Leitsatz (redaktionell)

Wenn im Verfahren über den Rechtsanspruch auf Witwenversorgung die Gründe eines rechtskräftigen Urteils die tatsächliche Feststellung enthalten, der Ursachenzusammenhang sei unwahrscheinlich, so sind die Versorgungsbehörde oder die Gerichte nicht gehindert, bei der Entscheidung über die Kannleistung gemäß BVG § 1 Abs 3 S 2 festzustellen, daß "die erforderliche Wahrscheinlichkeit nur deshalb nicht gegeben ist, weil über die Ursache des Leidens in der medizinischen Wissenschaft Ungewißheit besteht".

 

Normenkette

BVG § 1 Abs. 3 S. 2 Fassung: 1964-02-21, § 89 Abs. 2 Fassung: 1960-06-27

 

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 24. Juli 1967 aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

I

Der Ehemann der Klägerin, A O (O.), erhielt, zuletzt aufgrund des Bescheides des Versorgungsamts II Berlin vom 13. Oktober 1954, "wegen Endangiitis obliterans (chronische allgemeine, verengende Gefäßinnenhautentzündung) als Schädigungsfolge i.S. der abgegrenzten Verschlimmerung" eine Versorgungsrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 40 v.H. Er starb am 16. Januar 1955 an einer allgemeinen Gefäßerkrankung.

Den Antrag der Klägerin, ihr eine Witwenrente zu gewähren, lehnten die Versorgungsbehörden durch die Bescheide vom 5. Oktober 1955 und 20. August 1956 (Widerspruchsbescheid) ab, weil der Tod des O. nicht Folge einer Schädigung i.S. des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) sei; O. sei auch nicht an der anerkannten Schädigungsfolge, der "abgegrenzten Verschlimmerung der Endangiitis obliterans" verstorben.

Die Klage wies das Sozialgericht (SG) Berlin durch Urteil vom 29. Juli 1959 ab. Es führte aus: "Aufgrund der allgemeinen medizinischen Lehre und Erfahrung sei davon auszugehen, daß es sich bei der Endangiitis obliterans um ein Leiden auf konstitutioneller Basis handele, das sich bei dem Verstorbenen schon vor dem Wehrdienst in Form von Herzgefäßkrämpfen bemerkbar gemacht habe. Die durch den Wehrdienst eingetretene abgegrenzte Verschlimmerung habe seinen Tod wahrscheinlich nicht wesentlich mitverursacht, der Tod sei dadurch auch nicht mit Wahrscheinlichkeit mindestens ein Jahr früher eingetreten. Das SG stützte seine Auffassung im wesentlichen auf ein Gutachten des Prof. Dr. R Die Klägerin legte Berufung ein; sie nahm sie jedoch am 16. August 1961 zurück.

Im September 1961 beantragte die Klägerin, ihr Witwenversorgung im Wege des Härteausgleichs nach § 89 Abs. 2 BVG idF des 1. Neuordnungsgesetzes - 1.NOG vom 27. Juni 1960 - zu gewähren. Das Versorgungsamt lehnte den Antrag mit Bescheid vom 7. Dezember 1961 ab, da nach den Kenntnissen der ärztlichen Wissenschaft keine Ungewißheit darüber bestehe, daß die Endangiitis obliterans, die den Tod des Ehemannes der Klägerin herbeigeführt habe, keine Folge einer Schädigung i.S. des BVG gewesen sei; die Voraussetzungen für einen Härteausgleich nach § 89 Abs. 2 BVG seien daher nicht gegeben. Der Widerspruch blieb ohne Erfolg (Bescheid des Landesversorgungsamts vom 11.2.1963). Mit der Klage begehrte die Klägerin, ihr Witwenversorgung nach § 89 Abs. 2 BVG (1. NOG) bzw. nach § 1 Abs. 3 Satz 2 BVG (2.NOG) zu gewähren; sie machte geltend, sie könne nach diesen Vorschriften Versorgung im Wege des Härteausgleichs erhalten, weil über die Ursache des festgestellten Leidens, an dem ihr Ehemann verstorben sei, in der medizinischen Wissenschaft Ungewißheit bestehe.

Das SG Berlin wies die Klage mit Urteil vom 26. Januar 1965 ab, da der Rechtsanspruch der Klägerin auf Witwenrente nicht deswegen abgelehnt worden sei, weil über die Ursache der Endangiitis obliterans in der ärztlichen Wissenschaft Ungewißheit bestehe. Die Klägerin legte Berufung an das Landessozialgericht (LSG) Berlin ein. Das LSG lud die Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch den Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, zum Verfahren bei. Die Beigeladene teilte mit, daß sie einer Versorgung im Wege des Härteausgleichs nicht zustimmen könne. Das LSG wies die Berufung der Klägerin mit Urteil vom 24. Juli 1967 zurück. Es führte aus, der Beklagte habe zu Recht die Voraussetzungen für die Gewährung einer Versorgung im Wege des Härteausgleichs verneint; ein Ermessensfehler liege nicht vor. Die von der Klägerin begehrte Entscheidung der Versorgungsbehörden bzw. der Gerichte über eine Versorgung nach den genannten Vorschriften sei unzulässig. Ihr stehe das rechtskräftige Urteil des SG Berlin vom 29. Juli 1959 entgegen (§ 141 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -); in diesem Urteil sei festgestellt worden, daß der ursächliche Zusammenhang zwischen dem zum Tode führenden Leiden und einer Schädigung i.S. des BVG unwahrscheinlich sei. Durch dieses Urteil sei der Rechtsanspruch der Klägerin auf Witwenrente nicht - wie § 89 Abs. 2 BVG idF des 1.NOG und § 1 Abs. 1 Satz 3 BVG idF des 2.NOG es voraussetzen - mit der Begründung abgelehnt worden, daß der ursächliche Zusammenhang des den Tod bedingenden Leidens mit einer Schädigung i.S. des BVG nur deshalb nicht wahrscheinlich sei, weil über die Ursache des festgestellten Leidens (Endangiitis obliterans) in der medizinischen Wissenschaft Ungewißheit bestehe.

Die Klägerin legt fristgemäß und formgerecht Revision ein. Sie beantragt,

das Urteil des LSG aufzuheben und die Sache zur neuen Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Sie rügt, das LSG habe die Vorschrift des § 141 Abs. 1 SGG verletzt. Das LSG habe verkannt, daß es ohne Bindung an das rechtskräftige Urteil des SG Berlin vom 29. Juli 1959 - und die dieses Urteil tragenden Entscheidungsgründe - habe prüfen und entscheiden müssen, ob der Beklagte bei Erlaß der angefochtenen Bescheide nach §§ 89 Abs. 2 BVG aF bzw. 1 Abs. 1 Satz 2 BVG nF ermessensfehlerfrei i.S. des § 54 Abs. 2 Satz 2 SGG gehandelt habe.

Der Beklagte beantragt,

die Revision der Klägerin als unzulässig zu verwerfen.

Die Beigeladene stellt keine Anträge, sie führt jedoch aus, das LSG habe rechtsirrtümlich das Recht des Beklagten zur uneingeschränkten erneuten Sachprüfung und Sachentscheidung hinsichtlich der Voraussetzungen der §§ 89 Abs. 2 BVG aF und Abs. 1, Abs. 3 Satz 2 BVG nF unter Hinweis auf § 141 Abs. 1 SGG verneint. Der Antrag der Revision auf Zurückverweisung der Sache an die Tatsacheninstanz sei danach gerechtfertigt.

Die Beteiligten erklärten sich mit einem Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§§ 124 Abs. 2, 153 Abs. 1, 165 SGG).

II

Die Revision der Klägerin ist nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft. Sie rügt zu Recht, das Verfahren des LSG leide an einem wesentlichen Mangel.

Gegenstand des Verfahrens ist der Bescheid vom 7. Dezember 1961 (in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. Februar 1963), mit dem der Beklagte den Antrag der Klägerin auf Gewährung von Versorgung nach § 89 Abs. 2 BVG idF des 1. NOG abgelehnt hat. Das LSG hat zu Unrecht die Auffassung vertreten, dieser Bescheid sei schon deshalb ermessensfehlerfrei (§ 54 Abs. 2 Satz 2 SGG) und damit rechtmäßig, weil der Beklagte durch das rechtskräftig gewordene Urteil des SG Berlin vom 29. Juli 1959 gehindert gewesen sei, dem Begehren der Klägerin auf Gewährung einer Versorgung nach § 89 Abs. 2 BVG idF des 1. NOG - und für die spätere Zeit nach § 1 Abs. 3 Satz 2 BVG idF des 2. NOG - zu entsprechen.

Nach § 141 Abs. 1 SGG binden rechtskräftige Urteile die Beteiligten, soweit über den Streitgegenstand entschieden worden ist. Die Rechtskraft des Urteils wirkt danach nur soweit, als der Streitgegenstand des früheren Prozesses mit dem Streitgegenstand des neuen Prozesses identisch ist. Dabei deckt sich der Begriff Streitgegenstand mit dem des erhobenen (prozessualen) Anspruchs i.S. des § 322 der Zivilprozeßordnung (ZPO), dem Klagebegehren. Die Rechtskraft umfaßt nur den Streitgegenstand selbst, nicht die ihn bedingenden oder durch ihn bedingten Rechtsverhältnisse; die Urteilselemente nehmen an der Rechtskraft nicht teil; die Feststellung der tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen der Entscheidung sind grundsätzlich nicht der Rechtskraft fähig. Daran ändert nichts, daß die Urteilsgründe zur Ermittlung des Streitgegenstandes heranzuziehen sind (vgl. BSG 9, 17; 14, 99 mit weiteren Hinweisen).

In dem gerichtlichen Verfahren, das zu dem rechtskräftig gewordenen Urteil des SG vom 29. Juli 1959 geführt hat, hat sich die Klägerin gegen die Rechtsmäßigkeit der Bescheide vom 5. Oktober 1955 und 20. August 1956 gewandt, mit denen der Beklagte ihren Anspruch auf Witwenrente nach dem BVG abgelehnt hatte; sie hat diesen Rechtsanspruch geltend gemacht. Das SG hat die Klage abgewiesen. Dieses rechtskräftige Urteil bindet die Beteiligten insoweit, als die Rechtmäßigkeit der damals angefochtenen Verwaltungsakte festgestellt und der Rechtsanspruch auf die Witwenrente verneint worden ist. Die Feststellung in den Gründen dieses Urteils, es sei (zwar möglich, aber) nicht wahrscheinlich, daß der Tod des O. an einer Endangiitis obliterans ursächlich mit einer Schädigung i.S. des BVG oder mit anerkannten Schädigungsfolgen zusammenhänge, ist für die Beurteilung des Streitgegenstandes des jetzigen Verfahrens ohne Bedeutung. Der jetzt "erhobene Anspruch" ist das Begehren der Klägerin auf Witwenversorgung nach § 89 Abs. 2 BVG idF des 1. NOG bzw. nach § 1 Abs. 3 Satz 2 BVG idF des 2. NOG, also das Begehren auf eine Ermessensleistung, für die besondere Voraussetzungen bestehen.

Dieser Streitgegenstand ist nicht identisch mit dem Streitgegenstand des früheren Prozesses. Es handelt sich hier vielmehr um ein Klagebegehren, das von der Grundlage des in dem ersten Prozeß erhobenen Anspruchs verschieden ist. Daran ändert nichts, daß durch beide Klagebegehren eine Versorgungsleistung erstrebt wird, die auf dem Tod des Beschädigten beruht. Die Auffassung des LSG, die Versorgungsbehörden und die Gerichte dürften im Verfahren auf Versorgung nach § 89 Abs. 2 BVG aF bzw. nach § 1 Abs. 3 Satz 2 BVG nF keine neue sachliche Entscheidung über den ursächlichen Zusammenhang treffen, weil es sonst zu gegensätzlichen Beurteilungen des ursächlichen Zusammenhangs kommen könnte, geht an der hier zu entscheidenden Rechtsfrage vorbei. Der Umstand, daß im Verfahren über den Rechtsanspruch auf Witwenversorgung die Gründe eines rechtskräftigen Urteils die tatsächliche Feststellung enthalten, der ursächliche Zusammenhang sei unwahrscheinlich, hindert die Versorgungsbehörden und Gerichte nicht, bei der Entscheidung über die Ermessensleistung nach den genannten Vorschriften festzustellen, daß "die erforderliche Wahrscheinlichkeit nur deshalb nicht gegeben ist, weil über die Ursache des Leidens in der medizinischen Wissenschaft Ungewißheit besteht". Eine solche Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs würde nicht, wie das LSG meint, dem benachteiligten Beteiligten das Recht zu einer Restitutionsklage nach § 179 SGG i.V.m. § 580 Nr. 7 a ZPO verschaffen; das erste Urteil ist weder "in derselben Sache" erlassen worden noch erstreckt sich seine Rechtskraft auf die tatsächlichen Feststellungen in den Urteilsgründen, die die Verneinung des Rechtsanspruchs stützen sollen. Das LSG beruft sich auch zu Unrecht auf das Urteil des BSG vom 21. Oktober 1958 (BSG 8, 189). Es handelt sich im vorliegenden Falle, nicht wie in diesem Urteil, um die Frage, inwieweit die Verwaltung - bei einer späteren Entscheidung über den gleichen Streitgegenstand - an die rechtliche Beurteilung gebunden ist, die der Aufhebung eines Verwaltungsaktes in einem rechtskräftigen Urteil zugrunde gelegt worden ist.

Die Auffassung des LSG läuft darauf hinaus, daß die Anwendung des § 89 Abs. 2 BVG aF und des § 1 Abs. 3 Satz 2 nF und damit die Gewährung von Versorgung nach diesen Vorschriften grundsätzlich rechtlich unzulässig wäre, wenn bereits in einem rechtskräftigen Urteil über den Rechtsanspruch auf Versorgung der ursächliche Zusammenhang als nicht wahrscheinlich angesehen worden ist, es sei denn, daß dies ausdrücklich damit begründet worden ist, der ursächliche Zusammenhang sei nicht beurteilbar, weil die Ursachen des Leidens in der medizinischen Wissenschaft ungewiß seien. Dies widerspricht dem Sinn und Zweck der gesetzlichen Sonderregelung, die die Versorgung nach § 89 Abs. 2 BVG aF und § 1 Abs. 3 Satz 2 BVG nF zum Gegenstand hat. Die Regelung soll die Möglichkeit einer Ermessensleistung auf einer besonderen Anspruchsgrundlage, nämlich der Ungewißheit über die Ursache des festgestellten Leidens, eröffnen; sie will damit auch dem Umstand Rechnung tragen, daß frühere medizinische Beurteilungen des ursächlichen Zusammenhangs bei der Entscheidung über den Rechtsanspruch möglicherweise auf unterschiedlichen - und nicht gesicherten - medizinisch-wissenschaftlichen Lehrmeinungen beruht haben.

Das LSG hat danach zu Unrecht den Beklagten wegen der Rechtskraft des Urteils vom 29. Juli 1959 als gehindert angesehen, der Klägerin Versorgung nach § 89 Abs. 2 BVG aF bzw. § 1 Abs. 3 Satz 2 BVG nF zu gewähren. Es hat die rechtserheblichen Feststellungen, von denen die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheids nach § 54 Abs. 2 Satz 2 SGG abhängt, nicht getroffen. Das Verfahren des LSG leidet deshalb an einem wesentlichen Mangel, den die Klägerin auch in der nach § 164 Abs. 2 Satz 2 SGG gebotenen Form gerügt hat (vgl. hierzu BSG 8, 284, 290).

Die Revision ist auch begründet. Die Entscheidung des LSG hätte anders ausfallen können, wenn es eine ordnungsgemäße Sachprüfung nach § 54 Abs. 2 Satz 2 SGG vorgenommen hätte. Das angefochtene Urteil ist danach aufzuheben. Das BSG kann nicht selbst in der Sache entscheiden, weil ausreichende Feststellungen für eine abschließende Entscheidung fehlen.

Da die Voraussetzungen der §§ 165, 153 Abs. 1 und 124 Abs. 2 SGG erfüllt sind, ist die Sache, wie geschehen, nach § 170 Abs. 2 Satz 2 SGG an das LSG zurückzuverweisen.

Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2375020

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