Entscheidungsstichwort (Thema)

Verletzung der Aufklärungspflicht. unzulässige Vorwegnahme einer möglichen Beweisaufnahme

 

Orientierungssatz

Zur Frage, inwieweit die Unterlassung der Feststellung entscheidungserheblicher Tatsachen gegen die Amtsaufklärungspflicht des Gerichts nach SGG § 103 verstößt.

 

Normenkette

SGG § 103 Fassung: 1953-09-03, § 128 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 19.06.1973; Aktenzeichen L 4 An 59/72)

SG Gelsenkirchen (Entscheidung vom 16.02.1972; Aktenzeichen S 7 An 2/69)

 

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 19. Juni 1973 aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

I

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Klägerin die Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit zusteht (§ 23 des Angestelltenversicherungsgesetzes - AVG -).

Die im Jahre 1918 geborene Klägerin war mit Unterbrechungen von 1934 bis 1968 zunächst als Lehrling, sodann als Verkäuferin und Filialleiterin beschäftigt. Ihren im Mai 1968 gestellten Rentenantrag lehnte die Beklagte aufgrund des Ergebnisses der veranlaßten ärztlichen Untersuchung ab (Bescheid vom 12. Dezember 1968).

Die hiergegen gerichtete Klage hatte in den beiden Vorinstanzen keinen Erfolg. Das Landessozialgericht (LSG) kam aufgrund der von ihm angeordneten Untersuchung und Begutachtung der Klägerin im Klinikum der Gesamthochschule E zu dem Ergebnis, daß bei der Klägerin eine ganze Reihe von Gesundheitsstörungen bestehe, wobei das Hauptleiden die Übergewichtigkeit sei. Insoweit habe der Geschäftsführende Direktor der Medizinischen Klinik und Poliklinik Prof. Dr. A in seinem internistischen Gutachten vom 20. Februar 1973 ausgeführt, zur Frage der Leistungsfähigkeit könne erst dann endgültig Stellung genommen werden, wenn die Ursache der Adipositas in einem längeren Heilverfahren geklärt worden sei. Da die Klägerin aber die Durchführung eines solchen, für sie zumutbaren Heilverfahrens vor Beendigung des Rechtsstreits abgelehnt habe und infolge dieser Weigerung dem Senat weitere Ermittlungen im Sinne des Vorschlags von Prof. A nicht möglich seien, müsse die Berufsunfähigkeit der Klägerin nach den bisher gewonnenen ärztlichen Erkenntnissen und Feststellungen verneint werden. Danach sei die Klägerin imstande, zumindest als Kassiererin noch mehr als halbtägig zu arbeiten. Derartige Tätigkeiten seien nach der bisherigen Beurteilung des Internisten Prof. A nicht ausgeschlossen. Auch nach Auffassung des gehörten Orthopäden Prof. Sch sei die Klägerin durchaus noch in der Lage, leichte, nicht vorwiegend im Stehen auszuführende Arbeiten, mehr als vier Stunden täglich zu leisten. Schließlich ergebe sich eine weitere Einschränkung auch nicht aus dem Zusatzgutachten des Direktors der Hals-Nasen-Ohrenklinik Prof. Dr. W. Eine Tätigkeit als Kassiererin sei der Klägerin auch von ihrer Ausbildung und bisherigen Berufstätigkeit her zuzumuten. Für diese Tätigkeit, auch sofern sie als Teilzeitarbeit verrichtet werden solle, seien endlich auch Arbeitsplätze in dem erforderlichen Ausmaß vorhanden. Angesichts der zahlreichen auf stationären Untersuchungen basierenden Gutachten habe keine Veranlassung bestanden, dem Hilfsantrag der Klägerin auf Anhörung des Stadtarztes von Gelsenkirchen zu entsprechen. Das LSG hat die Revision nicht zugelassen (Urteil vom 19. Juni 1973).

Der Klägerin ist mit Beschluß des erkennenden Senats vom 17. Januar 1974 - ihrem Prozeßbevollmächtigten zugestellt am 29. Januar 1974 - für das Verfahren vor dem Bundessozialgericht (BSG) das Armenrecht bewilligt worden. Mit der sodann am 21. Februar 1974 eingelegten und am 21. März 1974 begründeten Revision rügt die Klägerin wesentliche Verfahrensmängel, die sie auf eine Verletzung des § 103 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) durch das LSG stützt.

Die Klägerin beantragt, das angefochtene Urteil sowie das Urteil des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 16. Februar 1972 aufzuheben und die Beklagte in Abänderung ihres Bescheides vom 12. Dezember 1968 zu verpflichten, die Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit zu gewähren; hilfsweise beantragt sie die Aufhebung des angefochtenen Urteils und die Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG.

Die Beklagte beantragt, die Revision als unzulässig zu verwerfen.

II

Die Klägerin war ohne Verschulden verhindert gewesen, die Revisionsfrist (§ 164 Abs. 1 Satz 1 SGG) einzuhalten, weil ihr das innerhalb der Frist beantragte Armenrecht erst nach deren Ablauf bewilligt wurde. Da die Revisionseinlegung durch den Prozeßbevollmächtigten der Klägerin binnen eines Monats nach Wegfall des Hindernisses - der Zustellung des Armenrechtsbeschlusses - erfolgte, ist der Klägerin gemäß § 67 Abs. 1, Abs. 2 Satz 4 SGG die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand auch ohne Antrag zu bewilligen (vgl. BSG in SozR Nr. 9 zu § 67 SGG). Die Revisionsbegründung ist sodann innerhalb eines Monats nach Einlegung der Revision beim BSG eingegangen. Für diesen Fall kann offen bleiben, ob der Lauf der Revisionsbegründungsfrist erst mit der Zustellung eines Beschlusses über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Revisionseinlegungsfrist beginnt (so Beschluß des Großen Senats des BVerwG vom 30.11.1970 in NJW 1971, 294, 296) oder ob dem Revisionskläger für die Begründung der Revision nur ein Monat nach Einlegung der nachgeholten Revision zur Verfügung steht (so die ständige Rechtsprechung des BSG seit BSG 8, 207; vgl. auch BSG in SozR Nr. 20 zu § 67 SGG). Auch nach der - strengeren - bisherigen Rechtsauffassung des BSG ist nämlich der Klägerin gegenüber der Versäumung der Frist für die Begründung der Revision ebenfalls die Wiedereinsetzung zu gewähren, so daß die Revision fristgerecht eingelegt und begründet worden ist.

Die Revision ist gemäß § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG auch statthaft, weil der formgerecht im Sinne von § 164 Abs. 2 Satz 2 SGG gerügte wesentliche Verfahrensmangel einer Verletzung des § 103 SGG vorliegt.

Das LSG geht selbst davon aus, daß der Sachverhalt medizinisch noch nicht geklärt ist. Gewiß war hierfür wesentlich die Weigerung der Klägerin (die sie übrigens in der Revisionsinstanz aufgegeben hat - vgl. hierzu Niederschrift über die Sitzung am 16. Juli 1974 -), sich einem Heilverfahren zu unterziehen. Andererseits hätte das LSG gerade bei diesem Sachverhalt die von der Klägerin beantragte gutachtliche Äußerung des Stadtarztes des Gesundheitsamtes Gelsenkirchen, der sie nach ihrem Vorbringen schon seit vier Jahren betreut, einholen oder zumindest die sie betreffenden ärztlichen Unterlagen des Gesundheitsamtes beiziehen müssen.

Auch sind die der Entscheidung des LSG zugrunde gelegten Gutachten unvollständig, weil Prof. Dr. Sch bereits "bei rein orthopädischer Betrachtung" der Klägerin - entsprechend der Frage Nr. 3 der Beweisanordnung des LSG vom 28. Juni 1972 - nur noch eine leichte Arbeit von mehr als vier aber weniger als acht Stunden täglich zugemutet und Prof. Dr. A zu dem zeitlichen Ausmaß der auf internistischem Fachgebiet vorliegenden Gesundheitsstörungen bisher überhaupt nicht Stellung genommen hat.

Zu Recht bemängelt die Revision weiter, daß das LSG die für die Klägerin noch in Betracht kommenden Arbeitsmöglichkeiten nicht geklärt hat. Aus den Ausführungen im angefochtenen Urteil ist zwar erkennbar, daß das LSG bei der von ihm angenommenen Einsatzfähigkeit der Klägerin für mehr als halbschichtige bis unter vollschichtige Tätigkeiten als Kassiererin mit der Entscheidung des Großen Senats des BSG vom 11. Dezember 1969 (BSG 30, 167) das Vorhandensein entsprechender Arbeitsplätze zur Beurteilung der Berufsunfähigkeit im Sinne des § 23 Abs. 2 AVG für erheblich hält. Das LSG hat dazu aber lediglich ausgeführt, daß für die Klägerin geeignete Teilzeitarbeitsplätze "in dem erforderlichen Ausmaß" vorhanden seien. Das LSG hat indes nicht dargelegt, worauf es diese Überzeugung stützt. Es hätte klären müssen, ob die tatsächlichen Verhältnisse, insbesondere im Hinblick auf die festgestellten erheblichen Einschränkungen der Erwerbsfähigkeit der Klägerin, in dem für sie in Betracht kommenden Arbeitsfeld des gesamten Bundesgebietes (vgl. Beschluß des Großen Senats des BSG aaO) eine derartige Annahme rechtfertigen. Zwar entscheidet das Gericht gemäß § 128 Abs. 1 Satz 1 SGG nach seiner aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Die Vorschrift verbietet es aber, das Ergebnis einer möglichen Beweisaufnahme vorwegzunehmen und von der Feststellung entscheidungserheblicher Tatsachen abzusehen. Das LSG hat dies nicht beachtet; es hat damit - wie die Revision zutreffend rügt - seine Pflicht, den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen (§ 103 SGG), verletzt.

Die Revision ist wegen der aufgezeigten Mängel im Verfahren des LSG zulässig. Sie ist auch insoweit begründet, als das angefochtene Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit an das LSG zurückverwiesen werden muß (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG). Der Senat kann nicht in der Sache selbst entscheiden, weil die bisherigen Feststellungen des LSG zur abschließenden Beurteilung des geltend gemachten Rentenanspruchs nicht ausreichen.

Die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens bleibt der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1646518

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