Orientierungssatz
Zur Frage der Verweisbarkeit bei selbstversicherten Selbständigen.
Normenkette
AVG § 23 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1246 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 16. Dezember 1964 aufgehoben; die Sache wird zu neuer Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Die Klägerin, geboren ... 1915, von Beruf selbständige Landwirtin, leistete seit 1948 als Selbstversicherte (§ 21 des Angestelltenversicherungsgesetzes - AVG -; § 1243 der Reichsversicherungsordnung - RVO - in der alten bis Ende 1956 geltenden Fassung, Art. 2 § 5 des Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der Rentenversicherung der Angestellten - AnVNG - vom 23. Februar 1957) Beiträge zur Angestelltenversicherung.
Den Antrag der Klägerin, ihr eine Rente wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren, lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 29. Juni 1962 ab; die Klägerin sei noch nicht berufsunfähig, sie könne nach den medizinischen Erhebungen noch mehr als die Hälfte dessen verdienen, was eine gesunde Vergleichsperson des allgemeinen Arbeitsmarktes erwerben könne.
Mit der Klage machte die Klägerin geltend, sie könne ihren Beruf als selbständige Landwirtin aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr ausüben; auf eine abhängige Beschäftigung als Arbeiterin dürfe sie nicht verwiesen werden.
Das Sozialgericht (SG) Köln wies die Klage mit Urteil vom 13. Dezember 1963 ab.
Das Landessozialgericht (LSG) holte ein abschließendes ärztliches Gutachten ein. Der ärztliche Sachverständige kam zu dem Ergebnis, daß die Klägerin die Tätigkeiten einer Hausfrau, Landfrau (mit Ausnahme von Feldarbeiten, die ständiges Bücken verlangen) sowie einer Arbeiterin oder Fabrikarbeiterin über 6 Stunden täglich ausüben könne; Arbeiten, die ständiges Bücken oder das Heben und Tragen von Lasten erforderlich machten, könne sie nicht mehr verrichten.
Das LSG entschied mit Urteil vom 16. Dezember 1964: "Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 13. Dezember 1963 abgeändert. Unter Aufhebung des Bescheides vom 29. Juni 1962 wird die Beklagte verurteilt, der Klägerin ab 1. Dezember 1961 die Rente wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren". Es vertrat die Auffassung, die Klägerin sei berufsunfähig, weil sie infolge ihres Gesundheitszustandes außerstande sei, durch eine zumutbare selbständige Tätigkeit die Hälfte des maßgeblichen Einkommens zu erzielen; die Klägerin könne als bisher selbständig tätige Selbstversicherte entgegen der Meinung des SG nicht auf abhängige Beschäftigungen, insbesondere nicht auf solche des allgemeinen Arbeitsmarktes verwiesen werden. Die Revision wurde zugelassen.
Die Beklagte legte fristgemäß und formgerecht Revision ein, sie beantragte,
das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG Köln vom 13. Dezember 1963 zurückzuweisen.
Sie rügte, das LSG habe § 23 AVG verletzt.
Die Klägerin beantragte,
die Revision zurückzuweisen.
Beide Beteiligten erklärten sich mit einem Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§§ 124 Abs. 2, 153 Abs. 1, 165 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
II
Die Revision ist zulässig (§§ 162 Abs. 1 Nr. 1, 164 SGG) und auch begründet. Sie hat die Aufhebung des Urteils des LSG und die Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG zur Folge.
Das LSG ist bei der Beurteilung der Berufsunfähigkeit der Klägerin von unzutreffenden rechtlichen Erwägungen ausgegangen; seine Auffassung, die Klägerin als selbstversicherte selbständige Landwirtin könne nicht auf abhängige Beschäftigungen verwiesen werden, trifft nicht zu.
Nach § 23 Abs. 2 Satz 2 AVG umfaßt der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit eines Versicherten zu beurteilen ist, alle Tätigkeiten, die seinen Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihm unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs seiner Ausbildung sowie seines bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen seiner bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können. Voraussetzung für die "Verweisbarkeit" ist danach für jeden Versicherten seine Leistungsfähigkeit für die Verweisungstätigkeit und die Zumutbarkeit dieser Tätigkeit. In diesem Rahmen muß aber der Versicherte - bevor er eine Rente wegen Berufsunfähigkeit erhalten kann - alle Erwerbsmöglichkeiten ausnutzen, d. h. er kann auf alle Tätigkeiten verwiesen werden, die zu einem Erwerb führen, in der Regel zwar auf abhängige Beschäftigungen, ausnahmsweise aber auch auf selbständige Tätigkeiten. Zu Unrecht vertritt das LSG die Auffassung, "selbständige Versicherte und pflichtversicherte Unselbständige ständen sich als zwei Gruppen mit verschiedenem Versicherungsrisiko gegenüber", so daß für die Frage der Berufsunfähigkeit der Angehörigen der einen Gruppe Erwerbsmöglichkeiten aus Tätigkeiten der anderen Gruppe gänzlich unbeachtlich seien. Diese auf das "Gruppeninteresse" abgestellte Auffassung wird den Grundsätzen der sozialen Rentenversicherung zumindest seit Inkrafttreten der Neuregelungsgesetze nicht gerecht, sie ist auch mit der Begriffsbestimmung der Berufsunfähigkeit in § 23 Abs. 2 AVG (§ 1246 Abs. 2 RVO) nicht vereinbar (vgl. hierzu BSG 22, 265 mit weiteren Hinweisen). Der soziale Schutz des § 23 Abs. 2 Satz 2 AVG bezieht sich nicht allgemein auch auf das "Risiko", das mit dem Wechsel von einer selbständigen Tätigkeit zu einer abhängigen Beschäftigung - und umgekehrt - verbunden ist; die bisherige "Gruppenzugehörigkeit" ist nicht garantiert. Es ist deshalb nicht grundsätzlich ausgeschlossen, einen Versicherten, dessen Versicherungsverhältnis auf Beiträgen aus abhängigen Beschäftigungen beruht - bei entsprechender Leistungsfähigkeit - auf eine selbständige Tätigkeit zu verweisen (BSG 22, 265; 23, 33; 24, 7). Ebensowenig ist es unzulässig, einen bisher selbständig tätigen Versicherten auf eine abhängige Beschäftigung zu verweisen (BSG 8, 31; vgl. auch Röss, Verweisbarkeit bei Selbständigen, Die Sozialgerichtsbarkeit, 1965, S. 322, 324 - 326). Diese Verweisungsmöglichkeit besteht jedenfalls für die Versicherten, die nach Art. 2 § 5 AnVNG ihre Selbstversicherung über den 31. Dezember 1956 fortgesetzt haben, weil ihrer Versicherung eine Beziehung zu einer bestimmten beruflichen Tätigkeit überhaupt fehlt. Auch die Beurteilung der Berufsunfähigkeit dieser Versicherten beschränkt sich nicht auf die Feststellung der nach § 23 Abs. 2 Satz 1 maßgebenden Vergleichsperson (bzw. seiner Berufsgruppe), an deren Erwerbsfähigkeit die Erwerbsfähigkeit, die dem Versicherten verblieben ist, zu messen ist; vielmehr sind auch hier nach den in § 23 Abs. 2 Satz 2 AVG vorgeschriebenen Merkmalen die Erwerbsmöglichkeiten in "Verweisungstätigkeiten" zu ermitteln, bevor Berufsunfähigkeitsrente gewährt werden kann.
Inwieweit bei Selbstversicherten nach § 23 Abs. 2 Satz 2 AVG der "bisherige Beruf" zu berücksichtigen ist, hat das Bundessozialgericht (BSG) in den Urteilen des 12. Senats vom 28. Juli 1966, BSG 25, 129, und des erkennenden Senats vom 24. Januar 1967, SozR Nr. 64 zu § 1246 RVO, entschieden. Danach ist bei der Prüfung der für die Beurteilung der Berufsunfähigkeit entscheidenden Frage, auf welche Tätigkeiten ein Selbstversicherter zumutbar (i. S. des § 23 Abs. 2 Satz 2 AVG) verwiesen werden kann, dessen bisheriger Beruf nur insoweit zu berücksichtigen, als die entrichteten Beiträge zur Rentenversicherung ihm entsprechen; der Selbstversicherte genießt nur insoweit "Berufsschutz", als er ihn durch entsprechende Beiträge erworben hat; ein "Gruppenschutz" in dem Sinne, daß ein bisher selbständig tätiger Selbstversicherter nicht auf eine abhängige Arbeit verwiesen werden kann - wie ihn das LSG angenommen hat -, besteht überhaupt nicht. Der Senat sieht keine Veranlassung, von der Rechtsauffassung, die in den genannten Urteilen dargelegt ist, abzuweichen (ebenso Röss aaO; Gesamtkommentar zur RVO, Anm. 13 zu § 1246 S. 72). Ist die Klägerin daher noch fähig, leichte und mittelschwere Arbeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu verrichten und kann sie damit die "gesetzliche Lohnhälfte" verdienen, so ist die Verweisung auf solche Tätigkeiten zumutbar, wenn die sozialversicherungsrechtliche Wertung des bisherigen Berufs, die die Klägerin als Versicherte selbst durch ihre Beitragsleistung vorgenommen hat, nicht höher liegt, als die der "Verweisungstätigkeiten". Anders wäre es nur dann, wenn die Klägerin während ihrer Selbstversicherungszeit jedenfalls überwiegend höhere freiwillige Beiträge geleistet hätte als die Pflichtbeiträge, die eine ungelernte Arbeitnehmerin hätte entrichten müssen.
Da das LSG nicht die nach der Rechtslage erforderlichen Feststellungen, insbesondere über die von der Klägerin geleisteten Beiträge getroffen hat, ist eine abschließende Entscheidung des Rechtsstreits nicht möglich. Das angefochtene Urteil ist aufzuheben; die Sache ist zu neuer Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen