Leitsatz (redaktionell)
Die Seefahrzeit als Ingenieurassistent ist nicht ohne weiteres Berufsausbildung iS des AVG § 44 S 2.
Normenkette
AVG § 44 S. 2 Fassung: 1964-08-17; RVO § 1267 S. 2 Fassung: 1964-08-17
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 17. August 1965 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
Streitig ist, ob dem Kläger, der Schiffsingenieur (mit dem Befähigungszeugnis C 5 - Schiffsingenieur II) werden will, auch für die Zeit seiner "praktischen Ausbildung" an Bord eines Seeschiffes die verlängerte Waisenrente nach § 44 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) zusteht.
Der im Jahre 1939 geborene Kläger erhielt aus der Versicherung seines im Februar 1945 gefallenen Vaters Waisenrente über das 18. Lebensjahr hinaus bis zur Beendigung seiner Lehrzeit als Maschinenschlosser (30. September 1958) und alsdann erneut vom 1. August 1959 bis zum 30. November 1960; in dieser Zeit absolvierte er eine Praktikantenzeit als Maschinenschlosser. Im Dezember 1960 begann er die für den Besuch der Schiffsingenieurschule vorgeschriebene - 24 Monate umfassende - praktische Ausbildung an Bord eines Seeschiffes; er leistete sie - mit Unterbrechungen - bis zum 21. August 1963 bei verschiedenen Reedereien als Ingenieurassistent ab.
Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 15. Februar 1962 die Weiterzahlung der Waisenrente über den 30. November 1960 hinaus ab, weil die praktische Ausbildung an Bord eines Seeschiffes nicht als Berufsausbildung im Sinne von § 44 AVG anerkannt werden könne. Das Sozialgericht (SG) wies die Klage ab. Das Landessozialgericht (LSG) änderte das erstinstanzliche Urteil und verurteilte die Beklagte zur Zahlung von Waisenrente für die Zeit vom 1. Dezember 1960 bis 26. März 1962 und vom 15. September 1962 bis 31. August 1963, nachdem der Kläger den Rentenanspruch für die Zeit vom 3. Mai 1962 bis 6. Juli 1962, während der er als 4. Ingenieur auf einem englischen Schiff beschäftigt war, nicht mehr geltend gemacht hatte (Urteil vom 17. August 1965).
Das LSG ist der Auffassung, daß dem Kläger auch während der Tätigkeit als Ingenieurassistent Waisenrente zustehe. Diese Zeit der "praktischen Ausbildung" sei eine vorgeschriebene und somit notwendige Durchgangsstation zur Erreichung des späteren Berufsziels. Es handele sich hierbei um eine Besonderheit der seemännischen Ausbildung, die der Situation der Gerichtsreferendare vergleichbar sei; bei diesen habe das Bundessozialgericht (BSG) mit seinem Urteil vom 17. März 1964 (BSG 20, 244) den juristischen Vorbereitungsdienst als Berufsausbildung anerkannt, obwohl ein abgeschlossenes Hochschulstudium vorliege, das die Ausübung einer Berufstätigkeit ermögliche.
Mit der - zugelassenen - Revision beantragt die Beklagte,
das Urteil des LSG vom 17. August 1965 aufzuheben und die Berufung gegen das erstinstanzliche Urteil zurückzuweisen,
hilfsweise,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils den Rechtsstreit zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Sie rügt die unrichtige Anwendung des § 44 AVG. Die Schiffsbesetzungsordnung vom 29. Juni 1931 verlange zwar in ihrem § 24 für die Laufbahn der Schiffsingenieure eine Seefahrtzeit im Maschinendienst von 24 Monaten als "praktische Ausbildung". Das LSG verkenne aber die Bedeutung dieser Bestimmung, wenn es daraus folgere, daß allein schon hiernach die Tätigkeit als Ingenieurassistent Berufsausbildung im Sinne von § 44 AVG sei. Auch die Besonderheit der seemännischen Ausbildung sei kein Grund, Berufsausbildung anzunehmen. Eine praktische Ausbildung werde nämlich in jeder Stufe der seemännischen Betätigung als Voraussetzung für die Befähigung zur nächsthöheren Stufe verlangt. Zwischen den einzelnen Aufstiegsprüfungen liegende Seefahrtzeiten seien praktisch als Berufsausübung anzusehen, die allenfalls auch der beruflichen Weiterentwicklung diene, wenn ein weiterer Aufstieg beabsichtigt sei; das gelte auch für die Laufbahn des Schiffsingenieurs. Maßgebend sei allein, ob bei der Tätigkeit als Ingenieurassistent die Ausbildung oder die Erzielung von Gewinn und Lohn im Vordergrund stehe. In Übereinstimmung mit der vom LSG eingeholten Auskunft der Hamburg-Amerika-Linie vom 16. Februar 1965 sei die Tätigkeit eines Ingenieurassistenten mit Rücksicht auf die ihm üblicherweise gezahlte Heuer in erster Linie als Berufsausübung anzusehen.
Der Kläger beantragt die Zurückweisung der Revision, hilfsweise die Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG zu neuer Verhandlung und Entscheidung. Er beruft sich auf die nach seiner Meinung zutreffenden Gründe des angefochtenen Urteils. Bei der Auslegung des § 44 AVG dürften die allgemein anerkannten sozialpolitischen Vorstellungen und Ziele (Recht auf Bildung) nicht außer Betracht bleiben.
Die Revision ist zulässig und begründet. Die tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts reichen nicht aus, um erkennen zu lassen, ob bei der Tätigkeit des Klägers als Ingenieurassistent Berufsausbildung im Sinne des § 44 AVG vorliegt.
Die Gewährung von Waisenrente über das 18. Lebensjahr hinaus setzt u.a. voraus, daß sich die Waise in Schul- oder Berufsausbildung befindet. Das LSG hat beim Kläger eine Berufsausbildung allein schon deshalb angenommen, weil in § 24 der Schiffsbesetzungsordnung - Verordnung über die Besetzung der Kauffahrtei-Schiffe mit Kapitänen und Schiffsoffizieren vom 29. Juni 1931 (RGBl II 517) idF vom 8. Januar 1960 (BGBl II 147) - für die Befähigung zum Schiffsingenieur II (dem vom Kläger erstrebten Berufsziel) eine 36-monatige Werkstättenlehre und eine Seefahrtzeit als Seemaschinist auf Dampf- und Motorschiffen außerhalb der Küstenschiffahrt von 24 Monaten verlangt und in diesem Zusammenhang von "praktischer Ausbildung" gesprochen werde; hinzu komme noch die Besonderheit der seemännischen Ausbildung.
Dieser Rechtsauffassung des LSG kann der Senat nicht beitreten. Das BSG hat schon wiederholt zur Berufsausbildung von Seeleuten Stellung genommen (vgl. BSG 18, 115; SozR Nr. 12 und 18 zu § 1267 der Reichsversicherungsordnung - RVO -). Dabei ist insbesondere in der letztgenannten Entscheidung (Urteil vom 21. Juli 1965 - 11/1 RA 226/61 -) in Fortführung der Rechtsprechung des Reichsversicherungsamts (RVA) klargestellt worden, daß es bei der seemännischen Ausbildung für die Annahme eines Ausbildungsverhältnisses nicht genügt, wenn zur Erreichung eines bestimmten Berufsziels üblicherweise zunächst in einer vorgeschriebenen Durchgangsstufe eine Berufstätigkeit ausgeübt wird, daß es vielmehr auf weitere konkrete Tatsachen ankommt, aus denen im Einzelfalle der Ausbildungscharakter solcher Tätigkeiten in der Durchgangsstufe entnommen werden kann. Allein die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Laufbahn (Berufsweg) - hier der berufliche Werdegang des Schiffsingenieurs - macht deshalb die Ausübung der in einer bestimmten Durchgangsstufe abzuleistenden Berufstätigkeit noch nicht zu einer Berufsausbildung im Sinne des § 44 AVG, mögen hierbei auch Kenntnisse und Fähigkeiten erworben werden, die für das erstrebte Berufsziel nützlich und sogar erforderlich sind. Entgegen der Auffassung des LSG kann somit für den Kläger die Berechtigung zum Bezug der Waisenrente nicht allein schon daraus hergeleitet werden, daß die Seefahrtzeit als Ingenieurassistent Voraussetzung ist für die weitere schulische Ausbildung an der Schiffsingenieurschule und daß die einschlägigen Vorschriften diese Seefahrtzeit als praktische Ausbildung bezeichnen.
Gegen die Annahme des LSG spricht schon, daß es für die Schiffsingenieurassistenten an besonderen Ausbildungsrichtlinien fehlt, aus denen die Art ihrer Ausbildung entnommen werden könnte, ähnlich wie aus den Richtlinien für die sogenannten Jungdienstgrade der Seeschiffahrt. Das LSG übersieht, daß es in manchen Berufen verschiedene selbständige Stufen gibt, die jeweils sowohl auf die Dauer ausgeübt werden als auch "praktische Ausbildung" für eine andere Stufe sein können, z.B. wenn ein Handwerker als Geselle tätig bleibt oder aber den Beruf des selbständigen Handwerkers anstrebt, der eine bestimmte Zeit praktischer Tätigkeit (praktischer Ausbildung) und eine Prüfung, nämlich die Meisterprüfung, voraussetzt. Ähnlich ist es beim approbierten Arzt, der die Anerkennung als Facharzt anstrebt; die hierfür erforderliche Zeit praktischer Tätigkeit ist keine "Berufsausbildung" (vgl. BSG 12, 109, 115). Auch der technische Seemannsberuf kennt solche verschiedenen Stufen, die - jede für sich - ein Dauerberuf sein können (vgl. § 24 d) II 2, e) und f) der Schiffsbesetzungsordnung vom 29. Juni 1931).
Ob die in einer bestimmten Stufe ausgeübte Tätigkeit im konkreten Falle ausnahmsweise nicht als berufliche Tätigkeit, sondern als praktische Ausbildung zu bewerten ist, läßt sich nur durch genaue Feststellung der von der Regel abweichenden besonderen Umstände feststellen.
Die Stellung und die Tätigkeit eines Gerichtsreferendars ist entgegen der Auffassung des LSG mit der Ausübung solcher selbständigen Berufsstufen-Tätigkeiten nicht zu vergleichen. Der Gerichtsreferendar übt keinen Beruf aus, sondern er wird nach genauen Richtlinien für künftige Berufe ausgebildet. Seine "praktische" Ausbildung wird überwacht und geleitet und wird auch durch gleichzeitige theoretische Ausbildung ergänzt. Der Gerichtsreferendar erfüllt als solcher keine im Gerichtswesen oder der Rechtspflege vorgesehene selbständige Funktion, und er hat auch keinen selbständigen Verantwortungsbereich. Dagegen gehören die Schiffsingenieurassistenten - wie die insoweit übereinstimmenden Auskünfte der vom LSG befragten sachkundigen Stellen ergeben - in der Regel zu der auf internationalen Abkommen beruhenden, in nationalen Vorschriften festgelegten Mindestbesatzung eines Schiffes. Üblicherweise wird der Ingenieurassistent als sogenannte fachkundige Hilfskraft angeheuert und als solche auf die Mindestbesatzung des Schiffes angerechnet. Gehört er aber zur Mindestbesatzung eines Schiffes, dann erfüllt er eine zum Seemannsberuf gehörende Funktion mit eigenem Verantwortungsbereich. Er erhält auch die seiner Tätigkeit entsprechende Heuer und nicht etwa eine Erziehungsbeihilfe wie ein Lehrling oder einen Unterhaltszuschuß wie Gerichtsreferendare oder andere Beamtenanwärter.
Es ist freilich nicht ausgeschlossen, daß ein Schiffsingenieurassistent auf einem Schiff ausnahmsweise nicht als Mitglied der vorgeschriebenen Mindestbesatzung, sondern wirklich in erster Linie zu seiner persönlichen Ausbildung fährt. Das setzt aber voraus, daß ausdrücklich ein reines Ausbildungsverhältnis vereinbart wird und Näheres bestimmt ist über die Art und Weise der Ausbildung des Assistenten, wem die Verantwortung hierfür obliegt und wie der Nachweis über das Erreichen des Ausbildungszieles erbracht wird. Auch die Vereinbarungen über die - vermutlich von der üblichen Heuer abweichenden - Vergütungen müßten auf den besonderen Ausbildungscharakter hinweisen. Diese Feststellungen wären für jeden selbständigen Abschnitt der Tätigkeit als Schiffsingenieurassistent gesondert zu treffen.
Aus der Feststellung des LSG, der Kläger sei in der Zeit vor dem Besuch der Schiffsingenieurschule eine Zeitlang auf einem englischen Schiff nicht als Ingenieurassistent, sondern Schiffsingenieur gefahren, lassen sich keine Schlüsse darauf ziehen, daß er während seiner Dienstzeit auf den anderen Schiffen keine Funktion ausgeübt habe, die einem der zur Mindestbesatzung gehörenden Mitglied der Besatzung zukommt.
Die tatsächlichen Feststellungen des LSG über den Charakter der Tätigkeit des Klägers auf den einzelnen Schiffen, auf denen er seine "praktische Ausbildung" absolviert hat, reichen für eine Entscheidung des Rechtsstreits nicht aus. Der Senat konnte daher nicht in der Sache selbst entscheiden, sondern mußte das Urteil des LSG aufheben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an dieses zurückverweisen. Das LSG hatte von seinem Standpunkt allerdings keinen Anlaß zu solch näherer Aufklärung; es wird diese aber nunmehr nachholen müssen.
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil des LSG vorbehalten.
Fundstellen