentliche Bedingung dieses dem Kläger nachteiligen Erfolgs. Damit sind die Voraussetzungen des § 1267 Abs. 1 Satz 2 RVO erfüllt und der Anspruch des Klägers in dem vom LSG zugesprochenen Umfang begründet.
Die Revision der Beklagten war daher zurückzuweisen.
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten (§ 193 des Sozialgerichtsgesetzes).
Fundstellen