Beteiligte
Landesamt für Gesundheit und Soziales Berlin |
Tenor
Auf die Revision des Klägers werden das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 10. November 1998, der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 15. August 1997 sowie der Bescheid des Beklagten vom 7. März 1996 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. Juli 1996 aufgehoben.
Der Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.
Gründe
I
Die Beteiligten streiten um die Aufhebung eines Rückforderungsbescheides.
Der Beklagte gewährte dem im Jahre 1917 geborenen, im Beitrittsgebiet lebenden Kläger mit Vorbehaltsbescheid vom 21. Februar 1992 gemäß § 22 Abs 4 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (KOVVfG) rückwirkend ab 1. Januar 1991 wegen einer im Krieg erlittenen Kopfverletzung Versorgungsbezüge nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 30 vH. In dem Bescheid wurde ausdrücklich auf den vorläufigen Charakter der Verwaltungsentscheidung und insbesondere der Leistungsgewährung hingewiesen. Mit Anpassungsbescheiden erhöhte die Versorgungsverwaltung die Renten mehrfach gemäß den jeweiligen Verordnungen.
Nach Einholung von versorgungsärztlichen Gutachten kam der Beklagte zu dem Ergebnis, daß die Schädigungsfolgen nur eine MdE von 10 vH bedingten; er hob nach Anhörung des Klägers durch Bescheid vom 25. August 1994 den Vorbehalts- sowie die nachfolgenden Anpassungsbescheide auf und stellte die Zahlung der laufenden Versorgungsbezüge ab 1. Oktober 1994 ein. Der dagegen eingelegte Widerspruch hatte nur teilweise Erfolg (Teilabhilfebescheid vom 15. Februar 1995; bestandskräftiger Widerspruchsbescheid vom 31. März 1995).
Nach Anhörung des Klägers und nach Ermittlung der persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse forderte der Beklagte mit Bescheid vom 7. März 1996 die überzahlten Versorgungsbezüge von 5.529,00 DM gemäß § 50 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) zurück. Zur Begründung führte er aus: Gemäß § 59 Abs 1 Nr 3 Bundeshaushaltsordnung (BHO) könne nur bei Vorliegen einer besonderen Härte von der Verwirklichung eines Rückforderungsanspruches abgesehen werden. Eine solche liege unter Berücksichtigung der Einkünfte des Klägers nicht vor. Im Widerspruchsbescheid vom 25. Juli 1996 bezog sich der Beklagte auf § 50 Abs 1 SGB X und wies darauf hin, daß die vom Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung (BMA) erlassenen Richtlinien zur Rückforderung überzahlter Versorgungsbezüge nach Vorbehaltsbescheiden im Rahmen der Einführung des sozialen Entschädigungsrechts in den neuen Bundesländern beachtet worden seien. Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Gerichtsbescheid vom 15. August 1997). Auch die Berufung des Klägers blieb ohne Erfolg (Urteil des Landessozialgerichts – LSG – vom 10. November 1998). Der Beklagte sei berechtigt, in entsprechender Anwendung des § 50 Abs 2 SGB X die aufgrund des Vorbehaltsbescheides vom 21. Februar 1992 gewährten Versorgungsbezüge für die Zeit vom 1. Januar 1991 bis September 1994 zurückzufordern. Durch den ausdrücklich auf § 22 Abs 4 KOVVfG gestützten Bescheid seien die Versorgungsbezüge nur vorläufig gewährt worden. Daher habe der Kläger nicht darauf vertrauen dürfen, daß die in der folgenden Zeit angepaßten Leistungen nunmehr endgültig und vorbehaltlos gewährt würden. Auch die von dem Beklagten getroffene Ermessensentscheidung sei nicht zu beanstanden. Die Verwaltung habe die Geschäftsanweisungen des Landesversorgungsamtes und das Rundschreiben des BMA beachtet.
Mit der – vom LSG zugelassenen – Revision rügt der Kläger eine Verletzung von § 22 Abs 4 KOVVfG, §§ 45, 48, 50 SGB X sowie von Art 3 Grundgesetz (GG) und trägt vor: Vor Erlaß des Rückforderungsbescheides hätte auf jeden Fall eine Vertrauensschutzprüfung stattfinden und Ermessen ausgeübt werden müssen. Er, der Kläger, gehöre zu dem Personenkreis, der durch die Rundschreiben des BMA vom 20. April 1993 und vom 23. November 1993 begünstigt sei. Dies hätte bei Ausübung des Ermessens berücksichtigt werden müssen. Der im Rundschreiben des BMA genannte Stichtag sei willkürlich gewählt.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 10. November 1998 und den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 15. August 1997 sowie den Bescheid des Beklagten vom 7. März 1996 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. Juli 1996 aufzuheben.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält die angefochtene Entscheidung für richtig und hebt hervor: Nach den hier maßgeblichen Vorschriften des Sozialgesetzbuchs und der Haushaltsordnung könne bei den Einkommensverhältnissen des Klägers von einer Rückforderung nicht abgesehen werden. Da bei der Bewilligung auf die Vorläufigkeit der Leistung hingewiesen worden sei, könne der Kläger sich auch nicht auf schutzwürdiges Vertrauen berufen.
II
Die Revision des Klägers hat Erfolg. Die Urteile der Vorinstanzen sowie der Rückforderungsbescheid vom 7. März 1996 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. Juli 1996 sind aufzuheben.
1. Ob der Kläger – wie der Beklagte verlangt – 5.529,00 DM zurückzuzahlen hat, richtet sich nach § 50 Abs 2 SGB X. Die Vorschrift ist hier allerdings nur analog anwendbar.
a) Der Kläger hat die Leistungen, die ihm aufgrund des Vorbehaltsbescheides vom 21. Februar 1992 und der nachfolgenden Anpassungsbescheide gewährt wurden, ohne Rechtsgrund erlangt, nachdem im Bescheid vom 25. August 1994 ein Anspruch auf Versorgungsleistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) von dem Beklagten endgültig verneint worden war und sich der Vorbehaltsbescheid dadurch erledigt hatte.
aa) Bei dem auf § 22 Abs 4 KOVVfG gestützten Bescheid des Beklagten vom 21. Februar 1992 handelte es sich um einen sogenannten Vorbehaltsbescheid. Nach dieser Vorschrift kann ein Bescheid unter dem ausdrücklichen Vorbehalt einer endgültigen Entscheidung erlassen werden, wenn dies beantragt ist, der Antragsteller ein berechtigtes Interesse an der Erteilung eines solchen Bescheides hat und wenn nach dem Ergebnis der Ermittlungen über den Anspruch noch nicht endgültig entschieden werden kann, dessen Voraussetzungen aber mit Wahrscheinlichkeit gegeben sind. Der Beklagte hatte sich in dem vorgenannten Bescheid den Erlaß eines „endgültigen” Bescheides vorbehalten, indem er auf die Vorläufigkeit der Bewilligung hingewiesen und betont hatte, die Entscheidung lasse keinen Rückschluß auf die endgültige Leistung zu; sofern nach abschließender Prüfung kein Anspruch auf Versorgungsbezüge bestehe, seien die gesamten Beträge zurückzuzahlen. Im Hinblick auf die eindeutige Formulierung des Bescheides konnte jeder aufmerksame, verständige Leser ohne weiteres erkennen, daß es sich um eine vorläufige Regelung handelte und daß insbesondere über die Leistungsberechtigung erst in einem weiteren Bescheid endgültig entschieden werden sollte.
bb) Der Vorbehaltsbescheid vom 21. Februar 1992 und die Anpassungsbescheide haben sich mit Erlaß des endgültigen Bescheides vom 25. August 1994 erledigt.
Vorbehaltsbescheide nach § 22 Abs 4 KOVVfG zählen zu den sogenannten vorläufigen Verwaltungsakten. Sie schaffen lediglich für die Dauer ihres Bestehens, also für einen begrenzten Zeitraum, Rechtssicherheit und Rechtswirkungen zwischen den Beteiligten, ohne die endgültige Entscheidung zu präjudizieren. Schutzwürdiges Vertrauen auf den Bestand eines solchen Verwaltungsaktes besteht daher grundsätzlich nur für die Dauer des Verwaltungsverfahrens bis zum Erlaß des abschließenden Verwaltungsaktes. Die Bindungswirkung (§ 77 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫) ist deshalb von vornherein bis zur Ersetzung durch den endgültigen Verwaltungsakt begrenzt. Ergeht die endgültige Entscheidung, so erledigt sich dadurch der vorläufige Verwaltungsakt (§ 39 Abs 2 SGB X). Einer „Aufhebung” des Vorbehaltsbescheides bedarf es deshalb nicht; erfolgt sie dennoch, so kommt dieser Entscheidung nur deklaratorische Bedeutung zu (vgl zum Vorstehenden BSGE 67, 104, 109 f = SozR 3-1300 § 32 Nr 2 und SozR 3-1300 § 32 Nr 4 S 34 f; § 31 Nr 10 S 12; BSG SozR 3-1200 § 42 Nr 2 S 4 f).
Der Vorbehalt im Bescheid vom 21. Februar 1992 erfaßte auch die nachfolgenden Anpassungsbescheide. Denn ihr Regelungsgehalt erschöpfte sich in der Anpassung der Leistungen entsprechend der jeweils gesetzlich festgelegten Erhöhung (vgl hierzu BSG, Urteil vom 26. Oktober 1989 - 9 RV 14/88; BSGE 79, 92, 95 f mwN = SozR 3-1300 § 45 Nr 30). Die Anpassungsbescheide teilen mithin das rechtliche Schicksal des zugrundeliegenden Vorbehaltsbescheides. Mit seinem Wegfall aufgrund der endgültigen Entscheidung entfallen auch die Grundlagen für die Anpassungsbescheide.
Der hier vertretenen Ansicht stehen die Entscheidungen des 9a-Senats vom 10. August 1983 - 9a RV 33/82 (Der Versorgungsbeamte 1984, 11) und des 8. Senats vom 24. Januar 1995 (BSGE 75, 291 ff = SozR 3-1300 § 50 Nr 17) nicht entgegen. In ihnen wurden Anpassungsbescheide als Rechtsgrundlage für die endgültige Bewilligung von Leistungen gewertet. Die BSG-Entscheidungen sind jedoch zu andersartigen Fallgestaltungen ergangen und sagen nichts über das rechtliche Schicksal eines Anpassungsbescheides aus, wenn sich der zugrundeliegende Vorbehaltsbescheid durch eine endgültige Verwaltungsentscheidung erledigt.
b) Nach Erledigung des Vorbehaltsbescheides vom 21. Februar 1992 sowie der Anpassungsbescheide war der Beklagte grundsätzlich berechtigt, die dem Kläger ohne Rechtsgrund erbrachten Leistungen zurückzufordern.
aa) BVG und KOVVfG enthalten hierfür keine Spezialvorschrift. § 22 Abs 4 KOVVfG ermächtigt lediglich zum Erlaß eines Vorbehaltsbescheides. Die spezialgesetzliche Regelung des § 47 Abs 2 KOVVfG (in der Fassung vom 6. Mai 1976, BGBl I S 1169), wonach überzahlte Versorgungsleistungen zurückzuerstatten sind, ist durch Art II § 16 Nr 1 des SGB X vom 18. August 1980 (BGBl I S 1469) gestrichen worden, so daß sich die Rückforderung „überzahlter” Versorgungsleistungen nach der allgemeinen Vorschrift des § 50 SGB X bestimmt. Hierfür spricht auch der eindeutige Hinweis in den Materialien. Danach ist § 47 KOVVfG im Hinblick auf die neue Bestimmung des § 50 SGB X (§ 48 des Entwurfs, BT-Drucks 8/2034 S 40) aufgehoben worden.
bb) Entgegen – wohl – der Auffassung des Beklagten findet hier aber nicht § 50 Abs 1, sondern Abs 2 SGB X Anwendung, allerdings beim Wegfall des Vorbehaltsbescheides nur analog (vgl hierzu BSG SozR 3870 § 8 Nr 2 S 11 f; SozR 3-1300 § 45 Nr 5; betreffend sog Urteilsleistungen: SozR 3-1300 § 45 Nr 10). § 50 Abs 1 SGB X kann nicht herangezogen werden, weil eine „Aufhebung” des die Leistung bewilligenden Verwaltungsaktes aufgrund der §§ 45 ff SGB X nicht in Betracht kommt; denn der Vorbehaltsbescheid und die nachfolgenden Anpassungsbescheide haben sich – wie ausgeführt – mit Erlaß des endgültigen Bescheides von selbst erledigt, ohne daß es der Aufhebung bedurft hätte. § 50 Abs 2 SGB X läßt sich ebenfalls nicht direkt anwenden, weil die Leistungen aufgrund einer Bewilligungsentscheidung, wenn auch einer vorläufigen, erbracht worden sind (für eine direkte Anwendung von § 50 Abs 2 SGB X: Dörr, Rückforderung nach § 50 Abs 2 SGB X, DAngVers 1989, 464, 465). Für die Rückforderung nach Wegfall eines Vorbehaltsbescheides, der nach § 22 Abs 4 KOVVfG ergangen ist, besteht also eine Regelungslücke. Diese läßt sich durch die entsprechende Anwendung des § 50 Abs 2 SGB X schließen. Dabei muß jedoch der – auch aus den Vorschriften der §§ 45 ff SGB X herzuleitende – Grundsatz beachtet werden, daß vor Rückforderung sozialrechtlicher Leistungen stets an irgendeiner Stelle des Verwaltungsverfahrens eine Vertrauensschutz- und/oder Ermessensprüfung zu erfolgen hat (so Steinwedel in Kasseler Komm, § 50 SGB X RdNr 8). Bei einer Rückforderung muß nach § 50 Abs 1 SGB X diese Prüfung regelmäßig vor der rückwirkenden Aufhebung bzw vor der Rücknahme der Leistungsbewilligung erfolgen (§§ 45 oder 48 Abs 1 Satz 2 SGB X). Im Falle einer Rückforderung nach § 50 Abs 2 SGB X stellt die Verweisung in Satz 2 aaO auf § 45 SGB X sicher, daß auch in diesen Fällen eine Vertrauensschutzprüfung und/oder eine Ermessensausübung vor Erlaß eines Rückforderungsbescheides stattfindet. Eine Vertrauensschutzprüfung ist allerdings in der Regel dann nicht notwendig, wenn – wie hier – Leistungen aufgrund eines Vorbehaltsbescheides erbracht worden sind (vgl zum Vertrauensschutz bei Vorbehaltsfestsetzungen im Steuerrecht Leisner, DStZ 1999, 358). Der Betroffene kann sich in diesen Fällen nicht auf Vertrauen berufen (§ 45 Abs 4 Satz 1 iVm Abs 2 Satz 3 Nr 3 SGB X), weil er aufgrund des Vorbehalts in dem Bewilligungsbescheid weiß oder jedenfalls wissen kann, daß die Leistungen von ihm zurückzuerstatten sind, wenn nach endgültiger Sachverhaltsaufklärung feststeht, daß er keinen Anspruch auf Versorgungsleistungen hat (vgl hierzu entsprechend BSG SozR 3-1300 § 45 Nr 10 S 33 f).
Die Entscheidungen des 4. Senats vom 16. November 1995 (SozR 3-1300 § 31 Nr 10) und des 7. Senats vom 11. Juni 1987 (BSGE 62, 32 = SozR 4100 § 71 Nr 2) stehen der Auffassung, daß bei der Rückforderung von Leistungen, die aufgrund eines Vorbehaltsbescheides nach § 22 Abs 4 KOVVfG erbracht worden sind, Ermessen auszuüben sei, nicht entgegen. Die Entscheidung des 4. Senats ist im Rahmen einer den allgemeinen Vorschriften vorgehenden Spezialregelung, nämlich bei der entsprechenden Anwendung von § 42 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) auf Fälle der „Vorwegzahlung” ergangen. § 42 Abs 1 SGB I und § 22 Abs 4 KOVVfG enthalten jedoch voneinander abweichende Regelungen. § 42 Abs 2 SGB I schreibt zwingend die Rückerstattung von Leistungen nach Erledigung eines Vorschußbescheides vor. Dagegen räumt § 50 Abs 2 Satz 2 iVm § 45 Abs 1 SGB X nach Wegfall eines Vorbehaltsbescheides gemäß § 22 Abs 4 KOVVfG der Verwaltung einen Ermessensspielraum ein, ob sie die zu Unrecht erbrachten Leistungen zurückfordert (§ 45 Abs 1 SGB X: „darf”). Der 7. Senat hat seine – indirekte – Aussage, eine Ermessensausübung sei bei Aufhebung und Rückforderung von Vorwegzahlungen nicht erforderlich, ausschließlich auf die damals streitbefangenen Bereiche Schlechtwettergeld und Wintergeld beschränkt (vgl hierzu BSG SozR 3-1300 § 45 Nr 5 S 23 f).
2. Der Beklagte hat zwar – wie den angefochtenen Bescheiden zu entnehmen ist – Ermessen ausgeübt, seine Ermessenserwägungen weisen jedoch Fehler auf.
a) Bei der Ermessensentscheidung hat sich der Versorgungsträger am Gesetzeszweck zu orientieren und die gesetzlichen Grenzen des Ermessens zu beachten (§ 39 Abs 2 SGB I und § 54 Abs 2 Satz 2 SGG). Zu diesen gehören auch allgemeine Grundsätze des Verwaltungs- und Verfassungsrechts wie insbesondere der Grundsatz der Gleichbehandlung gleichgelagerter Fälle (vgl hierzu Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 10. Aufl, § 7 RdNr 22 f; Erichsen-Ossenbühl, Allgemeines Verwaltungsrecht, 10. Aufl, § 10 RdNr 18). Ferner müssen alle Gesichtspunkte erwogen werden, die für und gegen die Rückforderung der zu Unrecht bezogenen Leistungen sprechen, ua Gesichtspunkte der Billigkeit (vgl BSGE 63, 37, 41= SozR 1300 § 45 Nr 34) – und nicht nur die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Betroffenen – sowie Gründe der Verwaltungspraktikabilität (vgl hierzu BSGE 64, 24, 28 = SozR 1300 § 45 Nr 38).
b) Für die Frage, ob eine Ermessensentscheidung rechtmäßig ist, kommt es auf den Inhalt und die Begründung des Rückforderungsbescheides in der Gestalt des Widerspruchsbescheides an. Diese muß diejenigen Gesichtspunkte erkennen lassen, von denen die Behörde bei der Ausübung des Ermessens ausgegangen ist (§ 35 Abs 1 Satz 3 SGB X; vgl hierzu BSG SozR 3-1300 § 45 Nr 5 S 20; Nr 10 S 35).
Diese materiell-rechtlichen und formellen Vorgaben hat der Beklagte bei seiner Rückforderungsentscheidung nicht hinreichend beachtet.
aa) So ist nicht erkennbar, auf welche Vorschrift er die Rückforderung gestützt hat. Sollte der Beklagte der Auffassung gewesen sein, daß die Rückforderung sich nach § 50 Abs 1 SGB X richte und Ermessen nur im Rahmen haushaltsrechtlicher Bestimmungen, hier des § 59 Abs 1 Nr 3 BHO, auszuüben sei, wäre die Entscheidung schon deshalb fehlerhaft, weil er die Ermessensausübung dann auf die Abwägung der wirtschaftlichen Situation und auf haushaltsrechtliche Überlegungen beschränkt hätte. Dies wäre aber mit der vom Senat für richtig gehaltenen entsprechenden Anwendung des § 50 Abs 2 SGB X iVm § 45 Abs 1 SGB X nicht vereinbar; denn hier ist der Ermessensrahmen weiter, so können – wie schon hervorgehoben – auch Billigkeitsgründe für ein Absehen von der Rückforderung als ausreichend angesehen werden. Hinzu kommt: § 59 BHO ist eine – vorbehaltlich spezialgesetzlicher Regelungen – dem Beitreibungsverfahren vorbehaltene Bestimmung (vgl hierzu BSG SozR 3-1300 § 48 Nr 37 S 84; § 50 Nr 17 S 49).
bb) Der Beklagte hat sich im Widerspruchsbescheid darüber hinaus zur Begründung der Rückforderungsentscheidung zwar auch auf die in den Rundschreiben des BMA vom 20. April 1993 und vom 23. November 1993 empfohlene Handhabung bezogen, die der Beklagte durch Verfügung vom 28. Juni 1993 (Geschäftsanweisung LASoz Nr 40/1993) und vom 25. November 1993 (Geschäftsanweisung LASoz Nr 77/1993) übernommen hat (vgl hierzu BSGE 77, 1, 3 f = SozR 3-3800 § 1 Nr 4); er hat jedoch die Anwendbarkeit dieser Richtlinien im vorliegenden Fall ermessensfehlerhaft verneint. Zwar konnte die Verwaltung durch Richtlinien bestimmen, unter welchen Voraussetzungen sie von einer Rückforderung absieht (sog ermessenslenkende Richtlinie). Derartige Richtlinien sollen die Entscheidungsmaßstäbe für eine sachgerechte Ausübung des Ermessens bilden (vgl hierzu Ossenbühl in Erichsen, aaO, § 6 RdNr 36), ihnen kommt allerdings kein absoluter Charakter zu (vgl hierzu Maunz/Dürig, GG, Art 3 Abs 1 RdNrn 429 ff; Ossenbühl, aaO, § 6 RdNr 50; Maurer, aaO, § 24 RdNr 31); daneben muß noch Raum für die Ausübung von Ermessen im Einzelfall verbleiben (vgl hierzu BVerfGE 78, 214, 227 ff; BSGE 73, 211, 214 = SozR 3-4100 § 55a Nr 5, § 97 Nr 1 S 9; BVerwG NJW 1991 S 650 f). Ermessenslenkende Richtlinien sind grundsätzlich keiner richterlichen Interpretation unterworfen. Der Richter hat jedoch nach den Grundsätzen der Gewaltenteilung (Art 20 Abs 2 und 3 GG) und im Hinblick auf Art 19 Abs 4 GG ua zu prüfen, ob bei der Anwendung der Richtlinien im Einzelfall der Gleichheitssatz verletzt ist, ob den Richtlinien sachliche Differenzierungskriterien zugrunde liegen und ob der durch die gesetzliche Zweckbestimmung gezogene Rahmen beachtet worden ist. Dabei ist es unerheblich, ob die Behörde sich bei der Entscheidung des Einzelfalles auf den Wortlaut berufen oder diesen interpretiert hat (vgl hierzu BVerfGE 78, 214, 227 ff; BSGE 73, 211, 214 ff = SozR 3-4100 § 55a Nr 5; BSG SozR 3-4100 § 97 Nr 1 S 9; BVerwGE 58, 45, 51; 61, 15, 17; NJW 1991 S 650 f; Ossenbühl, Verwaltungsvorschriften und Grundgesetz, S 323 ff; 533 ff).
Die hier von dem Beklagten angewendeten Richtlinien berücksichtigen die Gesichtspunkte der Billigkeit und der Verwaltungspraktikabilität. Sie tragen sowohl den Interessen der Versorgungsverwaltung in den neuen Bundesländern als auch den Interessen derjenigen Bewohner des Beitrittsgebietes Rechnung, die auf Grund eines Vorbehaltsbescheides Leistungen zu Unrecht empfangen haben. So darf nach dem Rundschreiben des BMA von einer Rückforderung abgesehen werden, wenn der Vorbehaltsbescheid vor dem 1. Februar 1993 und der endgültige Bescheid vor dem 31. März 1994 ergangen ist und der monatlich überzahlte Betrag – wie hier – 200,00 DM nicht übersteigt. Zur Begründung wird in dem Rundschreiben des BMA vom 20. April 1993 ausgeführt: „Im Hinblick auf die besonderen Umstände und Schwierigkeiten bei der Einführung des sozialen Entschädigungsrechts in den neuen Bundesländern und auf das in aller Regel hohe Alter der Antragsteller und Berechtigten und ihre wirtschaftliche Situation halte ich eine verhältnismäßig großzügige Handhabung für vertretbar. Dabei müssen auch die mangelnde Erfahrung der Bürger der ehemaligen DDR mit einer hochkomplizierten rechtsstaatlichen Ordnung, insbesondere mit einem rechtsstaatlichen Verwaltungsverfahren, und die Hindernisse, die sich demjenigen entgegenstellen, der zuverlässigen Rechtsrat suchte, berücksichtigt werden. Ich habe deshalb keine Bedenken, ohne weiteres vom Vorliegen der genannten Ermessensgesichtspunkte auszugehen und von einer Rückforderung bzw Verrechnung grundsätzlich abzusehen.” Obgleich der endgültige Bescheid nach dem in den Richtlinien genannten Stichtag, dem 31. März 1994, ergangen war, durfte sich der Beklagte aber gegenüber dem Kläger nicht darauf berufen, daß die Richtlinien auf Rückforderungen, die nach dem 31. März 1994 durch Bescheid geltend gemacht worden sind, keine Anwendung finden. Der Senat kann offenlassen, ob die Versorgungsverwaltung die Richtlinien insoweit richtig interpretiert hat. Selbst wenn das der Fall sein sollte, so wäre die Berufung auf die Richtlinien fehlerhaft. Die Richtlinien verstießen dann gegen Art 3 Abs 1 GG. Die Differenzierung nach dem Zeitpunkt des Erlasses des endgültigen Bescheides mit der Folge, daß diejenigen, bei denen – aus welchen Gründen immer – die endgültige Entscheidung über den geltend gemachten und zunächst nur vorläufig geregelten Versorgungsanspruch erst nach dem 31. März 1994 ergangen ist, die gesamten Leistungen zurückzahlen müssen, während Leistungsempfänger, die die endgültige Entscheidung schon vor dem genannten Stichtag erhalten haben, diese in vollem Umfang behalten dürfen, ist willkürlich. Für eine solche Differenzierung lassen sich keine sachgerechten Gründe finden, auch nicht aus der oben wiedergegebenen Begründung im Rundschreiben des BMA vom 20. April 1993.
Schließen die Richtlinien – wofür schon ihr Wortlaut spricht – nicht aus, alle konkreten Umstände des Einzelfalles zu prüfen, dann ist die Rückforderungsentscheidung auch deshalb fehlerhaft, weil der Beklagte sich auf die Prüfung der wirtschaftlichen Verhältnisse des Klägers beschränkt und mögliche Billigkeitsgesichtspunkte außer acht gelassen hat. So hätte in der Ermessensentscheidung die besondere Situation der Antragsteller im Beitrittsgebiet erwogen und begründet werden müssen, weshalb nicht unter diesem Gesichtspunkt bei dem Kläger ganz oder teilweise auf die Rückforderung zu verzichten ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
BSGE, 108 |
AuA 1999, 460 |
SGb 1999, 516 |
SozSi 2000, 71 |