Entscheidungsstichwort (Thema)
Berufsunfähigkeit. Erwerbsunfähigkeit. Sachaufklärung. medizinische Befundsicherung. Umfang der Gesundheitsstörung. Beginn des Zustandes
Orientierungssatz
Wenn das LSG ohne Sicherung der von dem medizinischen Sachverständigen angenommenen Gesundheitsstörung zur Feststellung der daraus vom Sachverständigen hergeleiteten Erwerbsbeeinträchtigung des Versicherten gelangt ist und sich von seinem sachlich-rechtlichen Standpunkt aus weder zu einer Klärung der Beurteilungsgrundlagen des Sachverständigen noch zur Ermittlung des Zeitpunktes gedrängt sah, in dem diese Erwerbseinschränkung erreicht worden sein soll, hat es die ihm obliegende Sachaufklärungspflicht (§ 103 SGG) verletzt.
Normenkette
SGG § 103 Fassung: 1974-07-30; RVO § 1246 Abs 2, § 1247 Abs 2
Verfahrensgang
Schleswig-Holsteinisches LSG (Entscheidung vom 08.09.1983; Aktenzeichen L 3 J 69/82) |
SG Lübeck (Entscheidung vom 12.02.1982; Aktenzeichen S 4 J 161/81) |
Tatbestand
Der 1940 geborene Kläger, ein türkischer Staatsangehöriger, war seit 1967 als ungelernter Arbeiter bei verschiedenen Betrieben in der Bundesrepublik Deutschland beschäftigt. Wegen einer Blutkrankheit (Polycythaemia vera) und der daraus folgenden Minderung seines Leistungsvermögens beantragte er im Februar 1981 Rente wegen Erwerbs- bzw Berufsunfähigkeit. Die Beklagte lehnte den Antrag durch Bescheid vom 13. April 1981 mit der Begründung ab, der Kläger könne nach der medizinischen Beurteilung, die sich auf die wegen seines Leidens angefallenen Krankenunterlagen stütze, noch leichte Arbeiten im Sitzen und im Stehen fortgesetzt vollschichtig ohne besonderen Zeitdruck verrichten.
Das Sozialgericht (SG) Lübeck hat die Klage nach Anhörung eines Facharztes für innere Krankheiten im Termin zur mündlichen Verhandlung durch Urteil vom 12. Februar 1982 abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht (LSG) einen Bericht des behandelnden Arztes, ein schriftliches Gutachten der II. Medizinischen Klinik - Abt. Onkologie und Hämatologie - der Universität H mit röntgenologischem, sonographischem und radiologischem Zusatzgutachten eingeholt und in der mündlichen Verhandlung die Ärzte für innere Medizin Dr. T, für Chirurgie Prof. Dr. O und für Neurologie und Psychiatrie Dr. D vernommen. Mit Urteil vom 8. September 1983 hat es in Abänderung des Urteils des SG und des angefochtenen Bescheides die Beklagte unter Zurückweisung der Berufung im übrigen verurteilt, dem Kläger unter der Annahme des Eintritts des Versicherungsfalles der Erwerbsunfähigkeit am 8. September 1983 Erwerbsunfähigkeitsrente auf Zeit bis zum 30. September 1986 und darüber hinaus Berufsunfähigkeitsrente auf Dauer zu gewähren. Das Leistungsvermögen des Klägers reiche nur noch für eine dreistündige Tätigkeit täglich aus. Nach der terminsgutachtlichen Stellungnahme des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. D seien die diesem Arzt gegenüber angegebenen Beschwerden als Ausdruck eines hirnorganischen Psychosyndroms hinreichend objektiviert sowie glaubhaft als Folge von Hirndurchblutungsstörungen erklärt. Anlaß, das von der Beklagten beantragte weitere psychiatrische Gutachten einzuholen, bestehe nicht, weil Dr. D eine ergänzende psychiatrische Untersuchung und Begutachtung als unnötig bezeichnet habe. Die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit sei gemäß § 1276 Abs 1 Satz 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) idF des Haushaltsbegleitgesetzes 1983 auf drei Jahre zu befristen. Die Rente wegen Berufsunfähigkeit stehe dem Kläger dagegen auf Dauer zu, weil insoweit die genannte Vorschrift nicht eingreife.
Mit der vom Senat zugelassenen Revision rügt die Beklagte Verletzungen der §§ 103, 128 und 62 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG).
Die Beklagte beantragt, das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 8. September 1983 aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Der Kläger hat sich innerhalb eines Monats nach Zustellung der Revisionsbegründung der Beklagten deren Revision angeschlossen und beantragt, die Beklagte unter Abänderung der Urteile der Vorinstanzen und des angefochtenen Bescheides zu verurteilen, dem Kläger Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit ab Februar 1981 zu leisten; hilfsweise, die Sache unter Aufhebung des angefochtenen Urteils zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Der Kläger rügt eine Verletzung der §§ 103 und 128 SGG sowie der §§ 1246 und 1247 RVO.
Entscheidungsgründe
Revision und Anschlußrevision sind im Sinne der Aufhebung des angefochtenen Urteils und der Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz begründet.
Zutreffend ist das LSG davon ausgegangen, daß der Anspruch auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit besteht, wenn - und sobald - der Versicherte infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder von Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte auf nicht absehbare Zeit eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit nicht mehr ausüben oder nicht mehr als nur geringfügige Einkünfte durch Erwerbstätigkeit erzielen kann. Von diesem Standpunkt des LSG aus war mithin festzustellen, ob und gegebenenfalls von welchem Zeitpunkt an die Erwerbsfähigkeit des Klägers unter die in § 1247 Abs 2 Satz 1 RVO bezeichnete Grenze gesunken war. Nach den Bekundungen der in der mündlichen Verhandlung gehörten Sachverständigen Dr. T und Prof. Dr. O bestand auf innerfachärztlichem und chirurgischem Fachgebiet eine Erwerbseinschränkung des Klägers für vollschichtige leichte und mittelschwere Arbeiten nicht. Auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet hat das LSG der Beurteilung des Dr. D entnommen, daß der Kläger wegen eines auf Hirndurchblutungsstörungen bei jahrelang bestehender Polycythaemia vera zurückgehenden vorzeitigen organischen Psychosyndroms nur leichte einfache Arbeiten ohne wesentliche psychische Belastung und ohne Zwang zur Kontaktaufnahme für drei Stunden täglich verrichten könne.
Zu der Frage, von welchem Zeitpunkt an diese Beurteilung gelten sollte, ist den Bekundungen des Sachverständigen nichts zu entnehmen. Ebenso fehlt es an Ausführungen zu dem wahrscheinlichen Beginn und dem Ausmaß der das organische Psychosyndrom nach Meinung des Sachverständigen auslösenden Hirndurchblutungsstörungen. Aus den Angaben des Sachverständigen konnte das LSG nicht entnehmen, auf welche gesicherten Befunde er sich insoweit stützen wollte und ob und inwieweit er den von ihm beurteilten Zustand geminderter Erwerbsfähigkeit auf die Zeit vor der im Verhandlungstermin durchgeführten Befragung und Untersuchung des Klägers zurückbeziehen wollte. Beide Fragen durfte das LSG somit nicht als durch das Gutachten des Dr. D hinreichend geklärt betrachten. Hinzu kommt, daß dieser Sachverständige - entgegen den Ausführungen des LSG zum Beweisantrag der Beklagten - nach der Verhandlungsniederschrift eine Erklärung des Inhalts nicht abgegeben hat, eine ergänzende klinische Untersuchung und Begutachtung auf psychiatrischem Gebiet sei unnötig.
Das LSG mußte daher wegen der ihm obliegenden Sachaufklärungspflicht zunächst dafür Sorge tragen, daß die von Dr. D ohne gesicherte Befunde angenommenen Hirndurchblutungsstörungen durch hierfür geeignete klinische Untersuchungen in Art und Ausmaß medizinisch festgestellt werden. Erst anhand dieser Ergebnisse waren objektiv verläßliche Anhaltspunkte dafür zu erwarten, ob die Annahme von Hirndurchblutungsstörungen überhaupt zutreffend und im Ausmaß ausreichend für die Diagnose eines hirnorganischen Psychosyndroms ist. Erst nach dieser befundmäßigen Absicherung waren durch Vergleich der vom Sachverständigen bei der Befragung des Klägers erhobenen Befunde mit früheren Befunden Schlüsse darauf möglich, ob es sich um einen bereits seit längerer Zeit unverändert bestehenden oder aber um einen durch allmähliche Zunahme gekennzeichneten Leidenszustand handelte. Dies muß um so mehr gelten, als es sich in der anläßlich der mündlichen Verhandlung erfolgten Befragung und Untersuchung des Klägers durch Dr. D um die erste neurologisch-psychiatrische Begutachtung des Klägers in diesem Verfahren handelte.
Wenn das LSG daher ohne Sicherung der von Dr. D als Voraussetzung eines hirnorganischen Psychosyndroms angenommenen Hirndurchblutungsstörungen zur Feststellung der daraus vom Sachverständigen hergeleiteten Erwerbsbeeinträchtigung des Klägers gelangt ist und sich von seinem sachlich-rechtlichen Standpunkt aus weder zu einer Klärung der Beurteilungsgrundlagen des Sachverständigen noch zur Ermittlung des Zeitpunktes gedrängt sah, in dem diese Erwerbseinschränkung erreicht worden sein soll, hat es die ihm obliegende Sachaufklärungspflicht (§ 103 SGG) sowohl in der von der Beklagten als auch in der vom Kläger gerügten Weise verletzt.
Schon aus diesem Grunde können gemäß § 163 SGG die Feststellungen des LSG für den Senat nicht bindende Grundlage einer Sachentscheidung sein. Auf die weitere Frage, ob das LSG auch die §§ 128 und 62 SGG verletzt hat, kommt es nach alledem für die Entscheidung des Senats nicht mehr an. Mangels für eine Sachentscheidung zur Erwerbs- und Berufsunfähigkeit des Klägers verwertbarer Feststellungen muß das Urteil des LSG mit den ihm zugrundeliegenden Feststellungen gemäß § 170 Abs 2 Satz 2 SGG aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden.
Die Kostenentscheidung bleibt dem den Rechtsstreit abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen