Entscheidungsstichwort (Thema)
Verletzung der Sachaufklärungspflicht
Leitsatz (amtlich)
Zur Frage der Verletzung der Sachaufklärungspflicht (§ 103 S 1 SGG), wenn das Landessozialgericht von einer eigenen Beweiserhebung absieht und sein Urteil allein auf ein von einem Verfahrensbeteiligten eingeholtes ärztliches Gutachten stützt, obwohl der andere Verfahrensbeteiligte dagegen nicht unerhebliche Einwendungen vorbringt.
Orientierungssatz
Eine Verletzung der gerichtlichen Untersuchungsmaxime muß jedenfalls dann bejaht werden, wenn der andere Verfahrensbeteiligte gegen ein "Parteigutachten" nicht unerhebliche Einwendungen vorbringt.
Normenkette
SGG § 103 S 1
Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 08.10.1984; Aktenzeichen L 9 J 570/84) |
SG Reutlingen (Entscheidung vom 07.12.1983; Aktenzeichen S 5 J 378/83) |
Tatbestand
Der 1931 geborene Kläger, ein gelernter Schreiner, der sich jedoch seit 1955 dem Beruf des Lagerarbeiters zugewandt hat, erlitt am 12. September 1980 durch einen Arbeitsunfall mit offenem Oberschenkelbruch rechts, schwerstem Volumenmangelschock und vorübergehendem Herzstillstand eine Amputation des rechten Beines im Oberschenkel und bezieht deshalb Unfallrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 60 vH. Im November 1982 beantragte er Rente wegen Erwerbs- oder Berufsunfähigkeit. Aufgrund der medizinischen Beurteilung durch den Facharzt für Innere Krankheiten Dr. R. vom 12. Januar 1983 lehnte die Beklagte den Rentenantrag mit der Begründung ab, der Kläger könne trotz der Unfallfolgen noch leichte Arbeiten im Sitzen ohne Wechsel- oder Nachtschicht und ohne besonderen Zeitdruck vollschichtig verrichten, zumal er mit einem Stock ohne fremde Hilfe gehen könne (Bescheid vom 4. Februar 1983).
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage mit Urteil vom 7. Dezember 1983 abgewiesen und sich der Beurteilung der Beklagten angeschlossen. Im Berufungsverfahren hat sich der Kläger gegen seine Einstufung als Angelernter gewandt. Er hat in der mündlichen Verhandlung auf ein Attest des behandelnden Arztes vom 5. Oktober 1984 verwiesen, nach dem bei ihm eine deutliche geistige Verlangsamung bestehe, die offenbar Folge des beim Unfall erlittenen Blutverlustes sei, der zu einem Sauerstoffmangel im Gehirn geführt habe. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Es hat den Kläger zwar der Berufsgruppe der Facharbeiter zugeordnet, den Sachverhalt aber aufgrund des Gutachtens des Dr. R. für hinreichend geklärt erachtet und die Berufstätigkeit "Anreißen von Befestigungswinkeln" als eine dem Kläger zumutbare, tariflich als Anlerntätigkeit erfaßte Berufstätigkeit bezeichnet (Urteil vom 8. Oktober 1984).
Mit der vom Senat zugelassenen Revision rügt der Kläger sinngemäß, das LSG habe § 103 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) insbesondere deshalb verletzt, weil es in der Beurteilung des unfallbedingten Psychosyndroms des Klägers dem von einer neurologischen Beurteilung bereits nach neun Monaten abweichenden Gutachten des Facharztes für Innere Krankheiten Dr. R. gefolgt sei und nicht - wie beantragt - hierzu eine neurologisch-psychiatrische Begutachtung veranlaßt habe. Hierzu hätte Anlaß bestanden, weil hausärztlich bereits eine deutliche geistige Verlangsamung bestätigt worden sei.
Der Kläger beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des angefochtenen Urteils, des Urteils des SG Reutlingen vom 7. Dezember 1983 und des Bescheides vom 4. Februar 1983 zu verurteilen, ihm ab 1. Dezember 1982 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit, zu gewähren.
Die Beklagte hat sich zur Revision nicht geäußert.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs 2 SGG einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist im Sinne der Aufhebung des angefochtenen Urteils und der Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz begründet, weil der Kläger zu Recht eine Verletzung des § 103 SGG durch das Berufungsgericht gerügt hat.
Dem LSG kam es nach seiner materiell-rechtlichen Auffassung darauf an, einerseits die beim Kläger bestehende gesundheitliche Behinderung in einer Berufstätigkeit und andererseits zu klären, welche Tätigkeit im Anlernbereich er bei der festgestellten Behinderung noch zu verrichten vermochte. Es hat dabei jedoch die medizinische Aufklärung des Sachverhalts nicht hinreichend durchgeführt. Wie dem LSG aus dem im Verwaltungsverfahren erstatteten Gutachten des Facharztes für Innere Krankheiten Dr. R. vom 12. Januar 1983 bekannt war, lagen beim Kläger noch erhebliche Folgen des am 12. September 1980 erlittenen schweren Arbeitsunfalls mit anschließender Amputation des rechten Oberschenkels vor. Dazu gehörte ua das im Befundbericht des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. F. vom 25. Oktober 1982 festgestellte deutliche organische Psychosyndrom, das dieser Arzt als Unfallfolge ansah. Dieses Psychosyndrom ist in dem vom Facharzt für Innere Krankheiten Dr. R. im Auftrag der Beklagten erstatteten Gutachten vom 12. Januar 1983, auf das das LSG seine Beurteilung der Leistungsfähigkeit des Klägers allein gestützt hat, als abklingend bezeichnet.
Der erkennende Senat hat bereits Bedenken, ob die Tatsachengerichte der Sozialgerichtsbarkeit ihrer aus § 103 Satz 1 SGG folgenden Verpflichtung, den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen, genügen, wenn sie von einer eigenen - dh gerichtlich angeordneten - Beweiserhebung absehen und ihr Urteil ausschließlich auf die von einem Verfahrensbeteiligten (§ 69 SGG) veranlaßte medizinische Begutachtung gründen. Eine Verletzung der gerichtlichen Untersuchungsmaxime muß in einem derartigen Fall jedenfalls dann bejaht werden, - wenn der andere Verfahrensbeteiligte gegen das "Parteigutachten" nicht unerhebliche Einwendungen vorbringt. Das hat der Kläger hier durch seinen mit der ärztlichen Bescheinigung vom 5. Oktober 1984 untermauerten Antrag auf Einholung eines neurologisch-psychiatrischen Fachgutachtens getan.
In dieser Bescheinigung hat der den Kläger behandelnde Arzt für Allgemeinmedizin Dr. G. beim Kläger ein organisches cerebrales Mangelsyndrom mit einer deutlichen geistigen Verlangsamung des Patienten festgestellt. Dem LSG lagen mithin zwei einander widersprechende Beurteilungen des Klägers vor, die beide nicht von einem für die Beurteilung eines cerebralen Syndroms oder Psychosyndroms kompetenten Facharzt stammten. Aus diesem Grunde mußte das LSG die Überprüfung des Gesundheitszustandes des Klägers auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet von Amts wegen veranlassen, weil es selbst die dafür erforderliche Sachkunde nicht besaß.
Da nicht auszuschließen ist, daß das LSG bei Durchführung dieser weiteren Sachaufklärung zu einem dem Kläger günstigeren Ergebnis in bezug auf den erhobenen Anspruch auf Gewährung von Rente wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit gelangt wäre, beruht das angefochtene Urteil auf der mit der Revision gerügten unzulänglichen Aufklärung des Sachverhalts. Die Sache war daher unter Aufhebung des angefochtenen Urteils an die Vorinstanz zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).
Die Kostenentscheidung bleibt dem den Rechtsstreit abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen