Entscheidungsstichwort (Thema)
Geschiedenenwitwenrente
Orientierungssatz
Hat der Unterhalt fast bis zuletzt den Mindestsatz von 25 vH des jeweiligen örtlichen und zeitlichen, nach den Regeln der Sozialhilfe zu ermittelnden Mindestbedarfs überschritten bzw erreicht und nur in den letzten zwei Monaten geringfügig unterschritten, wird ein anteiliger Anspruch auf Hinterbliebenenrente nach den RVO §§ 1265, 1268 Abs 4 (AVG §§ 42, 45 Abs 4) begründet. Eine ausschließlich auf die Zukunft orientierte Betrachtungsweise ist nicht zulässig.
Normenkette
RVO § 1265 Fassung: 1957-02-23; AVG § 42 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1268 Abs. 4 Fassung: 1957-02-23; AVG § 45 Abs. 4 Fassung: 1957-02-23
Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 05.05.1976; Aktenzeichen L 3 An 1256/75) |
SG Stuttgart (Entscheidung vom 26.08.1975; Aktenzeichen S 8 An 2032/74) |
Tenor
Auf die Revision der Beigeladenen werden das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 5. Mai 1976 und das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 26. August 1975 aufgehoben.
Die Klage wird abgewiesen.
Die Klägerin hat der Beigeladenen die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.
Tatbestand
Die am 17. Oktober 1910 geborene Beigeladene war vom März 1929 bis Anfang 1954 und vom März 1956 bis Oktober 1957 mit dem am 8. September 1906 geborenen Versicherten, dem Kalkulator Paul, verheiratet gewesen, Die letzte Ehe war durch das am 8. Oktober 1957 verkündete und am selben Tage rechtskräftig gewordene Urteil des Landgerichts Stuttgart (9 R 72/57) aus Verschulden des Versicherten geschieden worden. Zuvor hatte sich dieser in einem am 4. Oktober 1957 vor dem Einzelrichter des genannten Gerichts geschlossenen Vergleich verpflichtet, der Beigeladenen für den Fall der Scheidung einen monatlichen Unterhaltsbeitrag von 80,-- DM zu bezahlen, während die Beigeladene auf darüber hinausgehende Unterhaltsansprüche einschließlich des Falles der Not verzichtete.
Am 22. November 1957 heiratete der Versicherte die am 17. Februar 1919 geborene Klägerin. Am 15. Februar 1974 ist er gestorben.
Der Versicherte bezog seit 1971 von der Beklagten Altersruhegeld, seit Juli 1973 in Höhe von 1.002,10 DM monatlich, und bezahlte an die Beigeladene zumindest seit März 1973 bis zu seinem Tod 80,- DM monatlichen Unterhalt. Die Beigeladene bezog selbst Altersruhegeld, das Anfang 1974 524,40 DM betrug. Sie bezahlte für ihre Wohnung einen monatlichen Mietzins von 150,- DM (ohne Heizung), erhielt jedoch von ihrer Untermieterin monatlich 50,- DM (ohne Heizungs- und Stromkosten).
Der Regelsatz nach dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG) betrug in Baden-Württemberg für Alleinstehende ab 1. Juli 1972 205,- DM (in Orten bis 100000 Einwohnern, Gemeinsames Amtsblatt 1972, 588), ab 1. April 1973 220,- DM (GABl 1973, 297) und ab 1. Januar 1974 235,- DM (GABl 1973, 1184).
Mit 2 Bescheiden vom 5. Juni 1974 gewährte die Beklagte der Klägerin und der Beigeladenen aus der Versicherung des Versicherten Hinterbliebenenrenten nach den §§ 41, 42 und 45 Abs. 4 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG), und zwar der Klägerin in Höhe von damals 253,60 DM monatlich und der Beigeladenen in Höhe von damals 412,70 DM monatlich.
Die hiergegen erhobene Klage der Klägerin, mit der diese die Zahlung der vollen ungekürzten Witwenrente an sich begehrte, gab das Sozialgericht (SG) Stuttgart durch Urteil vom 26. August 1975 statt. Die hiergegen von der Beigeladenen eingelegte Berufung wurde vom Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg durch Urteil vom 5. Mai 1976 zurückgewiesen.
Das LSG führte zur Begründung seiner Entscheidung zunächst aus, aufgrund der durchgeführten Beweisaufnahme könne nicht als erwiesen angesehen werden, daß der Versicherte von Anfang 1973 an bis zu seinem Tode an die Beigeladene mehr als monatlich 80,- DM gezahlt habe.
Dieser Betrag genüge nicht, um das gesetzliche Merkmal des "Unterhalts" i. S. der 2. und 3. Alternative des § 42 Satz 1 AVG zu erfüllen und damit einen anteiligen Anspruch auf Geschiedenen-Witwen-Rente zu begründen. Als Unterhalt i. S. dieser Vorschrift sei nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) (vgl. im einzelnen BSGE 22, 44 = SozR Nr. 26 zu § 1265 der Reichsversicherungsordnung - RVO -, SozR 2200 § 1265 RVO Nrn. 4 und 5), der sich der Senat anschließe, grundsätzlich nur eine Summe anzusehen, die 25 v. H. des Betrages erreiche, den ein Unterhaltsberechtigter unter den gegebenen zeitlichen und örtlichen Verhältnissen zur Deckung seines notwendigen Mindestbedarfs benötige. Dabei sei nicht auf die individuellen Besonderheiten des früheren Ehegatten (z. B. sein Alter) abzustellen, sondern es sei von den zeitlichen und örtlichen Regelsätzen der Sozialhilfe zuzüglich Leistungen für die Unterkunft (ohne Heizung) auszugehen (BSG SozR 2200 § 1265 RVO Nr. 5). Die für die Beigeladene örtlich maßgebenden Sozialhilfe-Regelsätze hätten im letzten wirtschaftlichen Dauerzustand, für den an sich die Zeit vom 1. Januar 1974 an (Erhöhung des Sozialhilfe-Regelsatzes) bis zum Tode des Versicherten in Betracht käme, zu Gunsten der Beigeladenen jedoch als repräsentativ die letzten 12 Monate vor dem Tode des Versicherten zugrunde gelegt würden, 205,- DM (bis 31. März 1973), 220,- DM (ab 1. April 1973) bzw. 235,- DM (ab 1. Januar 1974) betragen. Hinzu komme der effektive Mietaufwand von 100,- DM (nach Abzug der Einnahmen aus Untervermietung (vgl. BSG-Urteil vom 29. April 1974, 4/12 RJ 166/75), so daß sich ein Gesamtbetrag von 305,- DM, 320,- DM bzw. 335,- DM ergebe. Ein Viertel hiervon seien 76,25 DM, 80 DM bzw. 83,75 DM. Diese Beträge habe die Unterhaltsleistung des Versicherten in Höhe von 80,- DM bis Dezember 1973 überschritten, ab Januar 1974 jedoch nicht mehr.
Dies reiche nicht aus, um eine Hinterbliebenenrente für die Beigeladene auszulösen. Entscheidend sei nämlich nicht etwa, daß damit während des überwiegenden Teils des letzten wirtschaftlichen Dauerzustandes Unterhalt i. S. des § 42 AVG geleistet worden sei - eine Durchschnittsberechnung sei nicht angängig -, sondern es müsse mit BSG SozR 2200 § 1265 RVO Nr. 4 darauf abgestellt werden, ob das tatsächliche Gesamtbild objektiv die Annahme rechtfertige, daß der Versicherte, wäre er nicht gestorben, künftig Unterhalt im erforderlichen Mindestumfang geleistet hätte. Das sei jedoch deswegen nicht der Fall, weil sich die Sozialhilfe-Regelsätze laufend erhöht hätten, so daß, auf die Zukunft projiziert, der Abstand zwischen dem geschuldeten und auch geleisteten Unterhalt und einem Viertel des Mindestunterhaltsbedarfs sich laufend vergrößert hätte. Schon ab Januar 1975 sei der Regelsatz nach dem BSHG in Baden-Württemberg auf 255,- DM heraufgesetzt worden, und die Differenz hätte sich daher auf 8,75 DM erhöht. Der Senat sei auch der Auffassung, daß die Differenz zwischen dem für die Zeit vom 1. Januar 1974 bis zum Tode des Versicherten errechneten Viertel des Mindestbedarfs mit 83,75 DM und dem tatsächlich geleisteten Unterhalt wesentlich gewesen sei, obwohl sie nur 3,75 DM betrage. Eine für die Verwaltungspraxis praktikable Lösung der Frage des erforderlichen Mindestunterhalts im Rahmen des § 42 AVG sei nur erreichbar, wenn man streng den von der Rechtsprechung des BSG entwickelten Richtwert von 25 v. H. des örtlich und zeitlich erforderlichen Mindestbedarfs als Untergrenze ansehe. Eine andere Beurteilung lasse sich nach der Rechtsprechung des BSG auch nicht daraus herleiten, daß der Betrag von 80,- DM mehr als 10 v. H. des sonstigen Bareinkommens der Beigeladenen von 524,40 DM ausgemacht habe.
Hiergegen richtet sich die vom LSG zugelassene Revision der Beigeladenen. Sie rügt Verletzung formellen und materiellen Rechts und beantragt,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils sowie des Urteils des SG Stuttgart vom 26. August 1976 die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen,
da das angefochtene Urteil richtig sei.
Die Beklagte hat ebenso wie bereits im Berufungsverfahren keine Anträge gestellt und sich auch nicht zur Sache geäußert.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beigeladenen ist begründet.
Das LSG hat nicht untersucht, ob es sich bei dem zwischen der Beigeladenen und dem Versicherten geschlossenen Unterhaltsvergleich um eine Regelung über die Höhe des kraft Gesetzes zu zahlenden Unterhalts oder um ein selbständiges Unterhaltsversprechen handeln sollte (vgl. hierzu BSG, SozR § 1265 RVO Nr. 61). Es hat ferner nicht geprüft, ob im Wege einer Abänderungsklage nach den §§ 323, 794 Zivilprozeßordnung (ZPO) der vereinbarte Unterhaltsbetrag dem inzwischen eingetretenen Kaufkraftschwund der Deutschen Mark hätte angepaßt werden können und müssen (vgl. Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO 34. Aufl. § 323 ZPO Anm. 2 C und 5; Stein/Jonas/Pohle, Kommentar zur ZPO, 19. Aufl. § 323 ZPO Anm. IV; ferner BSGE 41, 160). Einer Klärung dieser Fragen bedarf es indessen nicht mehr. Denn der Versicherte hat jedenfalls im letzten Jahr vor seinem Tode regelmäßig und ununterbrochen an die Beigeladene einen monatlichen Unterhaltsbetrag von 80,- DM gezahlt, was in diesem Zeitraum durchschnittlich in etwa den nach der Rechtsprechung des BSG für den Hinterbliebenenrentenanspruch gemäß der 3. Alternative des § 42 Satz 1 AVG maßgeblichen 25% des zeitlich und örtlich notwendigen Mindestbedarfs der Beigeladenen entsprach (vgl. BSGE 22, 44, sowie SozR Nr. 41 und Nr. 43 zu § 1265 RVO). Eine derartige Durchschnittsbildung hält der erkennende Senat jedenfalls bei regelmäßig erfolgten Unterhaltsleistungen im letzten Jahr vor dem Tode des Versicherten für zulässig (vgl. hierzu auch BSG-Urteil vom 16.3.1977 - 1 RA 93/76 -).
Bei dieser Sachlage kann der ausschließlich auf die Zukunft orientierten Betrachtungsweise des LSG nicht gefolgt werden. Wie der Senat bereits im Urteil vom 16. März 1977 aaO ausgeführt hat, übersieht hierbei das Berufungsgericht, daß die für die Gewährung der Hinterbliebenenrenten maßgebliche Unterhaltsersatzfunktion bei einer während des ganzen letzten Lebensjahres des Versicherten erfolgten fortlaufenden Unterhaltszahlung, die durchschnittlich 25% des Mindestbedarfs erreicht oder überschreitet, nach dem Sinn und Zweck der 3. Alternative des § 42 Satz 1 AVG unterstellt wird. Für die Entscheidung darüber, ob die Voraussetzungen dieser Vorschrift gegeben sind, kommt es demnach in der Regel ausschließlich auf die tatsächliche Unterhaltsgewährung in dem Jahreszeitraum selbst an.
Soweit das BSG von diesem Grundsatz Ausnahmen zugelassen hat, beruhen diese entweder auf einer unterschiedlichen Unterhaltszahlung im letzten Jahr vor dem Tode des Versicherten (so in SozR 2200 § 1265 Nr. 4) oder auf einer schon vor dem Tode des Versicherten sich abzeichnenden Beendigung der vertraglich übernommenen Unterhaltszahlungen in naher Zukunft (so in SozR Nr. 70 zu § 1265 RVO). Ein derartiger, eine abweichende Entscheidung rechtfertigender Sachverhalt liegt indes hier nicht vor.
Soweit sich die Klägerin in ihrer Revisionserwiderung gegen den vom LSG festgestellten Mindestbedarf der Beigeladenen wendet, handelt es sich im wesentlichen um neues tatsächliches Vorbringen, das in der Revisionsinstanz nicht berücksichtigt werden kann. Außerdem ist der Senat nach § 163 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) an die tatsächlichen Feststellungen des LSG gebunden, soweit nicht gegen sie begründete Revisionsgründe vorgebracht sind. Solche sind von der Klägerin nicht im Wege einer formgerechten Gegenrüge vorgetragen worden. Schließlich besteht auch kein Anlaß, von der bisherigen Rechtsprechung des BSG abzuweichen. Danach ist der notwendige Mindestbedarf nicht nach den individuellen Besonderheiten, sondern nach den zeitlichen und örtlichen Regelsätzen der Sozialhilfe zuzüglich der Leistungen für Unterkunft, jedoch ohne Mehrbedarf, festzustellen (SozR 2200 § 1265 RVO Nr. 5). Ein Zuschlag für Heizung kann daher nicht berücksichtigt werden.
Nach alledem waren sämtliche Voraussetzungen für den von der Beigeladenen erhobenen anteiligen Hinterbliebenenrentenanspruch erfüllt, weil der Versicherte im letzten Jahr vor seinem Tode der Beigeladenen Unterhalt im Sinn der letzten Alternative des § 42 Satz 1 AVG gezahlt hat.
Der Revision war somit bereits aufgrund der Sachrüge stattzugeben, ohne daß es noch darauf angekommen wäre, ob auch die Verfahrensrügen zum Erfolg geführt hätten, daß das LSG aufgrund eines fehlerfreien Verfahrens und einer zutreffenden Beweiswürdigung hätte zu dem Ergebnis kommen müssen, daß der Versicherte doch mehr als die als erwiesen angesehenen 80,- DM monatlich gezahlt hatte.
Die Beklagte hat die Rente schließlich auch richtig zwischen der Klägerin und der Beigeladenen aufgeteilt. Die Beigeladene war zweimal mit dem Versicherten verheiratet gewesen. Ihre Anspruchsberechtigung ergab sich auf Grund der Scheidung der zweiten Ehe. In einem solchen Fall ist, wie der Senat mit Urteil vom 23. Februar 1977 - 1 RA 103/75 - entschieden hat, auch die Dauer der ersten Ehe zu berücksichtigen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen