Leitsatz (amtlich)
Bei der Ermittlung der anrechnungsfähigen Versicherungsjahre sind in Wanderversicherungsfällen Beitragszeiten, die mit Pflichtbeiträgen sowohl zur Rentenversicherung der Angestellten als auch zur Rentenversicherung der Arbeiter belegt sind (Doppelversicherung während der Jahre 1913 bis 1922), ebenso nur einmal zu berücksichtigen wie die in AVG § 89 Abs 4 S 2 (RVO § 1310 Abs 4 S 2) ausdrücklich genannten Ersatzzeiten, Ausfallzeiten und die Zurechnungszeit.
Normenkette
AVG § 89 Abs. 4 S. 2 Fassung: 1957-07-27, § 35 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1310 Abs. 4 S. 2 Fassung: 1957-07-27, § 1258 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 22. August 1962 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Durch Bescheid vom 14. Mai 1958 gewährte die Beklagte dem Kläger vom 1. Oktober 1957 an Altersruhegeld. Für den am 25. Oktober 1892 geborenen Kläger wurden erstmals im Jahre 1909 Beiträge zur Rentenversicherung der Arbeiter (Invalidenversicherung - JV -) entrichtet, von 1913 bis 1957 gehörte er fast durchgehend als Pflichtversicherter der Rentenversicherung der Angestellten (AV) an. In der Zeit vom 1. Januar 1913 bis zum 3. September 1916 und vom 25. Februar 1919 bis zum 25. November 1919 (insgesamt 254 Wochen) war er auf Grund desselben Beschäftigungsverhältnisses sowohl in der AV als auch in der JV pflichtversichert (Doppelversicherung). Außerdem leistete er in den Jahren 1952/54 insgesamt 96 freiwillige Wochenbeiträge zur JV. Die Beklagte berücksichtigte bei der Feststellung des Altersruhegeldes die Zeiten der Doppelpflichtversicherung unter Hinweis auf Art. 2 § 11 Abs. 2 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG) nur einmal und rechnete die freiwilligen Beiträge zur JV nach Art. 2 § 15 Abs. 2 AnVNG als Höherversicherungsbeiträge an.
Mit seiner Klage begehrte der Kläger, die Zeit eines Schulbesuches zusätzlich als Ausfallzeit anzurechnen, die Zeiten der Doppelversicherung bei Ermittlung der Versicherungsjahre doppelt zu berücksichtigen und die freiwilligen Beiträge zur JV nicht als solche der Höherversicherung anzusehen, sondern diese Beitragsleistung bei Ermittlung sowohl der persönlichen Bemessungsgrundlage als auch der anrechnungsfähigen Versicherungsjahre zusätzlich zu berücksichtigen.
Mit Urteil vom 10. Juni 1960 verpflichtete das Sozialgericht (SG) München die Beklagte, unter Abänderung des Bescheides vom 14. März 1958 dem Kläger einen neuen Bescheid zu erteilen und darin bei der Rentenberechnung weitere 82 Monate (die Zeiten der Doppelversicherung und der freiwilligen Versicherung in der JV) als Versicherungszeit anzurechnen und demgemäß statt bisher 49 nunmehr 55,5 Versicherungsjahre zu berücksichtigen; im übrigen wies das SG die Klage ab.
Auf die Berufung der Beklagten hob das Bayerische Landessozialgericht (LSG) am 22. August 1962 das Urteil des SG auf und wies die Klage in vollem Umfang ab: Bei den Zeiten der Doppelpflichtversicherung in der AV und JV, die auf Grund desselben Beschäftigungsverhältnisses bestanden habe, handele es sich begrifflich nicht um eine Wanderversicherung im Sinne des § 87 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG); auf die Vorschriften der Wanderversicherung könne der Kläger daher sein Begehren, die Zeiten der Doppelversicherung bei der Ermittlung der anrechnungsfähigen Versicherungsjahre doppelt zu berücksichtigen, nicht stützen. Übrigens sei auch bei Anwendung der Wanderversicherungsvorschriften die doppelte Berücksichtigung dieser Zeiten nicht möglich: § 89 AVG verbiete zwar in Abs. 4 Satz 2 nur die doppelte Berücksichtigung von Ersatz-, Ausfall- und Zurechnungszeiten, schreibe aber im übrigen in Satz 1 die Zusammenrechnung der in der AV und JV zurückgelegten Beitragszeiten vor; über § 89 Abs. 3 und Abs. 4 Satz 3 sei jedoch auch § 35 Abs. 1 AVG anzuwenden, es könne sich nur um ein redaktionelles Versehen handeln, wenn in § 89 Abs. 4 Satz 1 AVG nicht auch - wie entsprechend in § 35 Abs. 1 AVG, § 88 Abs. 1 Satz 1 AVG - der Zusatz enthalten sei, "soweit sie nicht auf dieselbe Zeit entfallen". Für diese Auffassung spreche auch die Erwägung, daß es systemwidrig wäre, Beitragszeiten bei einer Doppelversicherung in einem Versicherungszweig nur einmal zu berücksichtigen, sie jedoch doppelt zu zählen, wenn die Doppelversicherung durch gleichzeitige Zugehörigkeit zu verschiedenen Versicherungszweigen begründet sei. Auch die Leistung der 96 freiwilligen Wochenbeiträge zur JV könne nicht zu einer Erhöhung der anzurechnenden Versicherungsjahre führen. Diese Beiträge seien nach Art. 2 § 15 Abs. 2 AnVNG als Höherversicherungsbeiträge zu behandeln; diese Vorschrift sei auch dann anzuwenden, wenn die Pflicht- und freiwilligen Beiträge zu verschiedenen Versicherungszweigen entrichtet worden seien.
Das LSG ließ die Revision zu. Das Urteil wurde dem Kläger am 27. September 1962 zugestellt. Am 6. Oktober 1962 legte der Kläger Revision ein und beantragte,
unter Aufhebung der angefochtenen Entscheidung die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG München vom 10. Juni 1960 zurückzuweisen.
Der Kläger begründete die Revision - nach Verlängerung der Revisionsbegründungsfrist - am 15. Dezember 1962: Das LSG habe die §§ 35 Abs. 1, 89 Abs. 4 Satz 2 AVG unrichtig angewandt; diese Vorschriften ständen der doppelten Anrechnung der Doppelversicherungszeiten bei der Ermittlung der anrechnungsfähigen Versicherungsjahre nicht entgegen; durch Art. 2 § 11 Abs. 2 AnVNG sei lediglich die doppelte Berücksichtigung dieser Zeiten bei der Ermittlung der persönlichen Bemessungsgrundlage untersagt. Die 96 freiwilligen Beiträge, die in den Jahren 1952/54 zur JV entrichtet worden seien, müßten ebenfalls zu einer Erhöhung der Versicherungsjahre führen; diese Beiträge könnten nicht nach Art. 2 § 15 Abs. 2 AnVNG als Höherversicherungsbeiträge angesehen werden, weil sie nicht unter diese Vorschrift fallen.
Die Beklagte beantragte,
die Revision zurückzuweisen.
Beide Beteiligten erklärten sich mit einem Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§§ 124 Abs. 2, 153 Abs. 1, 165 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
II
Die Revision ist zulässig (§§ 162 Abs. 1 Nr. 1, 164 SGG); sie ist jedoch nicht begründet.
Streitig ist, ob der Bescheid vom 14. Mai 1958 insoweit rechtmäßig ist, als darin bei der Ermittlung der anrechnungsfähigen Versicherungsjahre die Zeiten, die neben Pflichtbeiträgen zur AV auch mit Pflicht- bzw. freiwilligen Beiträgen zur JV belegt sind, nur einmal berücksichtigt sind; soweit der Kläger diesen Bescheid auch wegen der Nichtberücksichtigung weiterer Ausfallzeiten angefochten hat, hat bereits das SG die Klage abgewiesen; insoweit ist das Urteil des SG rechtskräftig geworden, denn Berufung hat lediglich die Beklagte eingelegt. Wie das LSG im Ergebnis richtig erkannt hat, ist der angefochtene Bescheid auch hinsichtlich der mit 49 Jahren errechneten Versicherungszeit rechtmäßig.
Das Verlangen des Klägers, die anrechnungsfähige Versicherungszeit um die Zeiten der Doppelversicherung in AV und JV zu erhöhen, ist nicht gerechtfertigt. Die Zeiten des Beschäftigungsverhältnisses vom 1. Januar 1913 bis zum 3. September 1916 und vom 25. Februar 1919 bis zum 25. November 1919, die mit Pflichtbeiträgen sowohl zur AV als auch zur JV belegt sind (sog. Doppelversicherung von insgesamt 254 Wochen), hat die Beklagte bei der Feststellung des Altersruhegeldes nach neuem Recht zutreffend nur einmal als anrechnungsfähige Versicherungszeit berücksichtigt. Zwar sind entgegen der Ansicht des LSG auf diese Zeiten die Vorschriften der Wanderversicherung (§§ 87 ff AVG) anzuwenden; der Kläger hat schon vor Eintritt in die AV Beiträge zu einem anderen Versicherungszweig, nämlich zur JV, geleistet. Die Vorschriften über die Wanderversicherung sind also anzuwenden, ohne daß zu entscheiden ist, ob auch dann, wenn der Versicherte im übrigen nur Beiträge zu einem Versicherungszweig geleistet hat, durch Zeiten der Doppelversicherung die Voraussetzung für die Anwendung der Vorschriften über die Wanderversicherung erfüllt werden. Diese Vorschriften gelten für das gesamte Versicherungsverhältnis, also auch für die hier streitige Frage der Berücksichtigung von Doppelversicherungszeiten. Nach den Vorschriften der Wanderversicherung ist - wie das LSG zutreffend ausgeführt hat - das Begehren des Klägers, die Versicherungszeit um die Zeiten der Doppelversicherung zu erhöhen, nicht gerechtfertigt. Die Frage, wie die in mehreren Versicherungszweigen zurückgelegten Versicherungszeiten zu behandeln sind, ist in den §§ 88 Abs. 1 und 89 AVG geregelt. § 88 Abs. 1 Satz 1 AVG schreibt vor, daß für die Erfüllung der Wartezeit die Versicherungszeiten (Beitrags- und Ersatzzeiten), die in den in § 87 genannten Zweigen der Rentenversicherung zurückgelegt sind, zusammengerechnet werden, "soweit sie nicht auf dieselbe Zeit entfallen". Damit ist klargestellt, daß insoweit die Zeiten der Doppelversicherung nur einmal berücksichtigt werden dürfen. Für die Ermittlung der anrechnungsfähigen Versicherungsjahre gilt nichts anderes; insoweit ist die Vorschrift des § 89 AVG anzuwenden, die Voraussetzungen und Höhe der Leistungen regelt. Wenn es in § 89 Abs. 4 Satz 1 AVG heißt, daß die in der AV und in der JV zurückgelegten Versicherungszeiten und anrechnungsfähigen Ausfallzeiten zusammengerechnet werden, so ist damit lediglich ein Grundsatz ausgesprochen. Dieser Grundsatz gilt nicht uneingeschränkt. Das ergibt sich nicht nur aus Satz 2 dieser Vorschrift, in dem ausdrücklich bestimmt ist, daß Ersatzzeiten, Ausfallzeiten und die Zurechnungszeit nur einmal berücksichtigt werden, sondern auch aus Abs. 3 und Abs. 4 Satz 3 i. V. m. § 35 Abs. 1 AVG. Da nach § 89 Abs. 3 AVG bei der Berechnung der Leistung jedes beteiligten Versicherungszweiges die für ihn maßgebenden Vorschriften anzuwenden sind und in Abs. 4 Satz 3 dieser Vorschrift vorgeschrieben ist, aus den danach anzurechnenden Zeiten sei nach den Vorschriften dieses Gesetzes eine einheitliche Leistung zu gewähren, ist auf die allgemeinen Berechnungsvorschriften und damit auch auf § 35 AVG verwiesen. § 35 Abs. 1 bestimmt aber ausdrücklich, daß bei der Ermittlung der anrechnungsfähigen Versicherungsjahre die auf die Wartezeit anzurechnenden Versicherungszeiten sowie die Ausfallzeiten und die Zurechnungszeit zusammengerechnet werden, soweit sie nicht auf dieselbe Zeit entfallen. Es wäre zwar klarer gewesen, wem das Gesetz entweder die in § 88 Abs. 1 Satz 1 AVG enthaltene Formulierung "soweit sie nicht auf dieselbe Zeit entfallen" auch in § 89 Abs. 4 Satz 1 AVG verwendet oder aber in § 89 Abs. 4 Satz 2 auch die "Versicherungszeiten" besonders erwähnt hätte, aber auch so läßt der Wortlaut des § 89 AVG eine nochmalige Berücksichtigung der Zeiten der Doppelversicherung bei der Ermittlung der anrechnungsfähigen Versicherungsjahre nicht zu. Auch mit der neuen Art der Rentenberechnung wäre es nicht zu vereinbaren, wenn die Doppelversicherungszeit, die auf demselben Beschäftigungsverhältnis beruht, doppelt berücksichtigt würde, weil dadurch die Faktoren der Rentenberechnung verfälscht würden. Wie sich aus den Vorschriften über die Zusammensetzung und Berechnung der Renten (§§ 30 ff AVG) ergibt, stellt die neue Rentenformel nicht mehr auf den Nennbetrag der geleisteten Beiträge, sondern auf den der Beitragsleistung zugrunde liegenden Bruttoarbeitsverdienst ab; die Rente neuen Rechts ist nicht "Gegenwert" für vorher erbrachte Geldleistungen, sie ist vielmehr "Gegenleistung" für vorher erbrachte Arbeitsleistung; der Wert der Arbeitsleistung kommt in dem erzielten Entgelt zum Ausdruck; dieser Wert wird aber nicht dadurch größer, daß der Versicherte - auf Grund desselben Beschäftigungsverhältnisses - sowohl in der AV als auch in der JV pflichtversichert ist, denn sein Bruttoarbeitsentgelt wird durch diese Doppelversicherung nicht berührt. Ebenso wie bei der Ermittlung des Verhältnisses des Bruttoarbeitsentgelts des Versicherten zu dem durchschnittlichen Bruttoarbeitsentgelt aller Versicherten für Zeiten der Doppelpflichtversicherung in der AV und in der JV die Beiträge zur JV nicht berücksichtigt werden dürfen, weil das Bruttoarbeitsentgelt (und damit der Wert der Arbeitsleistung) während dieses Zeitraums bereits durch die Beiträge zur AV repräsentiert wird (Art. 2 § 11 Abs. 2 AnVNG; vgl. auch §§ 2 und 3 der VO vom 9. Juli 1957 - BGBl I 696-), kann somit diese Beitragsleistung zur JV auch bei Ermittlung der übrigen Rentenberechnungsfaktoren keine Berücksichtigung finden.
Der Beklagte hat auch die 96 freiwilligen Wochenbeiträge, die der Kläger in den Jahren 1952/54 zur JV entrichtet hat, bei der Ermittlung der anrechnungsfähigen Versicherungsjahre mit Recht nicht berücksichtigt. Nach Art. 2 § 15 Abs. 2 AnVNG gelten die freiwilligen Beiträge, die - wie hier - in der Zeit vor dem 1. Januar 1957 neben Pflichtbeiträgen entrichtet worden sind, als Beiträge der Höherversicherung. Die 96 freiwilligen Wochenbeiträge zur JV, um die es hier geht, werden entgegen der Ansicht der Revision und des SG von dieser Vorschrift erfaßt; sie sind "neben" Pflichtbeiträgen entrichtet, denn der Kläger ist in den Jahren 1952 bis 1954 durchgehend in der AV pflichtversichert gewesen; diese Jahre sind durch die Pflichtbeiträge zur AV voll ausgefüllt. Daß die Pflichtbeiträge zur AV, die freiwilligen Beiträge jedoch zur JV entrichtet worden sind, steht der Anwendung dieser Vorschrift nicht entgegen; es ist nicht erforderlich, daß die neben Pflichtbeiträgen entrichteten freiwilligen Beiträge zu demselben Versicherungszweig geleistet worden sind. Daß diese 96 freiwilligen Wochenbeiträge in der Beitragsaufstellung der Landesversicherungsanstalt S (Bl. 20 R d. Rentenakte) in der Spalte 3 ("freiwillige Beiträge außer Art. 2 § 15 Abs. 2") und nicht in Spalte 7 ("freiwillige Beiträge zu Art. 2 § 15 Abs. 2") aufgeführt sind, ist unerheblich; diese Eintragung erklärt sich daraus, daß die LVA Schwaben insoweit nur die Beitragsleistung zur JV beurteilt hat, von ihrem Standpunkt aus sind diese Beiträge in Spalte 3 zu vermerken gewesen, da in den Jahren 1952 bis 1954 Pflichtbeiträge zur JV für den Kläger nicht nachgewiesen sind. Für die Beklagte jedoch, die als der nach § 90 Abs. 1 AVG zuständige Versicherungsträger die Gesamtleistung festzusetzen hat, handelt es sich insoweit um "freiwillige Beiträge zuArt. 2 § 15 Abs. 2 AnVNG".
Das LSG hat somit zu Recht auf die Berufung der Beklagten das Urteil des SG aufgehoben und die Klage in vollem Umfang abgewiesen. Die Revision des Klägers ist daher unbegründet und zurückzuweisen (§ 170 Abs. 1 Satz 1 SGG.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen