Orientierungssatz

AVG § 28 (= RVO § 1251) gilt nicht für Versicherungsfälle, die vor dem 1957-01-01 (Inkrafttreten des AnVNG = ArVNG) eingetreten sind. Seine Anwendbarkeit auf alte, nach März 1945 eingetretene Versicherungsfälle läßt sich nicht aus AnVNG Art 2 § 8 S 1 (= ArVNG Art 2 § 8 S 1) herleiten, der bei Hinterbliebenenrenten ebenfalls Anwendung findet (AnVNG Art 2 § 17 S 1 - ArVNG Art 2 § 17 S 1).

 

Normenkette

AVG § 28 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1251 Fassung: 1957-02-23; AnVNG Art. 2 § 8 S. 1 Fassung: 1957-02-23; ArVNG Art. 2 § 8 S. 1 Fassung: 1957-02-23; AnVNG Art. 2 § 17 S. 1 Fassung: 1957-02-23; ArVNG Art. 2 § 17 S. 1 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 26. April 1961 wird aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

I

Die Kläger begehren Hinterbliebenenrente aus der Angestelltenversicherung (Handwerkerversicherung) ihres im September 1956 verstorbenen Ehemannes bzw. Vaters. Da dieser bei seinem Tod nur eine Versicherungszeit (Beitragszeit) von 59 Monaten zurückgelegt hatte, die Hinterbliebenenrente aber eine Wartezeit von 60 Monaten verlangt (Art. 2 § 17 Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetz - AnVNG - i. V. m. § 40 Abs. 2 Angestelltenversicherungsgesetz - AVG -), lehnte die Beklagte den im Juni 1957 gestellten Rentenantrag ab. Die von den Klägern erhobene Klage hatte vor dem Landessozialgericht (LSG) Erfolg; es hob das klageabweisende Urteil des Sozialgerichts auf und verurteilte die Beklagte zur Gewährung von Hinterbliebenenrente von Januar 1957 an. Das LSG rechnete auf die Wartezeit noch den Kriegsdienst, die Gefangenschaft und die Internierung des Verstorbenen (Mai 1942 bis April 1948) als Ersatzzeit an, obgleich diese Zeiten - wie aus dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe des LSG zu schließen ist - vor dem Versicherungsbeginn liegen und nach dem bei Eintritt des Versicherungsfalls geltenden Recht (§§ 31 AVG aF, 1263 Reichsversicherungsordnung - RVO - aF) keine Ersatzzeiten gewesen wären. Das LSG wandte jedoch insoweit das neue Ersatzzeitenrecht an, das die Anrechnung von Ersatzzeiten auch gestattet, wenn innerhalb von 2 Jahren nach ihrem Ende eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit aufgenommen worden ist (§ 28 AVG). Hierzu hielt sich das LSG aufgrund des Art. 2 §§ 17 und 8 AnVNG für befugt. Es wich dabei von der Auslegung des Art. 2 § 8 AnVNG in BSG 9, 92 und 10, 151, 155 ab und ließ die Revision zu, weil das Bundessozialgericht (BSG) diese Vorschrift nicht einheitlich auslege, wie sich aus dem jenen Entscheidungen widersprechenden Urteil des 3. Senats des BSG vom 25. Februar 1958 (SozR Nr. 3 zu § 1262 RVO aF) ergäbe.

Die Beklagte legte Revision ein mit dem Antrag,

das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung der Kläger gegen das Urteil des Sozialgerichts zurückzuweisen.

Sie rügte eine Verletzung der §§ 26 bis 28 AVG, Art. 2 §§ 6 und 8 AnVNG.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

II

Die Revision ist zulässig (§§ 162 Abs. 1 Nr. 1, 164 Sozialgerichtsgesetz - SGG -); sie führte zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das LSG.

Die Anwendbarkeit des § 28 AVG auf alte, nach März 1945 eingetretene Versicherungsfälle ergibt sich nicht schon aus Art. 2 § 17 Satz 1 AnVNG, wie das LSG glaubt. Soweit diese Übergangsvorschrift auf § 40 Abs. 2 AVG verweist, regelt sie - von der Wartezeitfiktion abgesehen - nur die Frage, welche Versicherungszeit als Wartezeit für die Hinterbliebenenrente erforderlich ist, nicht jedoch, welche Zeiten überhaupt Versicherungszeiten sind und auf die Wartezeit angerechnet werden können; insoweit gelten vielmehr die einschlägigen Bestimmungen für die Versichertenrenten entsprechend (BSG 14, 289; im Ergebnis ebenso Urteil des 1. Senats vom 21. Juli 1959 - 1 RA 27/59 -).

Aber auch nach diesen durfte das LSG § 28 AVG nicht auf den vorliegenden Fall anwenden. § 28 AVG gilt nicht für Versicherungsfälle, die vor dem 1. Januar 1957 (Inkrafttreten des AnVNG) eingetreten sind. Seine Anwendbarkeit auf alte, nach März 1945 eingetretene Versicherungsfälle läßt sich nicht aus Art. 2 § 8 Satz 1 AnVNG herleiten, der bei Hinterbliebenenrenten ebenfalls Anwendung findet (Art. 2 § 17 Satz 1 AnVNG). Art. 2 § 8 Satz 1 AnVNG verweist nicht über die §§ 26, 27 AVG auf § 28 AVG, wie das LSG angenommen hat. Diese Übergangsvorschrift verweist allein auf § 26 AVG. Wie § 26 regelt Art. 2 § 8 AnVNG lediglich die Frage, aus welchen Zeiträumen Versicherungszeiten anzurechnen sind. Welche Zeiten Versicherungszeiten (Beitrags- und Ersatzzeiten) sind, bestimmt Art. 2 § 8 AnVNG dagegen ebensowenig wie Art. 2 § 17. Dies beurteilt sich für Versicherungsfälle vor dem 1. Januar 1957 vielmehr nach dem bei ihrem Eintritt geltenden Recht (Art. 2 § 6 AnVNG). Diese Rechtsansicht zu den genannten und gleichlautenden Vorschriften der Arbeiterrentenversicherung vertritt das BSG in ständiger Rechtsprechung (Urteile des 1. Senats vom 28. Januar 1959, BSG 9, 92 vom 28. April 1959 - 1 RA 183/57 - und vom 21. Juli 1959 - 1 RA 18 u. 27/59 -; des 4. Senats vom 8. Juli 1959, BSG 10, 151, 155, und vom 15. Dezember 1961, BSG 16, 38, 41; des 12. Senats vom 30. Mai 1962 - 12/3 RJ 60/59 -). Die vom LSG angezogene Entscheidung des jetzt nicht mehr mit Angelegenheiten aus dem Leistungsrecht der Rentenversicherung befaßten 3. Senats (SozR Nr. 3 zu § 1262 RVO aF) betrifft nicht das Ersatzzeitenrecht; im übrigen hat aber auch schon der 4. Senat dargelegt (BSG 16, 38, 44), weshalb jener Entscheidung, soweit sie - ohne nähere Begründung - auch § 1250 RVO in die Verweisung des Art. 2 § 8 ArVNG einbeziehen will, nicht zu folgen ist. Die angeführten Urteile des 1., 4. und 12. Senats haben sich mit den vom LSG erhobenen Einwänden bereits eingehend auseinandergesetzt.

Der erkennende Senat sieht keinen Anlaß, von dieser übereinstimmenden Rechtsprechung der übrigen Rentenversicherungssenate abzuweichen; er schließt sich ihr nach einer Prüfung der Rechtslage an.

Da somit noch das alte Ersatzzeitenrecht anzuwenden ist, nach diesem die Kriegszeit, Gefangenschaft und Internierung jedoch schon mangels vorheriger Versicherung nicht als Ersatzzeit auf die Wartezeit angerechnet werden kann, ist die Wartezeit für die begehrten Hinterbliebenenrenten entgegen der Auffassung des LSG nicht erfüllt; das Urteil des LSG ist deshalb aufzuheben.

In der Sache selbst kann der Senat nicht entscheiden. Die Kläger haben im Laufe des Rechtsstreits geltend gemacht, daß die Wartezeit als erfüllt gelte, weil ihr Ehemann bzw. Vater an den Folgen eines Arbeitsunfalls verstorben sei (Art. 2 § 10 Abs. 1 AnVNG, § 29 Nr. 1 AVG). Hierzu hat das LSG keine Feststellungen getroffen. Da insoweit dem BSG tatsächliche Feststellungen verwehrt sind, muß der Rechtsstreit an das LSG zu neuer Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen werden.

Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil des LSG vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2325596

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