Leitsatz (amtlich)
Verfolgungszeiten im Sinne des "Gesetzes über die Behandlung der Verfolgten des Nationalsozialismus in der Sozialversicherung" stehen hinsichtlich der Gewährung von Steigerungsbeträgen nach WehrmachteinsatzV RV § 3 Abs 2 Beitragszeiten gleich. Neben den Steigerungsbeträgen für Kriegsdienstzeiten (WehrmachteinsatzV RV § 3 Abs 1) können Steigerungsbeträge für Verfolgungszeiten gewährt werden.
Normenkette
WehrmVG § 3 Abs. 1 Fassung: 1939-10-13, Abs. 2 Fassung: 1939-10-13; NVG § 1 Fassung: 1949-08-22
Tenor
Das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 11. Dezember 1958 wird insoweit aufgehoben, als der Berufung der Beklagten stattgegeben wurde. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Wiesbaden vom 10. April 1958 wird zurückgewiesen. Im übrigen wird die Revision zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger die Hälfte der außergerichtlichen Kosten des Berufungs- und Revisionsverfahrens zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
Der Kläger erhält seit Juli 1956 aus der Rentenversicherung der Angestellten (AV.) eine Rente wegen Berufsunfähigkeit. Er ist als Verfolgter des Nationalsozialismus im Sinne des "Gesetzes über die Behandlung der Verfolgten des Nationalsozialismus in der Sozialversicherung" ( VerfolgtenG ) vom 22. August 1949 anerkannt, weil er wegen seiner politischen Haltung im Mai 1933 aus seinem damaligen Arbeitsverhältnis entlassen wurde und in der Folgezeit kein gleichwertiges Arbeitsverhältnis eingehen konnte (Bescheid des Regierungspräsidenten in W vom 21.4.1952). Von August 1939 bis Mai 1945 war er Soldat. Bei der ersten Berechnung seiner Rente hat ihm die Beklagte für die Zeit von Juni 1933 bis Mai 1945 für 144 Monate Steigerungsbeträge aufgrund des VerfolgtenG angerechnet, später die Rentenberechnung nach dem mutmaßlichen Arbeitsverdienst während dieser Zeit erneuert (Bescheide vom 6.11.1956 und 24.10.1957). Zuvor hatte bereits die Landesversicherungsanstalt (LVA.) Hessen, die damals die Aufgaben der AV. für ihren Bezirk mit wahrnahm, anerkannt, daß für diese Zeit Steigerungsbeträge nach dem VerfolgtenG zu gewähren seien (Ersatzzeitschein vom 21.5.1953). Der Kläger erstrebt neben diesen Steigerungsbeträgen weitere Steigerungsbeträge als Entschädigung für die Zeit seines Kriegsdienstes von August 1939 bis Mai 1945 und verlangt außerdem, daß seine Rente -anstatt nach seinem tatsächlich während der Jahre 1946 bis 1952 erzielten Arbeitsverdienstentsprechend dem als mutmaßlich ermittelten Jahresarbeitsverdienst von 7.200,- DM berechnet werde, weil sein Einkommen bis Ende 1952 diesen Betrag nicht erreicht habe. Die Beklagte hält beide Ansprüche des Klägers für unbegründet. Sie ist der Meinung, daß für einen bestimmten Zeitraum, für den tatsächlich keine Beiträge entrichtet wurden, aus Ersatztatbeständen - einmal politische Verfolgung und zum anderen Kriegsdienst - nicht nebeneinander Steigerungsbeträge gewährt werden dürfen und daß deshalb die Zeit von August 1939 bis Mai 1945 als Kriegsdienstzeit und nicht als Verfolgungszeit zu werten sei; auf jeden Fall sei aber für den Kläger die Zeit der politischen Verfolgung im Mai 1945 beendet gewesen, so daß sich der aufgrund des VerfolgtenG ermittelte mutmaßliche Arbeitsverdienst nicht über Mai 1945 hinaus rentensteigernd auswirken könne. Die Beklagte glaubt, an den von der LVA. Hessen ausgestellten Ersatzzeitschein über die Anrechnung einer Verfolgtenzeit von Juni 1933 bis Mai 1945 nicht gebunden zu sein, weil dieser bei der Erteilung des endgültigen Bescheids überprüft und ggf. berichtigt werden müßte. Ihr eigener Bescheid vom 6. November 1956, der ebenfalls von einer Verfolgungszeit von Juni 1933 bis Mai 1945 ausgehe, enthalte insoweit lediglich eine unrichtige Begründung; richtigerweise hätte die Zeit von August 1939 bis Mai 1945 als Kriegsdienstzeit und nicht als Verfolgungszeit anerkannt und bezeichnet werden müssen.
Der Kläger errang vor dem Sozialgericht (SG.) Wiesbaden einen Teilerfolg; die Beklagte wurde verpflichtet, neben den Steigerungsbeträgen für die Verfolgtenzeit (Juni 1933 bis Mai 1945) auch für die Kriegsdienstzeit (August 1939 bis Mai 1945) Steigerungsbeträge anzurechnen, im übrigen wurde die Klage abgewiesen (Urteil vom 10.4.1958). Das Hessische Landessozialgericht (LSG.) wies dagegen die Klage im vollen Umfang ab; es ließ die Revision zu (Urteil vom 11.12.1958).
Der Kläger legte gegen das ihm am 27. Februar 1959 zugestellte Urteil des LSG. am 23. März 1959 Revision ein und beantragte, unter Aufhebung des Urteils des Hessischen LSG. das Urteil des SG. Wiesbaden dahin zu ändern, daß die Beklagte auch verpflichtet werde, bei der Rentenberechnung für die Jahre 1946 bis 1952 Steigerungsbeträge nach einem Jahresarbeitsverdienst von 7.200,- DM zugrundezulegen. Er begründete die Revision am 17. April 1959 mit der Rüge, das Berufungsgericht habe bei seiner Entscheidung die Vorschriften in den §§ 3 und 4 VerfolgtenG , § 3 der "Verordnung über die Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestellten während des besonderen Einsatzes der Wehrmacht" vom 13. Oktober 1939 (VO v. 13.10.1939) und § 77 Sozialgerichtsgesetz (SGG) nicht richtig angewandt.
Die Beklagte beantragte, die Revision zurückzuweisen.
Die Revision ist zulässig und zum Teil begründet.
In der Rentenversicherung werden einem Versicherten sowohl für die Zeiten einer politischen Verfolgung als auch für die Kriegsdienstzeiten während des zweiten Weltkriegs Steigerungsbeträge gewährt (§§ 3, 4 Abs. 1 VerfolgtenG ; § 3 Abs. 1 VO v. 13.10.1939). Sind für die genannten Zeiten Beiträge entrichtet worden, so werden die Steigerungsbeträge für diese Beiträge daneben gewährt (§ 4 Abs. 2 VerfolgtenG ; § 3 Abs. 2 VO v. 13.10.1939). Die Teilnahme eines Versicherten als Soldat am zweiten Weltkrieg wird - abgesehen von den Angehörigen des öffentlichen Dienstes, für die eine Sonderregelung galt, - in jedem Fall mit Steigerungsbeträgen vergütet. Dieser Vorteil stellt eine Anerkennung für das Opfer der Kriegsdienstleistung dar. Der Kläger hat deshalb - unabhängig von seiner Stellung als Verfolgter - ein Anrecht darauf, Steigerungsbeträge für die Zeit seines Einsatzes als Soldat zu erhalten. Bei der Rentenberechnung ist deshalb die Zeit von August 1939 bis Mai 1945 zunächst entsprechend der VO v. 13.10.1939 und ihrer Ergänzungsverordnung vom 8. Oktober 1941 zu bewerten. Hiervon geht - entgegen ihrem Bescheid vom 6. November 1956 - nunmehr auch die Beklagte aus, wie sich aus ihrer Revisionserwiderung ergibt. Neben diesen Steigerungsbeträgen werden etwaige Beiträge, die für die gleiche Zeit entrichtet worden sind, rentensteigernd berücksichtigt. Der Kläger hat nun während seines Kriegsdienstes keine Beiträge geleistet, er ist jedoch so zu behandeln, als ob er während des in Frage kommenden Zeitraums tatsächlich Beiträge geleistet hätte.
Diese besondere Rechtsposition ergibt sich für den Kläger aus seiner Eigenschaft als Verfolgter des Nationalsozialismus. Der Kläger ist auch während seiner Soldatenzeit Verfolgter im Sinne des VerfolgtenG geblieben. Die gegenteilige Ansicht des LSG. und der Beklagten ist nicht haltbar. Über die Verfolgteneigenschaft entscheidet allein die zuständige Entschädigungsbehörde (§ 9 VerfolgtenG mit den insoweit übereinstimmenden Durchführungsvorschriften der Länder; § 4 Abs. 2 der hessischen Durchführungsverordnung vom 26.6.1951). Das ist für den Kläger der Regierungspräsident in Wiesbaden. Dieser hat durch seinen Bescheid vom 21. April 1952 die Zeit von Mai 1933 bis Mai 1945 als Verfolgungszeit anerkannt. Tatsächlich wirkte sich der erzwungene Verlust des Arbeitsplatzes für den Kläger auch noch während der Kriegsdienstzeit schädigend aus. Er war schlechter gestellt als andere Soldaten, weil diesen ihr bisheriger Arbeitsplatz grundsätzlich erhalten blieb und ihnen auch ein günstigerer Familienunterhalt gewährt wurde (vgl. Verordnung über Maßnahmen auf dem Gebiet des Arbeitsrechts vom 1.9.1939 und das Einsatz-Familienunterhaltsgesetz vom 26.6.1940 mit seinen Durchführungsverordnungen). Die Verfolgteneigenschaft kann deshalb nicht mit Recht bestritten werden. War aber ein Versicherter Verfolgter, so ist er in der Rentenversicherung so zu behandeln, als ob er während der Verfolgungszeit rentenversicherungspflichtig beschäftigt geblieben und für ihn Beiträge entrichtet worden wären. Nach der Ansicht des Senats ergibt sich diese Folgerung aus der Sonderstellung, die den Verfolgten durch das VerfolgtenG und im Zusammenhang damit durch das allgemeine Entschädigungsrecht, zu dem das VerfolgtenG inhaltlich und ideenmäßig gehört (vgl. BSG. 10 S. 113), eingeräumt worden ist. Das VerfolgtenG strebt auf dem Gebiet der Rentenversicherung eine uneingeschränkte Wiedergutmachung an und stellt die Verfolgten denen gleich, die -anstatt eine Verfolgung zu erleiden- während dieser Zeit eine beitragspflichtige Beschäftigung innehatten (vgl. BSG. Urteil vom 16.9.1960 - 1 RA 38/60 -). Daraus ergibt sich, daß der Kläger wie ein Versicherter zu behandeln ist, für den während der Kriegsdienstzeit Beiträge entrichtet wurden. Wie dieser Versicherte hat auch der Kläger einen Anspruch darauf, Steigerungsbeträge aus zwei Rechtsgründen nebeneinander zu erhalten.
Der Einwand der Beklagten, einem Versicherten könne eine bestimmte Zeit aus Ersatztatbeständen heraus bei der Rentenberechnung nur einmal bewertet werden, mag aus der Sicht der Rentenversicherung her berechtigt sein, er trifft jedoch dann nicht zu, wenn es sich bei dem Versicherten um einen Verfolgten und um die Bewertung seiner Verfolgungszeit handelt. Die Verfolgten des Nationalsozialismus nehmen in der Rentenversicherung eine Rechtsstellung eigener Art ein, die nicht an den üblichen Grundsätzen der Rentenversicherung gemessen werden kann. Die Vergünstigungen, die ihnen zugestanden worden sind, dürfen nicht deswegen geschmälert werden, weil sie außerhalb des herkömmlichen Systems der Rentenversicherung liegen. Aus Einwänden in dieser Richtung lassen sich deshalb, wie der Senat in seiner schon erwähnten Entscheidung (BSG. 10 S. 113) näher erläutert hat, keine zwingenden Schlüsse zu Ungunsten der Verfolgten ziehen.
Bei dieser Sach- und Rechtslage braucht die Frage nicht entschieden zu werden, ob die Beklagte an den Ersatzzeitschein der LVA. Hessen über die Anrechnung der Verfolgungszeit bis Mai 1945 und an die inhaltsgleiche Erklärung in ihrem eigenen Bescheid auch dann gebunden bliebe (§ 77 SGG), wenn diese Bescheide insoweit fehlerhaft wären. Nach der Auffassung des Senats sind die Bescheide nicht fehlerhaft, sondern entsprechen der Gesetzeslage.
Der Antrag des Klägers, ihm auch für die Jahre 1946 bis 1952 günstigere Steigerungsbeträge - als geschehen - zu gewähren, ist jedoch unbegründet. Einen Verfolgten, der wegen seiner politischen Haltung sein Arbeitsverhältnis aufgeben mußte, können Zeiten einer etwaigen Minderentlohnung, die nach dem Zusammenbruch der nationalsozialistischen Herrschaft, also nach Mai 1945, liegen, nicht mehr als Entschädigungszeiten in der Rentenversicherung angerechnet werden. Das VerfolgtenG nennt zwar keinen Endtermin, bis zu dem hin Zeiten der Arbeitslosigkeit oder der Minderentlohnung als Verfolgungszeiten berücksichtigt werden dürfen, doch war nach dem Zusammenbruch die ursprüngliche Verfolgungsmaßnahme nicht mehr die bestimmende Ursache für eine etwaige Schlechterbezahlung, so daß in der Regel zu dieser Zeit der notwendige Zusammenhang zwischen der erzwungenen Aufgabe des Arbeitsverhältnisses und der Minderentlohnung verloren ging. Mit dem Verlust des wesentlich ursächlichen Zusammenhangs enden in der Sozialversicherung, wie das Bundessozialgericht bereits früher klargestellt hat (BSG. 10 S. 173), auch die Zeiten der politisch bedingten Schlechterstellung. Die Beklagte und die Vorinstanzen haben es deshalb mit Recht abgelehnt, bei der Festsetzung der Steigerungsbeträge für die Jahre 1946 bis 1952 von einem anderen als dem nachgewiesenen Jahresarbeitsverdienst auszugehen.
Das Urteil des SG. ist somit im Ergebnis richtig und im Revisionsverfahren wiederherzustellen (§ 170 Abs. 1 und 2. SGG). Aus den Gründen dieses Urteils ergibt sich, daß die Beklagte nicht, wie es in der Entscheidungsformel heißt, verurteilt wurde, die Zeit von August 1939 bis Mai 1945 als Ersatzzeit anzuerkennen, sondern daß die Beklagte verpflichtet worden ist, für diese Zeit weitere Steigerungsbeträge anzurechnen.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen