Entscheidungsstichwort (Thema)

Wegeunfall. Trunkenheit. 1,33 Promille. Blutalkohol

 

Leitsatz (redaktionell)

Ist die durch Alkoholgenuß bedingte Beeinträchtigung der Fahrtüchtigkeit die rechtlich allein wirksame Ursache des Verkehrsunfalls, so ist der Unfallversicherungsschutz auch bei einem Blutalkoholgehalt von 1,33 Promille zu versagen.

 

Normenkette

RVO § 550 S. 1 Fassung: 1963-04-30

 

Tenor

Die Revision wird unter teilweiser Aufhebung des Urteils des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 15. Juni 1966 mit der Maßgabe zurückgewiesen, daß der Klägerin zu 1.) Unfallsterbegeld zu gewähren ist.

Die Beklagte hat der Klägerin zu 1.) die außergerichtlichen Kosten sämtlicher Rechtszüge zu 1/10 zu erstatten.

 

Gründe

I

Der Ehemann der Klägerin zu 1.) und Vater der Kläger zu 2.) und 3.), der Bauingenieur J K (K.), war am 12. August 1959 von früh 7.30 Uhr an auf verschiedenen Baustellen tätig und bis abends gegen 19.00 Uhr mit Aufmessungsarbeiten beschäftigt. Danach führte er mit einigen Mitarbeitern der Baufirma in einer Gastwirtschaft eine Arbeitsbesprechung durch. Dabei wurden Bier und Wachholder getrunken. Gegen 23.55 Uhr kehrte K. mit dem ihm zur Verfügung stehenden Firmenwagen zum Lagerplatz seiner Arbeitgeberin zurück. Von hier aus trat er mit seinem eigenen Pkw die Heimfahrt nach Hause an. Nachdem er etwa 8 km zurückgelegt hatte, kam er am 13. August 1959 gegen 0.20 Uhr beim Befahren von zwei hintereinander liegenden, durch ein kurzes nur wenige Meter betragendes gerades Straßenstück miteinander verbundenen Rechtskurven von der Fahrbahn ab, streifte auf der linken Straßenseite einen Baum und prallte mit voller Wucht auf den nächsten 10 m entfernten Straßenbaum auf. Sein Fahrzeug wurde total beschädigt. K. wurde durch den Aufprall aus dem Wagen geschleudert. Er erlag um 3.00 Uhr im Krankenhaus seinen Verletzungen.

Eine am Todestag um 1.25 Uhr entnommene Blutprobe ergab, wie Prof. Dr. P, Direktor des Instituts für gerichtliche Medizin der Universität M, im Befundbericht vom 17. August 1959 ausführte, einen Blutalkoholgehalt (BAG) von 1,33 0 / 00 . In seinem auf Ersuchen der Beklagten am 27. Februar 1960 erstatteten Gutachten gelangte er zu dem Ergebnis, daß im Zeitpunkt des Unfalls ein BAG von 1,48 0 / 00 vorgelegen habe.

Die Beklagte lehnte durch Bescheid vom 22. März 1960 die Ansprüche auf Hinterbliebenenentschädigung ab, weil K. im Zeitpunkt des Unfalls infolge Alkoholeinwirkung relativ fahruntüchtig gewesen sei, es somit an dem erforderlichen inneren Zusammenhang mit der betrieblichen Tätigkeit fehle.

Das Sozialgericht (SG) Osnabrück hat durch Urteil vom 19. Februar 1964 die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides verurteilt, an die Kläger Unfallsterbegeld sowie Unfallhinterbliebenenrenten zu zahlen. Es sei nicht erwiesen, daß die bei K. vorhanden gewesene Fahruntüchtigkeit durch Alkohol die rechtlich allein wesentliche Ursache des Unfalls gewesen sei; es könne nicht ausgeschlossen werden, daß die Fahruntüchtigkeit auch auf eine Übermündung nach einem langen Arbeitstag, also auf betriebliche Umstände zurückzuführen sei.

Das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen hat über die näheren Umstände, welche zu dem Verkehrsunfall geführt haben, durch Einvernahme des Polizeibeamten, welcher nach dem Unfall die verkehrspolizeilichen Ermittlungen geführt hatte, als Zeugen, durch Anhörung des Dipl.Ing. P als Verkehrssachverständigen und von Frau Dr. D vom Institut für gerichtliche Medizin und Kriminalistik der Universität G als ärztlicher Sachverständiger sowie durch Besichtigung der Unfallstelle in Gegenwart des Zeugen und der Sachverständigen Beweis erhoben. Durch Urteil vom 15. Juni 1966 hat es die Entscheidung des Erstgerichts aufgehoben und die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt:

Nach neuen medizinischen und verkehrstechnischen Erkenntnissen hätten, wie der Senat bereits im Urteil vom 12. Oktober 1965 entschieden habe, Verkehrsteilnehmer von durch Motorkraft angetriebenen Fahrzeugen schon bei einem BAG von 1,2 0 / 00 als absolut fahruntüchtig zu gelten. K. sei somit im Zeitpunkt des Verkehrsunfalls absolut verkehrsuntüchtig gewesen, auch wenn man nur von einem BAG von 1,33 0 / 00 ausgehe. Dieser Zustand beruhe nicht auf betrieblichen Gründen. Der Hinweis der Kläger, daß der Genuß von alkoholischen Getränken im Baugewerbe anläßlich von Arbeitsbesprechungen, wenn diese in Gaststätten durchgeführt werden müßten, schon mit Rücksicht auf den Wirt üblich sei, gehe fehl. Es sei eine persönliche Angelegenheit jedes Besprechungsteilnehmers, ob und wieviel Alkohol er bei derartigen Besprechungen zu sich nehme; deshalb könne man nicht davon ausgehen, daß Alkoholgenuß im Baugewerbe betrieblich bedingt sei. Bei Abwägung der äußeren Umstände des Unfalls ergebe sich, daß die alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit K.s auch ohne Rücksicht auf die (absolute) Höhe des festgestellten BAG die rechtlich allein wesentliche Ursache des Verkehrsunfalls gewesen sei. Überhöhte Fahrgeschwindigkeit scheide als Unfallursache aus. Der Sachverständige P habe aufgrund der Ergebnisse eines von ihm unternommenen Fahrversuchs überzeugend dargelegt, daß die überhöht angelegte Kurve eine risikolos einzuhaltende Höchstgeschwindigkeit von 90 km/h zulasse. Eine plötzlich aufgetretene Panne am linken Hinterreifen könne nach den Darlegungen des Verkehrssachverständigen den Unfall nicht verursacht haben. Nach den polizeilichen Ermittlungen sei nicht nur die Karosserie vollständig verbeult, sondern es sei außer den beiden rechten auch der linke hintere Kotflügel eingedrückt gewesen. Allein dadurch sei eine Beschädigung und ein völliges Entweichen der Luft aus einem schlauchlosen Reifen, die sich an dem Pkw des Verstorbenen befunden hätten, zu erklären. Reifenschäden gehörten nach den Ausführungen des Sachverständigen P heute zu den Seltenheiten. Für einen Vorschaden am linken Hinterreifen habe sich kein Anhalt ergeben. Eine betrieblich bedingte Übermüdung sei für den Verkehrsunfall nicht ursächlich. Die ärztliche Sachverständige Dr. D habe dargetan, daß nach einem langen Arbeitstag wohl mit einem gewissen Nachlassen der geistigen und körperlichen Kräfte zu rechnen sei. Bei einer Alkoholbeeinflussung in einem Ausmaß, wie sie bei K. vorgelegen habe, trete die übermüdungsbedingte Komponente jedoch völlig in den Hintergrund; hier sei wesentlich, daß die Alkoholverträglichkeit nach einem so langen Arbeitstag erfahrungsgemäß vermindert sei. Anhaltspunkte, daß K. durch die Fahrweise eines anderen Verkehrsteilnehmers in die Unfallsituation geraten sei, seien nicht vorhanden. Dafür, daß die alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit die rechtlich allein wesentliche Ursache des Unfalls gewesen sei, spreche ferner, daß dieser sich nicht schon in der ersten Kurve, sondern erst in der daran anschließenden Kurve ereignet habe. Da - wie die Beweisaufnahme ergeben habe - die Krümmung der zweiten Kurve etwas kleiner sei als die der ersten, bedürfe das Durchfahren der Kurven in einem Zuge im Auslauf der ersten Kurve einer kleinen Korrektur in Form eines kurzen Abbremsens, ehe man in die zweite Kurve einfahre. Diese Korrektur habe K., obwohl er die Straße seit Jahren täglich zweimal befahren habe und ihm die Eigenheiten dieser Doppelkurve somit bekannt gewesen seien, nicht vorgenommen und sei dadurch ins Schleudern geraten. Die ärztliche Sachverständige Dr. D habe hierzu erläutert, bei einem BAG von 1,33 0 / 00 sei K. in seinem Hirnleistungsvermögen und in seinem Persönlichkeitsgefüge so erheblich beeinträchtigt gewesen, daß er infolge der damit verbundenen Neigung zu Fehlverhaltensweisen und zu mangelnder Anpassung an die Verhältnisse der Außenwelt in seiner Kraftfahreignung erheblich beeinträchtigt gewesen sei. Bei lebensnaher Betrachtung all dieser Umstände erkläre sich deshalb das Zustandekommen des Unfalls allein aus der Alkoholbeeinflussung. Hiergegen spreche auch nicht der Umstand, daß K. bis zur Unfallstelle, also mehrere Kilometer ordnungsgemäß gefahren sei. Wie die Sachverständige Dr. D bereits in anderen Verfahren überzeugend vorgetragen habe, sei es eine Erfahrungstatsache, daß bei einem derart hohen BAG (1,33 0 / 00 ) ein Fehlverhalten erst nach einiger Zeit zu Tage trete. Da somit in jedem Fall eine alkoholbedingte Einschränkung der Fahrtüchtigkeit die rechtlich allein wesentliche Ursache des Unfalls gewesen sei, habe K. in diesem Zeitpunkt nicht unter Versicherungsschutz gestanden. Das Urteil des SG sei daher aufzuheben und die Klagen seien abzuweisen gewesen.

Das LSG hat "lediglich wegen der Frage, ob sämtliche Verkehrsteilnehmer mit durch Motorkraft angetriebenen Fahrzeugen schon bei einer Blutalkoholkonzentration von 1,2 0 / 00 absolut fahruntüchtig sind", die Revision zugelassen.

Die Kläger haben dieses Rechtsmittel eingelegt. Ihre Prozeßbevollmächtigten haben es im wesentlichen wie folgt begründet:

Wäre das Berufungsgericht der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG), die mit der Rechtsauffassung des Bundesgerichtshofs übereinstimme, gefolgt, daß der Fahrer eines Pkw erst von einem BAG von 1,5 0 / 00 an als absolut fahruntüchtig anzusehen sei, wäre in der vorliegenden Streitsache der erforderliche zwingende Beweis des ersten Anscheins nicht gegeben. Dann wäre vielmehr die Beklagte verpflichtet, nachzuweisen, daß die alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit die rechtlich allein wesentliche Ursache des Unfalls gewesen sei. Könne man also mit dem LSG davon ausgehen, daß die Kläger den Beweis des ersten Anscheins nicht widerlegen könnten, werde man andererseits zu Lasten der Beklagten davon ausgehen müssen, daß auch diese nicht in der Lage sei, nachzuweisen, daß die Alkoholbeeinflussung die rechtlich allein wesentliche Unfallursache gewesen sei.

Die Beklagte hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Sie ist der Meinung, daß, nachdem der Bundesgerichtshof inzwischen seine Rechtsprechung geändert und bei einem Kraftfahrer absolute Fahruntüchtigkeit bereits bei einem BAG von 1,3 0 / 00 annehme, das BSG nicht werde umhin können, seine Rechtsauffassung ebenfalls zu überprüfen. Da der Bundesgerichtshof die Grenze absoluter Fahruntüchtigkeit allein aus besonderen strafrechtlichen Erwägungen, welche für die gesetzliche Unfallversicherung ohne rechtliche Bedeutung seien, auf 1,3 0 / 00 festgesetzt habe, verdiene die Auffassung des Berufungsgerichts, daß die Promillegrenze von 1,2 0 / 00 maßgebend sei, den Vorzug. Das LSG habe im übrigen rechtsirrtumsfrei angenommen, daß K. infolge Alkoholeinwirkung relativ fahruntüchtig gewesen und somit auch aus diesem Grunde der Versicherungsschutz nicht gegeben sei.

Die Kläger beantragen,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

II

Die Revision ist nur teilweise begründet. Das LSG hätte das Urteil des Erstgerichts nicht in vollem Umfang aufheben dürfen. Es hätte vielmehr die Berufung der Beklagten nach § 144 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) als unzulässig verwerfen müssen, soweit das SG die Beklagte verurteilt hatte, Sterbegeld zu gewähren. Das SG hat allerdings nicht beachtet, daß nach den im Zeitpunkt des Verkehrsunfalls maßgeblichen Vorschriften der §§ 586 Abs. 1 Nr. 1, 203 der Reichsversicherungsordnung (in der bis zum 30. Juni 1963 geltenden Fassung) das Sterbegeld allein der Klägerin zu 1.) zusteht. Es handelt sich insoweit um einen rechtlich selbständigen prozessualen Anspruch, bei dem die Frage der Zulässigkeit der Berufung gesondert von der des Rentenanspruchs zu prüfen und zu entscheiden ist (Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Stand 31.7.1968, Band I, S. 250 d I, 242 d I).

Im übrigen hat die Revision keinen Erfolg.

Die vorliegende Streitsache bietet - entgegen der Ansicht der Beklagten - für den erkennenden Senat keinen Anlaß, seine Rechtsauffassung, daß ein Kraftfahrer erst bei einem BAG von 1,5 0 / 00 (absolute Fahruntüchtigkeit) auf Wegen von und zur Arbeitsstätte im allgemeinen nicht unter Versicherungsschutz steht (BSG 3, 116; 12, 242), angesichts der inzwischen geänderten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGHSt 21, 157 = NJW 1967, 116) zu überprüfen. Das LSG hat den Unfallversicherungsschutz auch aus dem weiteren Grund verneint, daß K. im Zeitpunkt des Verkehrsunfalls relativ fahruntüchtig gewesen und dies die rechtlich allein wesentliche Ursache des Unfalls sei. Diese Auffassung des Berufungsgerichts hält der revisionsgerichtlichen Nachprüfung stand.

Die Revision hat die tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz, aufgrund deren diese zu dem Ergebnis gelangt ist, daß K. im Zeitpunkt des Verkehrsunfalls nicht mehr verkehrssicher hat fahren können, mit Revisionsrügen nicht angegriffen. Für das Revisionsgericht ist deshalb bindend festgestellt, daß K. im Zeitpunkt des Unfalls infolge eines damals bei ihm gegebenen BAG von 1,33 0 / 00 in seinem Hirnleistungsvermögen und in seinem Persönlichkeitsgefüge so beeinträchtigt gewesen ist, daß er nicht mehr in der Lage war, sich an der von ihm in der Regel täglich zweimal befahrenen Unfallstelle verkehrsgerecht zu verhalten. Sonstige Umstände, welche geeignet sein könnten, den Unfall herbeizuführen, hat das Berufungsgericht trotz Ausschöpfung aller sich ihm nach Sachlage bietenden Beweismöglichkeiten nicht feststellen können. Insbesondere hat das LSG durch das Gutachten der ärztlichen Sachverständigen Dr. D, welche die Unfallstelle besichtigt hatte, geklärt, daß eine Übermüdung trotz des Umstandes, daß K. am Tag des Unfalls vom Morgen bis in die späte Nacht tätig gewesen ist, als Unfallursache im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinn ausscheidet (vgl. hierzu BSG 14, 68, 69). Insofern unterscheidet sich der vorliegende Sachverhalt von dem in der vom Senat durch Urteil vom 14. Dezember 1967 entschiedenen Streitsache 2 RU 126/64.

Das LSG ist deshalb mit Recht zu dem Ergebnis gelangt, daß die durch den Alkoholgenuß bedingte Beeinträchtigung der Fahrtüchtigkeit die rechtlich allein wesentliche Ursache des Verkehrsunfalls gewesen ist. Dies hat aber zur Folge, daß K. im Zeitpunkt des Unfalls nicht unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung gestanden hat (BSG 12, 242).

Deshalb war zu erkennen, wie geschehen.

Die Kostenentscheidung stützt sich auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2285073

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