Entscheidungsstichwort (Thema)
Berufungsausschluß
Orientierungssatz
Eine einmalige Leistung ist ein Geschehen, das sich seiner Natur nach in einer bestimmten kurzen Zeitspanne abspielt und im wesentlichen in einer einzigen Leistung erschöpft. Diese Merkmale sind im Falle des Anspruchs auf Abfindung nach § 615 Abs 1 RVO erfüllt (vgl BSG 1955-12-21 3 RK 21/55 = BSGE 2, 135).
Normenkette
RVO § 615 Abs. 1; SGG § 144 Abs. 1 Nr. 1
Verfahrensgang
LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 11.01.1968) |
SG Osnabrück (Entscheidung vom 01.03.1967) |
Tenor
Die Revision gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 11. Januar 1968 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
I
Die Klägerin war mit dem Bauingenieur B Sch (S.) verheiratet, der am 14. Mai 1963 mit seinem Pkw tödlich verunglückt ist. Sie begehrt von der Beklagten Hinterbliebenenentschädigung aus der gesetzlichen Unfallversicherung. Im September 1965 hat sie wieder geheiratet.
S. war Leiter der beiden von der Tiefbauunternehmung Gebr. E GmbH (O) in der Nähe von A und bei J unterhaltenen Baustellen. Außer seiner Familienwohnung in O bewohnte er ein Zimmer in A (A.), ca 500 m von der Baustelle J entfernt. Am Montag, dem 13. Mai 1963, war S. von O aus nach A gefahren und führte mit dem für die dortige Baustelle verantwortlichen Schachtmeister Vermessungs- und Absteckarbeiten durch, die gegen 16 Uhr wegen schlechten Wetters abgebrochen wurden. Zwischen 16.30 und 17 Uhr traf er auf der Baustelle J ein und suchte gegen 19 oder 19.30 Uhr mit dem für die Baustelle zuständigen Schachtmeister W eine Kantine auf, aß wie üblich zu Abend und nahm 2 Glas Weinbrand zu sich. Zusammen mit W verließ er die Kantine gegen 20.15 Uhr. Es ist ungeklärt, wo er sich anschließend am Abend und in der Nacht aufhielt. Am Vormittag des 14. Mai 1963 gegen 5 Uhr geriet S. mit seinem Pkw auf der von J nach A führenden Bundesstraße aus ungeklärter Ursache auf den rechten Grünstreifen und prallte dort nach etwa 45 m gegen einen Straßenbaum; er starb kurz nach dem Unfall; eine Blutprobe ergab eine auf den Unfallzeitpunkt errechnete Blutalkoholkonzentration (BAK) von 0,6 bis 0,7 0/00.
Durch Bescheid vom 18. Februar 1964 lehnte die Beklagte die Gewährung von Entschädigungsleistungen ab, weil die Voraussetzungen eines Arbeitsunfalls nicht gegeben seien; es sei nicht festzustellen, wo S. sich in der Nacht vom 13. zum 14. Mai 1963 aufgehalten habe; in seiner Familienwohnung in O oder in seiner Unterkunft in A. habe er nicht übernachtet; daher müsse angenommen werden, daß er die Nacht vor dem Unfall aus persönlichen Gründen an anderer Stelle verbracht, dabei Alkohol zu sich genommen und keinen oder nur wenig Schlaf gefunden habe; der Beweis des ersten Anscheins spreche dafür, daß S. infolge nicht betriebsbedingter Übermüdung und Alkoholbeeinflussung am Steuer seines Wagens eingeschlafen sei; dies werde durch den Unfallhergang bestätigt; Übermüdung und Alkoholeinfluß seien die rechtlich allein wesentliche Unfallursache gewesen.
Das Sozialgericht (SG) Osnabrück hat Beweis erhoben durch Einholung eines schriftlichen Gutachtens über die Höhe der BAK im Unfallzeitpunkt und durch Vernehmung mehrerer Zeugen, u. a. des Schachtmeisters W und des Polizeimeisters H, der die Unfalluntersuchung durchgeführt hat. Durch Urteil vom 1. März 1967 hat das SG dem Antrag der Klägerin entsprechend die Beklagte verurteilt, der Klägerin Witwenrente vom 14. Mai 1963 bis zum 30. September 1965, Überbrückungshilfe, Sterbegeld und Witwenabfindung zu gewähren. Es ist davon ausgegangen, daß eine andere Unfallursache als Übermüdung infolge Alkoholgenusses und fehlenden Schlafs nicht ersichtlich sei; die Alkoholbeeinflussung könne als die rechtlich allein wesentliche Ursache des Unfalls nicht angesehen werden; die Behauptung der Beklagten, die Übermüdung sei nicht betriebsbedingt gewesen, sei unbewiesen geblieben; nach den Grundsätzen der objektiven Beweislast habe die Beklagte die Folgen der Beweislosigkeit zu tragen.
Mit der - vom SG nicht zugelassenen - Berufung hat die Beklagte geltend gemacht, das SG habe seiner Sachaufklärungspflicht nicht genügt. Im einzelnen hat sie vorgetragen:
Die Aussage des Polizeimeisters H, am Vormittag des Unfalltages habe ihm ein Vorarbeiter der Firma E - vermutlich der Zeuge W - erklärt, S. habe am Vorabend erst gegen 22 Uhr die Baustelle in J verlassen, sodann sein Zimmer aufsuchen und anschließend noch mit dem Pkw wegfahren wollen, stehe in Widerspruch zu der Bekundung des Schachtmeisters W, er habe sich gegen 20.15 Uhr von S. getrennt. Das SG hätte Ermittlungen darüber anstellen müssen, ob H tatsächlich am Unfalltag mit W oder aber mit einem anderen Betriebsangehörigen der Firma E gesprochen habe. Falls es sich um W gehandelt habe, hätte das SG diesem die Aussage des Zeugen H zur Unterstützung des Gedächtnisses vorhalten müssen; es lasse sich nicht ausschließen, daß W sich dann wieder an die Einzelheiten des Abends vor dem Unfalltage erinnert hätte. Auf diese Weise wäre eine Klärung der Frage möglich gewesen, wo und auf welche Weise S. den späten Abend und die Nacht vor dem Unfall verbracht habe. Durch die Vernehmung eines Verkehrssachverständigen hätte das SG ferner Aufklärung über die Unfallursache erreichen können.
Durch Urteil vom 11. Januar 1968 hat das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen die Berufung verworfen. Zur Begründung ist im wesentlichen ausgeführt: Die Unzulässigkeit des Rechtsmittels ergebe sich hinsichtlich des Anspruchs auf Hinterbliebenenrente aus § 145 Nr. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG), hinsichtlich des Anspruchs auf Überbrückungsgeld aus § 144 Abs. 1 Nr. 2 SGG und hinsichtlich der Ansprüche auf Sterbegeld und Heiratsabfindung aus § 144 Abs. 1 Nr. 1 SGG. Die von der Beklagten gerügten Verfahrensmängel lägen nicht vor. Das SG habe die Sachaufklärungspflicht nicht verletzt. Es habe keinen berechtigten Zweifel daran haben müssen, daß es sich bei dem von H angegebenen Vorarbeiter um den Schachtmeister W gehandelt habe. Da dieser als Zeuge bereits eindeutig und unmißverständlich bekundet hatte, was er über den Aufenthalt des S. am Abend und in der Nacht vor dem Unfall wisse, habe das SG ihn nicht nochmals vernehmen müssen. Zu der Vernehmung eines Verkehrssachverständigen habe sich das SG ebenfalls nicht gedrängt fühlen müssen, da hierdurch eine Klärung der vom Erstgericht für entscheidungserheblich angesehenen Frage, ob die Übermüdung auf betriebsbedingten oder betriebsfremden Gründen beruhe, nicht hätte erbracht werden können.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Die Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt und es im wesentlichen wie folgt begründet: Das LSG habe die Berufung jedenfalls insoweit zu Unrecht für unzulässig erachtet, als sie den Streit um die Witwenabfindung betreffe; es handele sich nicht um eine einmalige Leistung im Sinne des § 144 Abs. 1 Nr. 1 SGG. Während nach altem Recht (§ 588 der Reichsversicherungsordnung - RVO - aF) auf Grund der Anerkennung des Anspruchs auf Witwenabfindung keine weitere Rechtsposition der Witwe mehr bestanden habe, könne nach § 615 Abs. 2 Satz 1 RVO trotz Gewährung der Witwenabfindung der Rentenanspruch unter Umständen wiederaufleben; gegenüber Rentenwiedergewährungsansprüchen könne der Versicherungsträger, der zur Zahlung der Witwenabfindung verurteilt worden sei, das Vorliegen eines Arbeitsunfalls nicht mehr in Zweifel ziehen. Die Revision meint ferner, das SG habe gegen die Beweislastregel verstoßen; da offen geblieben sei, ob die Fahrt des Verunglückten im Zeitpunkt des Unfalls mit der versicherten Tätigkeit in einem rechtlich wesentlichen Zusammenhang gestanden habe, fehle es an einer anspruchsbegründenden Voraussetzung, den Nachteil davon trage die Klägerin.
Die Beklagte beantragt,
unter Aufhebung des Berufungsurteils sowie des Urteils des SG Osnabrück vom 1. März 1967 die Klage abzuweisen,
hilfsweise,
unter Aufhebung des Berufungsurteils die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuverweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision der Beklagten zu verwerfen,
hilfsweise,
sie zurückzuweisen.
II
Die durch Zulassung statthafte (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG) Revision ist nicht begründet.
Das LSG hat die Berufung der Beklagten zu Recht in vollem Umfang als ausgeschlossen erachtet. Bei dem nach § 589 Abs. 1 Nr. 1 RVO in Höhe des zwölften Teils des Jahresarbeitsverdienstes - mindestens im Betrage von 400,- DM - zu gewährenden Sterbegeld handelt es sich um einen Anspruch auf eine einmalige Leistung im Sinne des § 144 Abs. 1 Nr. 1 SGG, bei der Überbrückungshilfe, die einer Witwe nach § 591 RVO für die ersten drei Monate nach dem Tode des Versicherten in Höhe des Unterschiedsbetrages zwischen der Witwenrente (§ 590) und der Vollrente (§ 581 Abs. 1 Nr. 1 RVO) zusteht, um einen Anspruch auf wiederkehrende Leistungen für einen Zeitraum bis zu 3 Monaten im Sinne des § 144 Abs. 1 Nr. 2 SGG. Soweit die Berufung den Anspruch der Klägerin auf Witwenrente bis zu ihrer Wiederverheiratung betrifft, ergibt sich der Ausschluß des Rechtsmittels aus § 145 Nr. 2 SGG.
Ob es Fälle gibt, in denen diese Vorschrift nicht anwendbar ist, weil die Rente für aufgelaufene Zeiträume dem Grunde nach streitig ist (vgl. Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Stand: Februar 1959, Band I S. 250 k ff), kann dahinstehen. Denn nach Lage dieses Falles ist kein Raum für die Annahme, daß die Klägerin über den Wortlaut ihres Klageantrags hinaus den Witwenrentenanspruch, der nach § 590 Abs. 1 RVO mit der Wiederverheiratung erlischt, dem Grunde nach auch für die Zukunft festgestellt wissen will. Auch hinsichtlich des Anspruchs auf die Abfindung nach § 615 Abs. 1 RVO ist die Berufung ausgeschlossen, weil es sich insoweit um einen Anspruch auf eine einmalige Leistung handelt (§ 144 Abs. 1 Nr. 1 SGG). Eine einmalige Leistung in diesem Sinne ist ein Geschehen, das sich seiner Natur nach in einer bestimmten kurzen Zeitspanne abspielt und im wesentlichen in einer einzigen Leistung erschöpft (BSG 2, 135, 136). Diese Merkmale sind hier erfüllt. Die nach § 615 Abs. 1 RVO im Falle der Wiederverheiratung in Höhe des Fünffachen des Jahresbetrages der Witwenrente zu gewährende Abfindung hat die einmalige Zahlung eines Geldbetrages zum Inhalt. Entgegen der Auffassung der Revision wird der Charakter der Abfindung nach § 615 Abs. 1 RVO als einer einmaligen Leistung im Sinne des § 144 Abs. 1 Nr. 1 SGG nicht dadurch in Frage gestellt, daß der Witwenrentenanspruch unter den Voraussetzungen des § 615 Abs. 2 RVO wiederaufleben kann. Der möglicherweise wiederauflebende Witwenrentenanspruch ist ein anderer Anspruch, dessen Voraussetzungen, unabhängig von der Entscheidung über den Anspruch auf die Abfindung, selbständig zu prüfen ist. Darüber hinaus enthält die Zahlung der Abfindung nach § 615 Abs. 1 RVO in einem festen Betrag auch unter Berücksichtigung des Umstandes, daß die Witwenrente erneut beantragt werden kann, wenn die zweite Ehe aufgelöst oder für nichtig erklärt wird, kein Moment zeitlicher Dauer, das der Einmaligkeit der Leistung im Sinne des § 144 Abs. 1 Nr. 1 SGG entgegensteht.
Ein Anwendungsfall des § 150 SGG, der ungeachtet der Berufungsausschlußgründe der §§ 144, 145 SGG zur Zulässigkeit der Berufung führen könnte, liegt, wie das LSG zu Recht angenommen hat, nicht vor. Da das SG die Berufung nicht zugelassen hat (§ 150 Nr. 1 SGG) und über den ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Unfall und dem Tod des Ehemannes der Klägerin kein Streit besteht (§ 150 Nr. 3 SGG), wäre das Rechtsmittel nur zulässig, wenn die Beklagte im zweiten Rechtszug einen wesentlichen Mangel des erstinstanzlichen Verfahrens gerügt hätte, der auch tatsächlich vorliegt (§ 150 Nr. 2 SGG).
Das ist jedoch nicht der Fall.
Da die Beklagte im Berufungsverfahren eine entsprechende Rüge nicht erhoben hat, kann der Senat nicht prüfen, ob das SG - wie die Revision meint - unter Verletzung der Beweislastregel zu Unrecht der Beklagten den Nachteil davon aufgelastet hat, daß unbewiesen geblieben ist, ob eine durch nichtbetriebliche Umstände bedingte Übermüdung des Ehemannes der Klägerin zum Unfall geführt hat. Es kann deshalb auch dahinstehen, ob die unrichtige Anwendung der Grundsätze über die objektive Beweislast einen das gerichtliche Verfahren betreffenden Mangel darstellt.
Der sachlich-rechtliche Standpunkt des SG ist maßgebend dafür, ob das Gericht seine Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts verletzt hat. Für andere Unfallursachen als eine infolge Alkoholgenusses und fehlenden Schlafs hervorgerufene Übermüdung hat das SG keine Hinweise gesehen. Die nach der Auffassung des SG für die Entscheidung über die erhobenen Ansprüche rechtserhebliche Frage, ob die Übermüdung auf betriebsfremden oder betriebsbedingten Umständen beruhte, ist offengeblieben. Da hierzu ein Verkehrssachverständiger keine entscheidenden Erkenntnisse hätte beitragen können, mußte das SG sich zur Einholung eines entsprechenden Gutachtens nicht gedrängt fühlen. Es ist ferner ungeklärt geblieben, auf welche Weise der Ehemann der Klägerin den späten Abend und die Nacht vor dem Unfall verbracht hat. Das SG hat - insbesondere durch Vernehmung des Polizeimeisters H und des Schachtmeisters W - versucht, diese Frage zu klären. Entgegen dem Vorbringen der Beklagten im Berufungsverfahren mußte sich dem SG nicht die Notwendigkeit aufdrängen, den Schachtmeister W nochmals - unter Vorhalt der Aussage des Polizeimeisters H - zu vernehmen oder nach der Person zu fahnden, mit der H unmittelbar nach dem Unfall gesprochen hat. Es konnte vielmehr auf Grund des schriftlichen Berichts vom 12. September 1966 und der mündlichen Erklärung vom 1. März 1967 des Zeugen H davon ausgehen, daß dieser das Gespräch nach dem Unfall mit dem Zeugen W und nicht mit einer noch zu ermittelnden dritten Person geführt hat; es bedeutet auch keinen Verstoß gegen die Pflicht zur Erforschung des Sachverhalts, daß das SG angesichts der klaren und eindeutigen Bekundungen des Schachtmeisters W darüber, was ihm über den Aufenthalt des Ehemannes der Klägerin am Abend und in der Nacht vor dem Unfall bekannt war, diesen nicht nochmals als Zeugen gehört hat.
Die Revision war deshalb zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen