Entscheidungsstichwort (Thema)
Berufsschadensausgleich. Berufswechsel
Orientierungssatz
Für den Anspruch auf Berufsschadensausgleich gemäß § 30 Abs 3 und 4 BVG ist es nicht erforderlich, daß der Schwerbeschädigte wegen seiner anerkannten Schädigungsfolge einen Berufswechsel vorgenommen hat (vgl BSG 1970-12-15 95).
Normenkette
BVG § 30 Abs. 3, 4 S. 1
Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Entscheidung vom 12.03.1970) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 12. März 1970 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Gründe
I
Die Beteiligten streiten um die Gewährung eines Berufsschadensausgleichs an den Kläger. Nach dem Besuch der Volksschule erlernte dieser das Schneiderhandwerk im Betrieb seines Vaters und bestand die Gesellenprüfung am 1. September 1913; 1925 legte er die Meisterprüfung mit der Note "sehr gut" ab. Seit 1929 war der Kläger als selbständiger Schneidermeister tätig; Ende März 1965 gab er seinen Betrieb auf. Der Kläger nahm am 1. Weltkrieg teil. Er bezieht eine Versorgungsrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 50 v.H., die für die Zeit von September 1959 bis Oktober 1961 wegen eines besonderen beruflichen Betroffenseins auf 60 v.H. erhöht wurde. Außerdem bezieht der Kläger seit November 1961 das Altersruhegeld aus der Handwerkerversicherung.
Am 18. Dezember 1964 beantragte der Kläger die Gewährung eines Berufsschadensausgleichs. Er gab dabei an, nach dem 1. Weltkrieg habe er den Beruf eines Zuschneiders erlernt. Diesen Beruf habe er wegen der Schädigungsfolgen wieder aufgeben müssen. Er habe nur noch täglich ca. 4 Stunden mit Unterbrechungen in seiner Wohnung als selbständiger Schneidermeister tätig sein können und wesentlich weniger verdient als ein gesunder Schneidermeister. Das Versorgungsamt (VersorgA) lehnte den Antrag des Klägers durch Bescheid vom 20. September 1965 ab. Der Widerspruch des Klägers war erfolglos (Widerspruchsbescheid des Landesversorgungsamtes - LVersorgA - Bayern vom 3. Mai 1966). Das Sozialgericht (SG) hat die Klage durch Urteil vom 16. Juli 1968 abgewiesen, das Landessozialgericht (LSG) die Berufung des Klägers durch Urteil vom 12. März 1970 zurückgewiesen. Es hat ausgeführt, der Kläger habe das Schneiderhandwerk erlernt und sei bis 1965 als selbständiger Schneidermeister tätig gewesen. Da der Kläger somit nach seinen eigenen Angaben ohne die Schädigungsfolgen derselben Berufsgruppe angehört hätte, der er tatsächlich mit den Schädigungsfolgen bis zum März 1965 angehört habe, sei § 30 Abs. 3 und 4 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) auf ihn nicht anwendbar.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Dieses Urteil wurde dem Kläger am 23. April 1970 zugestellt, der dagegen am 22. Mai 1970 Revision eingelegt und diese am 23. Juni 1970 begründet hat.
Der Kläger beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und entsprechend dem Klageantrag den Beklagten zu verurteilen, dem Kläger einen Berufsschadensausgleich unter Zugrundelegung eines Durchschnittseinkommens nach der Besoldungsgruppe A 9 zuzusprechen;
hilfsweise,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zu anderweitiger Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuverweisen.
In seiner Revisionsbegründung rügt der Kläger "die Verletzung formellen Rechts im Sinne der §§ 162 Abs. 2, 162 Abs. 1 Nr. 1, 164 Abs. 1 Nr. 3 SGG". Er trägt ferner vor, nach der Auffassung des Berufungsgerichts könnte kein Beschädigter einen Einkommensverlust gemäß § 30 Abs. 3 BVG erleiden, wenn er trotz seiner Schädigungsfolgen in seinem angestrebten Beruf tätig sei. Die Schädigungsfolgen hätten ihn, den Kläger, in seinem angestrebten und erreichten Beruf so stark im Erwerbseinkommen behindert, daß er als selbständiger Schneidermeister ein weit geringeres Einkommen als ohne die Schädigungsfolgen gehabt habe. Dieses Mindereinkommen sei aus den Steuerbescheiden der damaligen Zeit ohne weiteres zu ersehen. Schon die Tatsache, daß ihm gemäß § 30 Abs. 2 BVG eine höhere Rente gewährt worden sei, zeige, daß ihm durch die Schädigungsfolgen ein erheblicher Einkommensverlust im Sinne des § 30 BVG entstanden sei. Das LSG habe auch § 2 Abs. 3 der Durchführungsverordnung (DVO) vom 28. Februar 1968 nicht beachtet. Hinsichtlich seines Einkommensverlustes habe das Berufungsgericht entsprechende Beweise erheben müssen und insoweit §§ 103, 106 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) verletzt.
Der Beklagte beantragt,
die Revision des Klägers gegen das Urteil des 6. Senats des Bayerischen Landessozialgerichts vom 12. März 1970 - Az.: L 6/V 1032/68 - S 11/V 659/66 - als unbegründet zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil jedenfalls im Ergebnis für richtig und trägt weiter vor, ein allenfalls vorliegender Einkommensverlust des Klägers sei nicht auf die anerkannten Schädigungsfolgen, sondern auf nicht schädigungsbedingte Gesundheitsstörungen zurückzuführen.
II
Die durch Zulassung gemäß § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG statthafte Revision ist von dem Kläger frist- und formgerecht eingelegt und begründet worden (§§ 164, 166 SGG); sie ist daher zulässig. Das Rechtsmittel ist auch insoweit begründet, als es zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung führen mußte.
Der Ansicht des LSG, die Gewährung eines Berufsschadensausgleichs setze voraus, daß der Schwerbeschädigte nach der Schädigung einer anderen Berufsgruppe angehöre als derjenigen, der er ohne die Schädigung angehört hätte, kann nicht gefolgt werden. Der erkennende Senat hat zu dieser Rechtsfrage bereits in seiner Entscheidung vom 15. Dezember 1970 - 10 RV 780/69 - mit eingehender Begründung Stellung genommen; er hält auch bei einer erneuten Nachprüfung an seiner Auffassung fest (vgl. auch Urteil des 8. Senats vom 23. Juli 1970 in SozR BVG § 30 Nr. 43).
Der Anspruch des Klägers, der einen Berufsschadensausgleich für die Zeit vom 1. Januar 1964 an als laufende Leistung begehrt, richtet sich zunächst nach § 30 Abs. 3 und 4 BVG idF des Zweiten Gesetzes zur Änderung und Ergänzung des Kriegsopferrechts vom 21. Februar 1964 (BGBl I S. 85 - 2. NOG -) und für die Zeit vom 1. Januar 1967 an nach der gleichen Vorschrift idF des 3. NOG vom 28. Dezember 1966 (BGBl I S. 750). Nach § 30 Abs. 3 BVG idF des 2.NOG erhält nach Anwendung des Abs.2 einen Berufsschadensausgleich, wer als Schwerbeschädigter durch die Schädigungsfolgen beruflich insoweit besonders betroffen ist, als er einen Einkommensverlust von monatlich mindestens 75,- DM hat. Nach § 30 Abs. 3 BVG idF des 3.NOG erhalten Schwerbeschädigte, deren Erwerbseinkommen durch die Schädigungsfolgen gemindert ist (Einkommensverlust), nach Anwendung des Abs. 2 einen Berufsschadensausgleich in näher bestimmter Höhe. Dieser Einkommensverlust ist gemäß § 30 Abs. 4 Satz 1 BVG - diese Vorschrift hat nach dem 2. und 3. NOG eine gleichlautende Fassung -der Unterschiedsbetrag zwischen dem derzeitigen Bruttoeinkommen aus gegenwärtiger oder früherer Tätigkeit zuzüglich der Ausgleichsrente und dem höheren Durchschnittseinkommen der Berufs- oder Wirtschaftsgruppe, der der Beschädigte ohne die Schädigung nach seinen Lebensverhältnissen, Kenntnissen und Fähigkeiten und dem bisher betätigten Arbeits- und Ausbildungswillen wahrscheinlich angehört hätte.
Entgegen der Auffassung des LSG ist dem Wortlaut dieser Vorschrift nichts dafür zu entnehmen, daß ein Einkommensverlust dann nicht vorliegt, wenn der Schwerbeschädigte nach der Schädigung derselben Berufsgruppe angehört, der er auch ohne die Schädigung angehört hätte. In § 30 Abs. 4 BVG wird der Einkommensverlust nur dahingehend gesetzlich definiert, daß er in dem Unterschiedsbetrag "zwischen dem derzeitigen Bruttoeinkommen aus gegenwärtiger oder früherer Tätigkeit ... und dem höheren Durchschnittseinkommen der Berufs- oder Wirtschaftsgruppe besteht, der der Beschädigte ohne die Schädigung ... wahrscheinlich angehört hätte". Wenn in dieser Vorschrift dem "derzeitigen Bruttoeinkommen aus gegenwärtiger oder früherer Tätigkeit" zur Ermittlung des Einkommensverlustes das höhere Durchschnittseinkommen der "Berufs- oder Wirtschaftsgruppe, der der Beschädigte ohne die Schädigung ... angehört hätte", gegenübergestellt wird, so gibt dieser Wortlaut des § 30 Abs. 4 BVG keinerlei Anhalt für die Annahme, daß die "gegenwärtige Tätigkeit" in einem Gegensatz zu der "Berufs- oder Wirtschaftsgruppe, der der Beschädigte ohne die Schädigung angehört hätte", gestellt ist und daß die "gegenwärtige Tätigkeit" vom Beschädigten in einer anderen Berufs- oder Wirtschaftsgruppe ausgeübt werden muß als derjenigen, in welcher der Beschädigte eine Tätigkeit "ohne die Schädigung wahrscheinlich ausgeübt hätte".
Auch aus dem Zweck des § 30 Abs. 4 Satz 1 BVG ist nicht zu erkennen, daß - wie das LSG meint - ein Einkommensverlust nur dann ermittelt werden kann, wenn der Beschädigte ohne die Schädigungsfolgen einer anderen Berufsgruppe angehört hätte als derjenigen, der er nach der Schädigung angehört. Der § 30 Abs. 4 Satz 1 BVG enthält die Legaldefinition des Begriffs "Einkommensverlust" im Sinne des § 30 Abs. 3 BVG und bezweckt, die für die Ermittlung des Einkommensverlustes erforderlichen Berechnungsfaktoren im allgemeinen festzulegen. Durch die Bezugnahme auf das "höhere Durchschnittseinkommen" i.V.m. den nachfolgenden Sätzen ist ferner klargestellt, daß dieser Berechnungsfaktor - im Gegensatz zu dem Faktor des Bruttoeinkommens aus gegenwärtiger oder früherer Tätigkeit - nicht individuell, sondern generalisiert zu ermitteln ist. Damit wird aber nicht zum Ausdruck gebracht, daß das Gesetz den Berufsschadensausgleich nur auf die Fälle eingeschränkt sehen will, in denen der Schwerbeschädigte ohne die Schädigungsfolgen einer anderen Berufs- oder Wirtschaftsgruppe angehört hätte als derjenigen, der er tatsächlich angehört, mit anderen Worten, daß ein Berufsschadensausgleich ausgeschlossen sein soll, wenn der Schwerbeschädigte keinen Berufswechsel wegen der Schädigungsfolgen hat vornehmen müssen (s. dazu auch Urteil BSG in SozR BVG § 30 Nr. 43). Die Auffassung des Senats wird auch durch § 2 Satz 2 der DVO vom 30. Juli 1964 und § 2 Abs. 3 der DVO vom 28. Februar 1968 bestätigt, wonach die verschiedenen Berufsgruppen zur Bemessung des Durchschnittseinkommens auch dann maßgebend sind, "wenn der Beschädigte die nach diesen Vorschriften in Betracht kommende Tätigkeit ausübt". Auch nach dieser Vorschrift kann somit die Berufs- oder Wirtschaftsgruppe, der der Beschädigte jetzt angehört, mit derjenigen übereinstimmen, der der Beschädigte ohne die Schädigungsfolgen angehört hätte.
Das LSG hat somit den § 30 Abs. 4 Satz 1 BVG verletzt, so daß die Revision begründet ist. Das angefochtene Urteil war daher aufzuheben. Der Senat konnte in der Sache selbst nicht abschließend entscheiden, weil es an ausreichenden Feststellungen hierfür fehlt. Zwar hat das LSG festgestellt, daß der Kläger-bis März 1965- selbständig tätig gewesen ist, so daß sich das Durchschnittseinkommen gemäß § 30 Abs. 4 BVG i.V.m. § 2 Buchst. c der DVO 1964 und § 2 Abs. 1 Buchst. c der DVO 1968 nach § 5 der DVOen 1964 und 1968 bemißt (vgl. auch Urteil des erkennenden Senats vom 16. September 1970 - 10 RV 627/68 -). Dem Urteil des LSG kann auch die Feststellung entnommen werden, daß der Kläger - als selbständig Tätiger mit Volksschulbildung und abgelegter Meisterprüfung - in die Besoldungsgruppe A 9 einzustufen ist. Das LSG hat jedoch keine Feststellungen darüber getroffen, ob und ggf. in welchem Umfang der Kläger in seinem Beruf als selbständiger Schneidermeister durch die Schädigungsfolgen einen wirtschaftlichen Schaden erlitten hat. Hat aber der Schwerbeschädigte das für ihn als Selbständigen nach § 5 der DVO zu bemessende Einkommen schädigungsbedingt nicht erlangen können, so ist sein tatsächliches niedrigeres Einkommen insofern von Bedeutung, als aus der Differenz zu dem höheren pauschalierten Einkommen die Berechnung des maßgebenden Einkommensverlustes zu erfolgen hat (vgl. BSG aaO).
Da der Senat somit mangels ausreichender Feststellungen in der Sache selbst noch nicht abschließend entscheiden konnte, mußte die Sache an das LSG zurückverwiesen werden (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).
Fundstellen