Leitsatz (amtlich)
Zur Beurteilung der Berufsunfähigkeit der selbstversicherten Hausfrau.
Leitsatz (redaktionell)
Eine Angestellte, die sich anläßlich ihrer Heirat die Beiträge erstatten ließ und danach als Hausfrau freiwillige Beiträge entrichtete, kann sich bei einer Berufsunfähigkeit nicht auf ihre frühere höherwertige Berufsstellung berufen. Vielmehr muß geprüft werden, ob die Erwerbsfähigkeit bei einer Beschäftigung als Haushälterin, die als ihr bisheriger Beruf iS des AVG § 23 gilt, um mehr als die Hälfte gesunken ist. Außerdem kann sie noch auf andere Tätigkeiten verwiesen werden, wo sie die gesetzliche Lohnhälfte verdienen kann.
Normenkette
RVO § 1246 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23; AVG § 23 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 14. Oktober 1966 aufgehoben; die Sache wird zu neuer Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Die Klägerin, geboren am 3. Juni 1914, leistete in den Jahren 1930 bis 1939 als Apothekenhelferin und Stütze Pflichtbeiträge zur Angestelltenversicherung (AnV); diese Beiträge wurden ihr bei ihrer Heirat im Jahre 1939 erstattet. Seitdem war die Klägerin nicht mehr berufstätig. Im Januar 1950 trat sie als Hausfrau in die Selbstversicherung ein und entrichtete bis 31. Dezember 1956 72 freiwillige Beiträge der Beitragsklasse II und weiter bis zum 31. Dezember 1958 18 freiwillige Beiträge der Beitragsklasse A (§§ 1243 der Reichsversicherungsordnung - RVO - aF, 21 des Angestelltenversicherungsgesetzes - AVG - aF; Art. 2 § 5 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes - AnVNG -). Die Ehe der Klägerin wurde im Jahre 1955 geschieden. Seitdem lebt sie mit ihrer Mutter und ihren beiden berufstätigen Töchtern im Hause der Mutter. Sie besorgt dort den Haushalt; für schwerere Arbeiten steht ihr eine fremde Hilfe zur Verfügung.
Den Antrag der Klägerin auf eine Rente wegen Berufsunfähigkeit lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 25. Februar 1960 ab, weil die Klägerin noch nicht berufsunfähig sei. Das Sozialgericht (SG) Stade sprach der Klägerin mit Urteil vom 30. Mai 1962 die Berufsunfähigkeitsrente zu: Die Leistungsfähigkeit der Klägerin als Apothekenhelferin sei wegen ihrer von allen ärztlichen Gutachtern festgestellten "Herz- und Standbeschwerden und ihrer nervlichen Übererregbarkeit" auf weniger als die Hälfte gesunken.
Auf die Berufung der Beklagten hob das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen mit Urteil vom 17. Juli 1964 das Urteil des SG auf und wies die Klage ab: Die Klägerin könne zwar wegen ihres Krampfadernleidens nicht mehr als Apothekenhelferin beschäftigt werden, sie müsse sich aber auf einfache, geistige Büroarbeiten verweisen lassen, die sie regelmäßig noch vier bis fünf Stunden verrichten könne; einen geeigneten Arbeitsplatz könne sie vielleicht nicht im Stader Raum finden, jedenfalls aber in Hamburg; der Umzug nach Hamburg sei ihr zuzumuten.
Auf die nicht zugelassene Revision der Klägerin hob das Bundessozialgericht (BSG) mit Urteil vom 4. Mai 1966 das Urteil des LSG Niedersachsen vom 17. Juli 1964 auf und wies die Sache zu neuer Entscheidung an das LSG zurück: Das LSG habe (von seinem sachlich-rechtlichen Standpunkt aus) noch prüfen müssen, ob der Gesundheits- und Kräftezustand der Klägerin es zulasse, daß sie nach Hamburg umziehe und dort noch in dem erforderlichen Umfang Büroarbeiten verrichte. Das LSG nahm daraufhin weitere medizinische Erhebungen vor. Es wies die Beteiligten auch auf die Möglichkeit einer Änderung des rechtlichen Gesichtspunktes hin: Die Klägerin könne nach der Erstattung ihrer Pflichtbeiträge als Selbstversicherte auf Arbeiten in ihrem Haushalt verwiesen werden.
Das LSG entschied erneut mit Urteil vom 14. Oktober 1966; es hob das Urteil des SG Stade vom 30. Mai 1962 auf und wies die Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 25. Februar 1960 ab: Von dem Beruf einer Apothekenhelferin habe sich die Klägerin gelöst; sie habe sich die Pflichtbeiträge erstatten lassen und damit alle Rechte aus diesen Beiträgen verloren. Die Klägerin sei während der Selbstversicherung nur als Hausfrau tätig gewesen. Sie wäre danach als berufsunfähig anzusehen, wenn ihre Fähigkeit zur Verrichtung von Hausarbeiten infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder Schwäche ihrer körperlichen oder geistigen Kräfte auf weniger als die Hälfte derjenigen einer körperlich oder geistig gesunden Hausfrau "ähnlichen Formats" herabgesunken wäre. Das sei jedoch nicht festzustellen. Die Klägerin könne noch leichte Hausfrauenarbeiten körperlicher Art vier bis fünf Stundentäglich im Sitzen, zwischendurch auch im Stehen und Gehen, verrichten; ihre geistige Fähigkeit, den Haushalt zu führen, stehe außer Zweifel. Sie bedürfe zwar für schwerere Arbeiten fremder Hilfe; alle übrigen Hausfrauenarbeiten des verhältnismäßig kleinen Haushalts könne sie jedoch selbst verrichten. Bei ihrer Tätigkeit im eigenen Haushalt könne sie sich die Arbeit selbst einteilen; es komme deshalb nicht entscheidend darauf an, daß sie Arbeitspausen machen müsse. Das LSG ließ die Revision zu.
Mit der fristgemäß und formgerecht eingelegten Revision beantragte die Klägerin,
das Urteil des LSG Niedersachsen vom 14. Oktober 1966 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG Stade vom 30. Mai 1962 zurückzuweisen,
hilfsweise,
das Urteil des LSG aufzuheben und die Sache zu erneuter Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Sie rügte Verletzung des § 23 Abs. 2 AVG; das LSG sei zu Unrecht davon ausgegangen, daß für die Frage der Berufsunfähigkeit der Klägerin nicht auf ihre frühere versicherungspflichtige Beschäftigung als Apothekenhelferin abzustellen sei. Im übrigen sei auch die Leistungsfähigkeit der Klägerin als Hausfrau auf weniger als die Hälfte der einer gesunden Hausfrau herabgesunken, da sie täglich nur vier bis fünf Stunden (mit Unterbrechungen) arbeiten könne und auch zur Verrichtung von schweren Arbeiten nicht in der Lage sei.
Die Beklagte beantragte,
die Revision zurückzuweisen.
Beide Beteiligten erklärten sich mit einem Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§§ 124 Abs. 2, 153 Abs. 1, 165 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
II
Die Revision der Klägerin ist zulässig (§§ 162 Abs. 1 Nr. 1, 164 SGG) und auch begründet. Sie hat die Aufhebung des Urteils des LSG und die Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG zur Folge.
Das LSG ist zutreffend davon ausgegangen, daß die rentenversicherungspflichtige Beschäftigung der Klägerin als Apothekenhelferin von 1930 bis 1939 für die Beurteilung ihrer Rentenberechtigung wegen "Berufsunfähigkeit" nach § 23 AVG ohne Bedeutung ist, weil die Klägerin sich die Pflichtbeiträge anläßlich ihrer Heirat im Jahre 1939 hat erstatten lassen. Die Klägerin hat damit weitere Ansprüche aus diesen Beiträgen verloren (§§ 1309 a Abs. 4 RVO aF; 47 AVG aF; 1304 i.V.m. 1303 a Abs. 7 RVO nF). Die Beitragserstattung löst das Versicherungsverhältnis auf, sämtliche Rechtsbeziehungen zwischen dem Versicherten und dem Versicherungsträger werden endgültig beseitigt. Das bedeutet, daß bei der Prüfung der Berufs(un)-fähigkeit der Klägerin auch nicht mehr von einem "bisherigen Beruf" als Apothekenhelferin ausgegangen werden kann. Durch den Eintritt der Klägerin in die Selbstversicherung im Jahre 1950 ist ein neues Versicherungsverhältnis begründet worden, das mit dem früheren in keiner Beziehung steht. Für die Rentenberechtigung der Klägerin nach § 23 AVG kommt es allein auf dieses neue Versicherungsversicherungsverhältnis an. Die Klägerin ist als Hausfrau in die Selbstversicherung eingetreten und auch während der Selbstversicherungszeit nur als Hausfrau tätig gewesen. Nach der Auffassung des LSG ist für die Frage, ob der Klägerin als selbstversicherter Hausfrau eine Rente nach § 23 AVG zusteht, entscheidend, ob ihre Fähigkeit zur Verrichtung von Hausarbeiten aus gesundheitlichen Gründen auf weniger als die Hälfte einer gesunden Hausfrau herabgesunken ist. Das LSG hat die Rentenberechtigung verneint, weil die Klägerin fähig sei, im eigenen Haushalt "wirtschaftlich aufs Ganze gesehen" mindestens noch die Hälfte der Arbeiten einer gesunden Vergleichsperson zu verrichten. Die Prüfung, die das LSG vorgenommen hat, um die Rentenberechtigung der Klägerin nach § 23 AVG festzustellen, entspricht nicht der Beurteilung der "Berufs(un)-fähigkeit" wie sie § 23 Abs. 2 AVG vorschreibt. Nach § 23 Abs. 2 AVG muß - als Voraussetzung für die Berufsunfähigkeitsrente - die Erwerbsfähigkeit des Versicherten in seinem Beruf (oder einem Verweisungsberuf), d.h. die Fähigkeit, Geld oder geldwerte Güter durch Arbeit zu erwerben ("Einkünfte durch Erwerbstätigkeit zu erzielen", vgl. § 24 Abs. 2 AVG), auf ein bestimmtes Maß herabgesunken sein. Die dem Versicherten verbliebene Erwerbsfähigkeit ist an der Erwerbsfähigkeit eines körperlich und geistig gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten zu messen. Für die Erwerbsfähigkeit dieser Vergleichsperson sind die wirtschaftlichen Ergebnisse der Arbeit maßgebend, die ihren Ausdruck in der Höhe des erzielten Entgelts finden. Das Gesetz stellt damit ausdrücklich auf die Erwerbsfähigkeit und nicht auf die Leistungsfähigkeit ab. Dies muß grundsätzlich auch für Selbstversicherte gelten, obwohl ihre Versicherung an sich ohne Beziehung zu einer bestimmten Berufstätigkeit steht und § 23 AVG auf das Sicherungsbedürfnis Pflichtversicherter zugeschnitten ist. Bei Selbstversicherten ist jedoch ebenfalls - soweit dies möglich ist - bei der Prüfung der Berufsunfähigkeit von einem "bisherigen Beruf" auszugehen; als "bisheriger Beruf" i.S. des § 23 AVG ist bei ihnen eine solche versicherungspflichtige Beschäftigung zugrunde zu legen, welche der Tätigkeit, die während der Zeit der Selbstversicherung ausgeübt wurde, "am ehesten entspricht" (Wannagat, Lehrbuch des Sozialversicherungsrechts, Bd. I, 1965 S. 267) oder "adäquat" ist (Burkard, Zur Frage der Verweisbarkeit der Selbstversicherten, Amtliche Mitteilungen der LVA Rheinprovinz 1967 Nr. 9 S. 347). Die Vergleichsperson, an deren Erwerbsfähigkeit die der Klägerin verbliebene Erwerbsfähigkeit zu messen ist, ist danach eine Pflichtversicherte, die gleiche oder doch ähnliche Tätigkeiten verrichtet, wie sie die Klägerin während ihrer Selbstversicherung ausgeübt hat. Als die der Tätigkeit der Klägerin "adäquate Beschäftigung" ist die Beschäftigung einer Frau anzusehen, deren Erwerbstätigkeit darin besteht, einen fremden Haushalt nach Art und Umfang des Haushalts der Klägerin zu führen und pflegebedürftige Haushaltsangehörige zu betreuen, also die Beschäftigung einer Haushälterin, die einen Haushalt zwar selbständig leitet, aber in einem abhängigen Arbeitsverhältnis steht. Es ist zu prüfen, ob die Erwerbsfähigkeit der Klägerin für eine Beschäftigung dieser Art auf mehr als die Hälfte herabgesunken ist. Mit der Feststellung des LSG, die Klägerin sei gesundheitlich noch fähig, im eigenen Haushalt wirtschaftlich aufs Ganze gesehen mindestens noch die Hälfte der Arbeiten einer gesunden Vergleichsperson, d.h. einer gesunden Hausfrau (im eigenen Haushalt) zu verrichten, ist diese Frage nicht beantwortet. Es ist nicht die verbliebene Leistungsfähigkeit der Klägerin - unter Berücksichtigung der sich aus der Eigenart ihrer Tätigkeit im eigenen Haushalt und für die eigene Familie ergebenden Umstände, wie freie Arbeitsgestaltung, beliebige Arbeitszeiteinteilung, Rücksichtnahme und Mithilfe der Familienangehörigen - mit der Leistungsfähigkeit einer gesunden Hausfrau zu vergleichen. Entscheidend ist vielmehr, wie hoch die Einbuße an Erwerbsfähigkeit ist, welche die Klägerin im Vergleich zu einer gesunden Pflichtversicherten, die unter den üblichen Bedingungen des Arbeitslebens als Haushälterin (abhängig) tätig ist, erlitten hat. Die insoweit notwendigen Feststellungen hat das LSG nicht getroffen.
Ist die Erwerbsfähigkeit der Klägerin bei einer Beschäftigung als Haushälterin - die als ihr bisheriger Beruf i.S. des § 23 AVG zu gelten hat - um mehr als die Hälfte gesunken, so bedeutet das noch nicht, daß sie berufsunfähig ist, vielmehr ist noch zu prüfen, ob die Klägerin auf andere Tätigkeiten zu verweisen ist, in denen sie "die gesetzlichen Lohnhälfte" verdienen kann. Bei der Prüfung der Frage, auf welche Tätigkeiten ein Selbstversicherter zumutbar (i.S. des § 23 Abs. 2 Satz 2 AVG) verwiesen werden kann, ist der der bisherigen Tätigkeit "adäquate Beruf" - der "bisherige Beruf" - nur insoweit zu berücksichtigen, als die entrichteten Beiträge zur Rentenversicherung ihm entsprechen; der Selbstversicherte genießt nur insoweit "Berufsschutz", als er seinem Beruf entsprechende Beiträge entrichtet hat; ein "Gruppenschutz" in dem Sinne, daß jemand, der bisher selbständig tätig gewesen und sich selbst versichert hat, nicht auf eine abhängige Arbeit verwiesen werden darf, besteht nicht (BSG 25, 129; Urteil des BSG vom 24. Januar 1967, SozR Nr. 64 zu § 1246 RVO und vom 27. Juni 1967 - 11 RA 96/65 -). Wenn das Gesetz, bevor es eine Rente wegen einer verminderten Erwerbsfähigkeit gewährt, die Ausnutzung noch bestehender Erwerbsmöglichkeiten des Versicherten verlangt, und zwar auch der Erwerbsmöglichkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsfeld, so muß dies ebenso wie für alle anderen Versicherten auch für Hausfrauen gelten, die sich freiwillig als Selbstversicherte der gesetzlichen Rentenversicherung angeschlossen haben; der durch Art. 6 des Grundgesetzes begründete Schutz der Familie steht dem nicht entgegen. Auch für die Klägerin ist danach die Verweisung auf einfache ungelernte Frauentätigkeiten des allgemeinen Arbeitsfeldes nur dann unzumutbar, wenn sie während ihrer Selbstversicherungszeit, jedenfalls überwiegend, höhere Beiträge entrichtet hat als eine Arbeitnehmerin des allgemeinen Arbeitsfeldes hat entrichten müssen. Insoweit kommt es auf die wirtschaftliche und soziale Wertung ihrer bisherigen Tätigkeit nicht an. Über die Frage, ob die Klägerin gesundheitlich noch fähig ist, durch leichte Frauenarbeiten auf dem allgemeinen Arbeitsfeld "die gesetzliche Lohnhälfte" zu verdienen, läßt sich aus dem Urteil des LSG nichts entnehmen.
Da das LSG nicht die nach der Rechtslage erforderlichen Feststellungen, insbesondere über die Erwerbsfähigkeit der Klägerin, getroffen hat, ist eine abschließende Entscheidung des Rechtsstreits nicht möglich. Das angefochtene Urteil ist aufzuheben; die Sache ist zu neuer Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen