Entscheidungsstichwort (Thema)

Arbeitsunfall. Alkohol. Übermüdung

 

Orientierungssatz

Stellt das Gericht in seiner Entscheidung nur darauf ab, daß die Blutalkoholkonzentration von 1,01 Promille zum Unfall geführt haben, ohne die von den Gutachtern auch aufgezeigten anderen mitwirkenden Ursachen zu berücksichtigen und auch ohne darzulegen, weshalb diese anderen Ursachen nicht bewertet wurden, so liegt ein Verstoß gegen § 128 SGG vor.

 

Normenkette

RVO § 548; SGG § 128

 

Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Entscheidung vom 19.05.1971)

 

Tenor

Das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 19. Mai 1971 wird aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

I

Die Kläger begehren Entschädigung aus Anlaß des tödlichen Unfalles ihres Ehemannes und Vaters. Das Landessozialgericht (LSG) hat u.a. folgenden Sachverhalt festgestellt:

Der im Jahre 1933 geborene Ehemann der Klägerin war in L als anwendungstechnischer Berater beschäftigt. Am 6. Mai 1968 erlitt er gegen 14,45 Uhr in Gießen einen Verkehrsunfall, an dessen Folgen er am 11. Mai 1968 verstarb. Zum Unfallhergang stellte die Polizeibehörde G folgendes fest: Der Ehemann der Klägerin fuhr mit einem Pkw-Kombi die M Straße (Bundesstraße 3) stadtauswärts. In einer unübersichtlichen Rechtskurve, kurz vor der Einmündung zur D-straße, überholte er mit hoher Geschwindigkeit trotz Gegenverkehrs in grob verkehrswidriger und rücksichtsloser Weise mit seinem Kombi ein in gleicher Richtung fahrendes Fahrzeug innerhalb einer Überholverbotszone. Dabei stieß er mit einem ihm entgegenkommenden Lastkraftwagen zusammen. Nach dem Bericht von Prof. Dr. G, Direktor des Instituts für gerichtliche Medizin und Versicherungsmedizin der Universität G, ergab die am Unfalltag um 15,50 Uhr entnommene Blutprobe bei dem Ehemann der Klägerin eine Alkoholkonzentration von 0,96 0 / 00 nach Widmark und 1,01 0 / 00 nach der ADH-Methode.

Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 12. Juli 1968 Entschädigungsansprüche ab, da die alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit für den Eintritt des Unfalls die einzige rechtlich erhebliche Ursache gewesen wäre.

Die Kläger haben gegen diesen Bescheid Klage erhoben.

Das Sozialgericht (SG) hat durch Urteil vom 16. September 1970 die Beklagte verurteilt, "den Unfall des Verstorbenen M B vom 6. Mai 1968 zu entschädigen".

Auf die Berufung der Beklagten hat das LSG mit Urteil vom 19. Mai 1971 das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen. Es hat zur Begründung u.a. ausgeführt; Für die Fahrweise des Ehemannes der Klägerin vor dem Unfall könne entgegen der Meinung des SG eine betriebsbedingte Übermüdung nicht als wesentliche Ursache für den Unfall gewertet werden. Der Sachverständige Dr. R habe überzeugend darauf hingewiesen, daß der Unfallhergang eine ganze Reihe unkritischer Fehleinschätzungen und falscher Reaktionen mit riskantem Verhalten zeige, wie sie nach allgemeiner verkehrsmedizinischer Auffassung typischerweise durch Alkoholeinfluß bewirkt würden. Von einem Übermüdeten erwarte man dagegen im Straßenverkehr nicht riskante und kritiklose Fahrweise mit grob verkehrswidrigem Verhalten und leichtsinniger Fehleinschätzung von unfallträchtigen Situationen, wie dies hier der Fall gewesen sei. Er neige eher zu vorsichtiger Fahrweise, weil er sich der Müdigkeit bewußt sei und langsamer Sinnesreize verarbeite. Ein Übermüdeter hätte diesen Überholvorgang gar nicht erst begonnen. Wenn auch Dr. R der Müdigkeit einen untergeordneten Teilursachenfaktor zugebilligt habe, so käme er doch überzeugend zu dem Ergebnis, daß die Übermüdung mit Wahrscheinlichkeit nicht zu dem Unfall geführt hätte. Auch das Zustandekommen eines Unfalls enthalte keine Gesichtspunkte dafür, daß der Unfall wesentlich auf Übermüdung zurückzuführen wäre. Zudem hätten die gehörten Zeugen eine besondere Übermüdung des Ehemannes der Klägerin nicht beobachtet. Der Zeuge Sch habe zwar ausgesagt, er habe B angemerkt, daß er nicht ausgeschlafen gewesen sei. Dagegen habe der Zeuge R bekundet, er könne nicht sagen, daß der Ehemann der Klägerin einen übernächtigten oder erschöpften Eindruck gemacht hätte.

Die Kläger haben - die vom LSG nicht zugelassene - Revision eingelegt.

Sie halten das Rechtsmittel nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 und 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG) für zulässig und rügen, daß die Entscheidung auf der unrichtigen Anwendung der Vorschriften des § 118 Abs. 1 SGG i.V.m. § 402 ff. Zivilprozeßordnung über den Beweis durch Sachverständige und der unrichtigen Anwendung der aus der Beobachtung von Einzelfällen gewonnenen Sätze der allgemeinen Lebenserfahrung sowie auf der Verletzung von Denkgesetzen beruhe. Das Berufungsgericht stütze seine Entscheidung ausschließlich auf das Gutachten des Dr. R, Facharzt für innere Krankheiten. Dieses stehe nicht nur im Widerspruch mit der Auffassung von Dr. K, Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, sondern stütze auch im übrigen die Auffassung des LSG nicht. Das LSG hätte deshalb ein Obergutachten einholen müssen. Das LSG gehe außerdem unzutreffend davon aus, daß ein allgemeiner Erfahrungssatz bestehe, ein übermüdeter Kraftfahrer fahre eher vorsichtig als rücksichtslos. Die Übermüdung sei jedoch häufig Ursache von falschem Überholen und überhöhter Geschwindigkeit.

Die Kläger beantragen,

das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 19. Mai 1971 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 12. Juli 1968 zu verurteilen, den Unfall des verstorbenen M B vom 6. Mai 1968 zu entschädigen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision als unzulässig zu verwerfen,

hilfsweise,

die Sache an die Vorinstanz zurückzuverweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend und einen Verstoß gegen Denkgesetze und Erfahrungssätze nicht für gegeben.

II

Die Revision ist statthaft, da von den Klägern gerügte wesentliche Mängel des Verfahrens vorliegen.

Die Revision macht geltend, das LSG hätte seine von Dr. K abweichende Auffassung nicht allein auf das Gutachten von Dr. R stützen dürfen. Damit rügt die Revision, das LSG habe sein Recht auf freie Beweiswürdigung überschritten.

Es kann dahinstehen, ob das LSG schon deshalb verpflichtet war, ein weiteres Gutachten einzuholen, weil Dr. R Facharzt für innere Krankheiten, dagegen Dr. K Facharzt für Neurologie und Psychiatrie ist und - wie die Revision meint - Fragen des Einflusses einer Übermüdung auf die Fahrtüchtigkeit stärker in dessen Fachgebiet fallen. Das LSG stützt seine Entscheidung, der Alkoholgenuß sei rechtlich die alleinige Ursache des tödlichen Unfalles des Ehemannes der Klägerin, nämlich zu Unrecht auf das Gutachten von Dr. R. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts ist Dr. R in seinem vom SG eingeholten Gutachten vom 20. Juli 1970 nicht zu dem Ergebnis gelangt, daß die Übermüdung mit Wahrscheinlichkeit nicht zu dem Unfall geführt hätte. Der Sachverständige hat zwar den Alkoholgenuß als den "bedeutenderen Ursachenfaktor" bezeichnet; er hat aber andererseits wiederholt (siehe S. 3, 6. Zeile von unten; S. 4, 1. Absatz, drittletzte Zeile seines Gutachtens) die Übermüdung ausdrücklich ebenfalls als "wesentliche" Teilursache gewertet. Beide Wertungen stellen nicht im Gegensatz. Zwei Ursachen sind nicht nur dann wesentliche Mitursachen eines Ereignisses, wenn beide gleichwertig den Erfolg bedingt haben (vgl. BSG SozR Nr. 6 zu § 589 der Reichsversicherungsordnung - RVO -; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. bis 7. Aufl., Seite 480 k II). Ebenso ist eine Übermüdung des Ehemannes der Klägerin auch nach dem Gutachten von Dr. R nicht schon deshalb als wesentliche Mitursache ausgeschlossen, weil der Sachverständige abschließend ausführt:" Der Entschluß zu dem verhängnisvollen Überholvorgang ist der Alkoholwirkung zuzuschreiben. Erst als dieser im Gang war, trat die Übermüdung als etwa gleichwertige Ursache für das Fehlverhalten und die Fahruntüchtigkeit hinzu". Dr. R wertet auch hier nicht die Alkoholeinwirkung als die allein wesentliche Ursache des Unfalles. Der Wertung einer Übermüdung als wesentliche Mitursache steht auch nicht, wie die Beklagte meint, entgegen, daß nach der Auffassung von Dr. R die relative Fahruntüchtigkeit des Ehemannes der Klägerin zu dem grob verkehrswidrigen Verhalten geführt hat.

Entscheidend ist, ob sie die alleinige wesentliche Ursache des Unfalles oder nur eine von mehreren wesentlichen Mitursachen gewesen ist.

Somit stützen weder das Gutachten von Dr. K noch das von Dr. R die Entscheidung des LSG, eine Übermüdung des Ehemannes der Klägerin sei keine wesentliche Mitursache des tödlichen Unfalles. Zwar ist die rechtliche Wertung, welche von mehreren Ursachen im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinne auch rechtlich wesentlich an dem Erfolg mitgewirkt haben, von den durch das Gutachten zu klärenden medizinischen Tatsachenfragen zu trennen (vgl. BSG SozR Nr. 2 zu § 128 SGG; Brackmann aaO, S. 244 o I). Zu diesen medizinischen Fragen gehören aber die verschiedenen Auswirkungen einer Übermüdung auf die Fahrtüchtigkeit, auf deren Kenntnis sich die Sachverständigengutachten stützen. Das LSG hat insoweit aber nicht ausreichend dargelegt, weshalb es entgegen der Auffassung der Gutachter einer Übermüdung einen wesentlichen Einfluß auf die Fahrtüchtigkeit des Ehemannes der Klägerin und auf den Unfall nicht beigemessen hat. Das LSG führt hierzu, gestützt auf das Gutachten von Dr. R, aber noch ohne Bezugnahme auf dessen Wertung der Unfallursache aus: "Von einem Übermüdeten erwartet man dagegen im Straßenverkehr nicht riskante und kritiklose Fahrweise mit grob verkehrswidrigem Verhalten und leichtsinniger Fehleinschätzung von unfallträchtigen Situationen, wie dies hier der Fall war. ... Dem Gutachten von Dr. K konnte bei dieser Sachlage nicht gefolgt werden, da dieser - worauf auch Dr. R hinwies - die allgemeine Lebenserfahrung nicht beachtet, daß ein übermüdeter Kraftfahrer eher vorsichtig als rücksichtslos fährt". Das LSG hat nicht dargelegt, worauf es die Annahme eines derartigen allgemeinen Erfahrungssatzes stützt. Dr. R ist nicht davon ausgegangen, daß es einen allgemeinen Erfahrungssatz gibt, ein übermüdeter Kraftfahrer fahre eher vorsichtig als rücksichtslos. Dieser Sachverständige hat lediglich ausgeführt, daß der übermüdete Kraftfahrer eher zu vorsichtiger Fahrweise "neige". Zudem wird die aus seinen Ausführungen vom LSG gezogene Schlußfolgerung, schon deshalb komme eine Übermüdung des Ehemannes der Klägerin als wesentliche Mitursache des Unfalles nicht in Betracht, - wie bereits dargelegt - von Dr. R selbst nicht geteilt. Die Revision rügt hierzu vor allem mit Recht, das LSG hätte sich bei einem Abweichen von den Gutachten der Sachverständigen nicht nur eingehend mit deren Ausführungen (vgl. BSG 1, 254, 257; BSG SozR aaO; BSG SozR Nr. 3 zu § 608 a RVO; Brackmann aaO), sondern vor der Annahme eines allgemeinen Erfahrungssatzes, ein übermüdeter Fahrer fahre eher vorsichtig als rücksichtslos, auch mit der gegenteiligen Auffassung im Schrifttum zu den Auswirkungen der Übermüdung auf die Fahrtüchtigkeit und vor allem zur Übermüdung als Ursache bei Unfällen wegen überhöhter Geschwindigkeit und falschen Überholens auseinandersetzen müssen (vgl. hierzu - außer den von der Revision angeführten Fundstellen: Müller, Deutsches Autorecht 1963, 235; Mach, Zentralblatt für Verkehrsmedizin 1959, 232; Meyer-Jakobi, Typische Unfallursachen im deutschen Straßenverkehr, Band I, Seiten 20, 34, 56, 87, 102, 134, 158 - auch Gaisbauer, NJW 1968, 191; Ponsold, Lehrbuch der gerichtlichen Medizin, 3. Aufl., 1967, 185, 187, 190). Das LSG hat außerdem nicht alle für die Feststellung der in Betracht kommenden wesentlichen Unfallursachen maßgebenden Besonderheiten des Einzelfalles, insbesondere z.B. nicht die Aussage des Zeugen S gewürdigt, er habe den Ehemann der Klägerin zum Mittagessen in seine Wohnung eingeladen und ihn gebeten, sich zu beeilen, damit es nicht so spät mit dem Mittagessen würde.

Schließlich reichen die hilfsweisen Ausführungen des LSG, eine Übermüdung des Ehemannes der Klägerin vor dem Unfall sei nicht festzustellen, nicht aus, um die Entscheidung zu stützen. Das Berufungsgericht weist selbst auf die Aussage des Zeugen Sch hin, er habe dem Ehemann der Klägerin angemerkt, daß dieser nicht ausgeschlafen gewesen sei. Es schließt eine Übermüdung aber wohl deshalb aus, weil der Zeuge R nicht sagen konnte, daß der Ehemann der Klägerin einen übernächtigten oder erschöpften Eindruck gemacht hätte. Das LSG hat nicht dargelegt, weshalb es den Beobachtungen des Zeugen R stärkeren Beweiswert beigemessen hat als denen des Zeugen Sch oder weshalb es gegebenenfalls insoweit ein non liquet angenommen hat. Das LSG hätte sich vor allem deshalb zu einer eingehenden Würdigung der vom SG erhobenen Beweise oder sogar gegebenenfalls zu weiteren Ermittlungen gedrängt fühlen müssen, weil die Kläger vorgebracht haben, daß ihr Ehemann und Vater bereits um 23 00 Uhr des vorangegangenen Tages von zu Hause weggefahren sei, in L noch Reinigungsmittel in Empfang genommen und in Gießen schon um 5,30 Uhr mit der Arbeit begonnen habe. Nach diesen Angaben wäre der Ehemann der Klägerin somit - einschließlich einer im wesentlichen mit Autofahren verbrachten Nacht - bis zum Unfallzeitpunkt fast 16 Stunden tätig, und ggf. - sofern er vor der Abfahrt nicht geschlafen hat - über 31 Stunden ohne Schlaf gewesen. Das LSG hat nicht dargelegt, weshalb es zu diesem Vorbringen der Kläger keine eigenen Feststellungen getroffen oder, falls es die Angaben als wahr unterstellt hat, diesen Umständen entgegen den Ausführungen auch von Dr. R bei der Würdigung der Unfallursachen, soweit ersichtlich, keinerlei Bedeutung beigemessen hat.

Auf der nicht ausreichenden Würdigung des gesamten Ergebnisses des Verfahrens über das Vorliegen und Mitwirken einer betriebsbedingten Übermüdung an dem Unfallhergang beruht das angefochtene Urteil.

Die somit statthafte Revision ist auch form- und fristgerecht eingelegt. Der Senat kann aber auf die demnach zulässige Revision schon deshalb nicht in der Sache selbst entscheiden, weil das LSG über den Beginn und den Verlauf der versicherten Tätigkeit des Ehemannes der Klägerin vor dem Unfall keine eigenen Feststellungen getroffen hat. Das Urteil des LSG ist daher aufzuheben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1649727

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