Leitsatz (amtlich)
Ein Offiziersanwärter und Offiziersassistent zur See befindet sich während der für die Ausbildung zum nautischen Offizier vorgeschriebenen Seefahrzeiten, während derer er die Heuer eines Matrosen erhält, nicht in Berufsausbildung iS des AVG § 44 S 2 (= RVO § 1267 S 2).
Normenkette
RVO § 1267 S. 2 Fassung: 1964-08-17; AVG § 44 S. 2 Fassung: 1964-08-17
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Bremen vom 26. November 1968 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Rechtsstreits sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Der im Jahre 1945 geborene Kläger, der von der Beklagten aus der Versicherung seines verstorbenen Vaters Waisenrente bezog, hat eine seemännische Ausbildung zurückgelegt, die er am 25. November 1965 mit der Matrosenprüfung abschloss. Daraufhin stellte die Beklagte die Zahlung von Waisenrente mit Ablauf des Monats November 1965 ein.
Anschließend fuhr der Kläger zunächst als Offiziersanwärter und dann als Offiziersassistent zur See. Seit dem 20. Februar 1967 besuchte er die Seefahrtsschule in B. Daraufhin zahlte die Beklagte wieder Waisenrente vom 1. Februar 1967 an.
Das Sozialgericht (SG) Bremen hat die Beklagte durch Urteil vom 1. Dezember 1966 zur Weiterzahlung der Waisenrente über den 30. November 1965 hinaus verurteilt, weil der Kläger sich während seiner Seefahrzeiten in der Berufsausbildung zum nautischen Schiffsoffizier befunden habe. Auf die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) Bremen das angefochtene Urteil aufgehoben und die Klage auf Zahlung von Waisenrente für die Zeit vom 1. Dezember 1965 bis 31. Januar 1967 abgewiesen. Hiergegen richtet sich die zugelassene Revision des Klägers, der beantragt,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG Bremen vom 1. Dezember 1966 zurückzuweisen.
Die Beklagte bittet um Zurückweisung der Revision.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
II
Die Revision ist nicht begründet.
Das LSG hat zur Begründung seines Urteils ausgeführt, bei der Prüfung des geltend gemachten Anspruchs könne nicht der gesamte Zeitraum vom 1. Dezember 1965 bis 31. Januar 1967 einheitlich beurteilt werden. In der Zeit vom 11. Dezember 1965 bis 31. März 1966, während der der Kläger als Offiziersanwärter auf dem Motorschiff "L" des Norddeutschen L fuhr, habe er zur vorgeschriebenen Mindestbesatzung gehört, während seiner Fahrten als Offiziersanwärter auf dem Motorschiff "R" vom 4. April 1966 bis 7. Januar 1967 und dem Motorschiff "B" vom 15. bis 28. Januar 1967 dagegen nicht.
Hinsichtlich des ersten Zeitraums hat das LSG festgestellt, (ohne daß gegen die Feststellungen Rügen gemäß § 163 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG - erhoben sind), daß der Kläger als Matrose (Offiziersanwärter) auf dem Motorschiff "L" die Heuer eines Matrosen erhielt. Die Grundheuer betrug 500,- DM monatlich, dazu kamen Sonnabendausgleich nach Tarif und Überstundenvergütung nach den tatsächlich geleisteten Überstunden. Ferner hatte der Kläger freie Unterkunft und Verpflegung an Bord. Er war im Matrosenlogis untergebracht und aß in der Mannschaftsmesse.
Dazu hat das LSG die Auffassung vertreten, wenn auch der Kläger während dieser Zeit mit einzelnen Aufgaben eines Schiffsoffiziers vertraut gemacht worden sei, so begründe dies doch keine Berufsausbildung im Sinne des § 44 Abs. 2 AVG. Dem stehe entgegen, daß er als Matrose angemustert und als solcher beschäftigt worden sei, was dadurch unterstrichen werde, daß er zur vorgeschriebenen Mindestbesatzung des Motorschiffs L gehört habe. Er habe auch die seiner Tätigkeit entsprechende Heuer als Matrose erhalten und nicht etwa ein Lehrgeld oder einen Unterhaltszuschuß wie z. B. ein Lehrling oder ein Beamtenanwärter. Er habe somit durch seine Funktion innerhalb der Mindestbesatzung eine Erwerbstätigkeit ausgeübt und sich deshalb nach den Grundsätzen des Urteils des Bundessozialgerichts (BSG) vom 29. November 1967 (1 RA 303/65 = Die Praxis 1968, 234 = VDA-Mitteilungen 1968, 64) nicht in Berufsausbildung befunden.
Diese Ausführungen lassen einen Rechtsirrtum nicht erkennen. Zu Unrecht wendet der Kläger dagegen ein, es könne nicht auf die Höhe der Heuer ankommen oder darauf, ob er zur Mindestbesatzung gehört habe. Entscheidend müsse sein, daß das Durchlaufen eines Praktikums unerläßliche Vorbedingung für das Studium als Seesteuermann auf großer Fahrt sei, so daß es deshalb noch zur Berufsausbildung zu rechnen sei. Das BSG hat bereits mehrfach entschieden, daß nicht jede Ausbildung, der sich ein Kind nach Vollendung des 18. Lebensjahres unterzieht, als Schul- oder Berufsausbildung i. S. § 44 Satz 2 AVG (= § 1267 Satz 2 RVO) anzusehen ist. Sinn und Zweck der dort getroffenen Regelungen über einen verlängerten Anspruch auf Waisenrente gehen vielmehr dahin, die Fälle zu erfassen, in denen das Kind entgegen der sonst angenommenen Regel auch nach Vollendung des 18. Lebensjahres noch auf elterliche Unterhaltsleistungen angewiesen ist, weil seine Ausbildung noch nicht abgeschlossen ist und es sich deshalb noch nicht selbst unterhalten kann. Eine Schul- oder Berufsausbildung vermag somit einen Anspruch auf Waisenrente nur dann zu begründen, wenn das Kind infolge dieser Ausbildung gehindert ist, sich selbst den ausreichenden Lebensunterhalt zu verdienen. Eine Berufsausbildung i. S. der genannten Vorschriften liegt daher nicht vor, wenn sich die Ausbildung im Rahmen einer Erwerbstätigkeit vollzieht, die den vollen Unterhalt des Kindes sichert, so daß es auf keine andere Erwerbstätigkeit mehr angewiesen ist. Das ist insbesondere dann anzunehmen, wenn es bereits volle Dienstbezüge oder volles Gehalt bezieht (vgl. dazu im einzelnen das Urteil des Senats vom 29. November 1967, 1 RA 217/66, SozR Nr. 31 zu § 1267 RVO).
Im Rahmen dieser Rechtsprechung hat das BSG auch schon wiederholt zu der Frage Stellung genommen, wann Seeleute sich in Berufsausbildung befinden, und dabei in Übereinstimmung mit den vorgenannten Grundsätzen klargestellt, daß es auch bei der seemännischen Ausbildung für die Annahme eines Ausbildungsverhältnisses nicht genügt, wenn zur Erreichung eines bestimmten Berufsziels üblicherweise zunächst in einer vorgeschriebenen Durchgangsstufe eine Berufstätigkeit ausgeübt wird, daß es vielmehr auf weitere konkrete Tatsachen ankommt, aus denen im Einzelfall der Ausbildungscharakter solcher Tätigkeiten angenommen werden kann. Allein die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Laufbahn macht deshalb die Ausübung der in einer bestimmten Durchgangsstufe abzuleistenden Berufstätigkeit noch nicht zu einer Berufsausbildung, mögen hierbei auch Kenntnisse und Fähigkeiten erworben werden, die für das erstrebte Berufsziel nützlich und sogar erforderlich sind. Entgegen der Auffassung des Klägers kann deshalb die Berechtigung zum Bezug von Waisenrente nicht daraus hergeleitet werden, daß bestimmte Seefahrtzeiten Voraussetzung für die weitere Ausbildung in bestimmten seemännischen Berufen ist (vgl. das oben erwähnte Urteil vom 28. November 1967 1 RA 303/65).
Eine andere Ansicht hat entgegen den Ausführungen der Revision auch das frühere Reichsversicherungsamt nicht vertreten. In der grundsätzlichen Entscheidung Nr. 3348 vom 30. November 1928, AN 1929, 62 ist ausdrücklich gesagt, daß Seeleute, die nach zurückgelegter Schiffsjungenzeit als Voll- oder als Leichtmatrose auf Segelschiffen fahren, um die für die Steuermannsprüfung vorgeschriebenen Fahrzeiten nachzuweisen und die als Matrosen Heuer erhalten, sich während dieser Fahrzeiten nicht in Berufsausbildung befinden.
Das von der Revision angeführte Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 21. Dezember 1962 (Arbeitsrechtl. Praxis § 8 SeemG Nr. 1) besagt nichts anderes. Es betraf die Frage, ob Fahrtzeiten als Messesteward eine Berufsausbildung darstellen und stellt entscheidend darauf ab, daß dieser nur eine Heuer erhielt, die der üblichen Lehrlingsvergütung in der Seeschiffahrt entsprach und keine volle Arbeitsvergütung war.
Hinsichtlich der Zeit von April 1966 bis Januar 1967 hat das LSG festgestellt, daß der Kläger während dieses Zeitraums auf den Motorschiffen "R" und "B" des Norddeutschen L als Matrose und Schiffsoffiziersassistent fuhr. Er gehörte zwar nicht zur Mindestbesatzung dieser Schiffe, erhielt aber wiederum die Heuer eines Matrosen, zuzüglich eines Sonnabendausgleichs nach Tarif und einer pauschalen Überstundenvergütung unter Zugrundelegung von 95 Überstunden. Hinzu kamen ebenfalls freie Unterkunft und Verpflegung. Der Kläger war allerdings auf den Motorschiffen "R" und "B" bei den Offizieren untergebracht und aß in der Offiziersmesse. Er hatte auch praktisch keine Deckarbeit als Matrose mehr zu verrichten, sondern nur in Ausnahmefällen. Im Vordergrund stand vielmehr die Ausbildung durch die Offiziere in ihrem jeweiligen Tätigkeitsbereich. Es handelte sich dabei im wesentlichen um den Brücken- und Wachdienst, den Ladungsdienst und den Sicherheitsdienst. Im übrigen aber hatte der Kläger wiederum als Matrose (Matrose/Offiziersassistent) angemustert und unterlag den für Matrosen geltenden Kündigungsfristen.
Auch hinsichtlich dieses Zeitraums hat sich das LSG zu der Auffassung bekannt, daß es sich dabei nach den Grundsätzen des Urteils 1 RA 303/65 nicht um eine Berufsausbildung gehandelt habe. Die Offiziersanwärter hätten während der gesamten Ausbildungszeit vom Kadetten bis zum Beginn des Besuchs der Seefahrts-Akademie in keinem Angestelltenverhältnis zur Reederei gestanden, sondern lediglich in einem Dienstverhältnis als Matrose mit einer Kündigungsfrist von 48 Stunden. Eine Ausbildungsvereinbarung sei nur für die Zeit bis zur Ablegung der Matrosenprüfung abgeschlossen worden. Das Beschäftigungsverhältnis von April 1966 bis Januar 1967 habe sich grundsätzlich nach den Musterungsbedingungen für Matrosen gerichtet. Der Kläger habe deren Heuer erhalten. Er habe damit einen Lohn bezogen, der seinem Ausbildungsstand und seiner beruflichen Qualifikation entsprochen habe. Auf ein Ausbildungsverhältnis weise diese Entlohnung nicht hin. Das gelte auch für die pauschalierte Überstundenvergütung. Vor allem aber die Kündigungsfrist von 48 Stunden zeige, daß es sich bei dem Beschäftigungsverhältnis des Klägers nicht um ein Ausbildungsverhältnis gehandelt habe. Die Nichtfortsetzung eines solchen Offiziersassistentenverhältnisses hindere überdies nicht das Erreichen des erstrebten Berufsziels, wie überhaupt das Zurücklegen einer Offiziersassistentenzeit nicht Voraussetzung dafür sei, Seesteuermann auf großer Fahrt werden zu können. Die vorläufigen Richtlinien zur Regelung der Bordausbildung zum nautischen Schiffsoffizier seien unverbindlich, wenn auch weitgehend üblich. Vorgeschrieben sei nur eine 12-monatige Fahrenszeit als Matrose. Für die Zulassung zum Studium zum Seesteuermann auf großer Fahrt habe der Erwerber eine Gesamtseefahrtzeit von 50 Monaten nachzuweisen, davon nach dem Erwerb des Matrosenbriefes eine 12-monatige Seefahrtzeit im Deckdienst auf Schiffen von mehr als 600 m 3 Bruttoraumgehalt. Derartige Voraussetzungen für ein Studium gebe es auch sonst. Sie zeigten, daß sich im Falle des Klägers die Bordausbildung im Rahmen einer Erwerbstätigkeit vollzogen habe, für die der dieser Erwerbstätigkeit entsprechende Lohn gezahlt wurde, der den Lebensunterhalt ausreichend sicherstellte. Daß in diesen Fällen keine Berufsausbildung vorliege, habe das BSG wiederholt entschieden.
Diese Ausführungen des LSG lassen ebenfalls keinen Rechtsirrtum erkennen, wobei insbesondere zu berücksichtigen ist, daß der Senat nach § 163 SGG an die in dem angefochtenen Urteil getroffenen tatsächlichen Feststellungen gebunden ist. Werden diese zugrundegelegt, so kann die Revision aus den bereits dargelegten Gründen auch bezüglich des zweiten Zeitraums keinen Erfolg haben. Das LSG hat überzeugend dargetan, daß der Kläger als Matrose/Offiziersassistent nicht in einem Ausbildungsverhältnis stand, wie es § 44 Satz 2 AVG erfordert (ebenso LSG Hamburg für Seefahrtszeiten als Schiffsingenieur-Assistent, Sgb 1968, 339 Nr. 12 - ergangen auf Grund des nicht veröffentlichten BSG-Urteils 12 RJ 328/64 vom 31. August 1967). Somit ist die Revision insgesamt als unbegründet zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen