Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherungspflicht für Berufs-(Vor-)praktikant
Leitsatz (redaktionell)
1. Praktikanten, die ein in einer Studien- oder Prüfungsordnung vorgeschriebenes Praktikum absolvieren, aber noch nicht an einer Hochschule oder Fachhochschule immatrikuliert sind, unterliegen grundsätzlich als Arbeitnehmer der Versicherungspflicht in den Kranken-, Renten-, und Arbeitslosenversicherung. Für sie kommt Versicherungsfreiheit nach § 172 Abs 1 Nr 5 RVO, § 1228 Abs 1 Nr 3 RVO, § 4 Abs 1 Nr 4 AVG, § 169 Nr 1 AFG nicht in Betracht.
2. Eine Besonderheit gilt jedoch für diejenigen Praktikanten, die während des Praktikums keine Vergütung (Entgelt) erhalten. Sie gehören nicht zu den Lehrlingen iS des § 165 Abs 2 RVO und sind daher nicht krankenversicherungspflichtig nach § 165 Abs 1 Nr 1 oder 2 RVO. Sie gehören vielmehr zum Personenkreis der nach § 165 Abs 1 Nr 6 RVO krankenversicherungspflichtigen Praktikanten. Die Versicherungspflicht nach dieser Vorschrift ist allerdings ausgeschlossen, wenn bei Aufnahme der Tätigkeit ein Anspruch auf Familienkrankenpflege besteht (§ 175 Nr3 RVO).
Orientierungssatz
1. Personen, die vor Aufnahme des Studiums ein in Studien- oder Prüfungsordnungen vorgeschriebenes Berufspraktikum (Vorpraktikum) ohne Entgelt ableisten, sind nicht wie "Lehrlinge" nach § 165 Abs 1 Nr 1 oder 2 iVm Abs 2 krankenversicherungspflichtig (Bestätigung BSG vom 1980-12-17 12 RK 20/79 = SozR 2200 § 165 Nr 53).
2. Zu den "Lehrlingen" könnten Praktikanten, wenn überhaupt, allenfalls dann gerechnet werden, wenn sie eine umfassende Fachausbildung erhalten, die sie befähigt, den fraglichen Beruf selbst auszuüben und nicht nur einschlägigen Vorlesungen auf der Hochschule mit Verständnis zu folgen (so schon RVA GE 2650, AN 1921, 339, 340).
Normenkette
BBiG § 19 Fassung: 1969-08-14; AFG § 169 Nr. 1 Fassung: 1975-05-07; BBiG § 1 Abs. 2 Fassung: 1969-08-14; RVO § 165 Abs. 2 Fassung: 1956-06-12; SGB IV § 7 Abs. 2 Fassung 1976-12-23; AVG § 2 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1957-02-23, § 4 Abs. 1 Nr. 4 Fassung: 1957-02-23; RVO § 172 Abs. 1 Nr. 5 Fassung 1975-06-24, § 1228 Abs. 1 Nr. 3 Fassung: 1957-02-23, § 165 Abs. 1 Nr. 6 Fassung 1975-06-24, Abs. 6 S. 2 Fassung 1975-06-24; SGB IV § 2 Abs. 2 Nr. 1 Fassung 1976-12-23; RVO § 165 Abs. 1 Nr. 1 Fassung 1945-03-17, Nr. 2 Fassung: 1970-12-21, § 1227 Abs. 1 S. 1 Nr. 1
Verfahrensgang
SG Duisburg (Entscheidung vom 04.06.1980; Aktenzeichen S 21 Kr 73/80) |
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Klägerin während eines vor Beginn des Studiums unentgeltlich abgeleisteten Praktikums nach § 165 Abs 1 Nr 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) versicherungspflichtig in der gesetzlichen Krankenversicherung und deshalb Mitglied der Betriebskrankenkasse der Stadt Duisburg - Beklagte zu 2) - war oder ob für sie während dieser Zeit bei der Beklagten zu 1) ein Anspruch auf Familienkrankenhilfe aus der Krankenversicherung ihres Vaters nach § 205 RVO bestand.
Die Klägerin absolvierte zur Vorbereitung eines Studiums an der Katholischen Fachschule Nordrhein-Westfalen, Fachrichtung Sozialwesen, in der Zeit vom 1. September 1976 bis 28. Februar 1977 ein Praktikum bei der Stadt Duisburg, das entsprechend dem Mustervertrag für Praktikanten tarif- und vergütungsfrei war. Der bei der Betriebskrankenkasse Mannesmann AG - Beklagte zu 1) - versicherte Vater der Klägerin erhob am 23. September 1976 vor dem Urkundsbeamten der Geschäftsstelle des Sozialgerichts (SG) Duisburg Klage mit dem Antrag, "festzustellen, welche der vorgenannten Krankenkassen verpflichtet ist, meine Tochter Elke, geb 1956-05-25 während der Praktikantentätigkeit bei der Stadt Duisburg zu versichern". Mit Urteil vom 25. Mai 1977 stellte das SG fest, "daß die Beklagte zu 1) für die Klägerin in der Zeit vom 1. September 1976 bis 28. Februar 1977 während deren Praktikantenzeit bei der Stadt Duisburg die zuständige Krankenkasse war". Auf die vom SG zugelassene Sprungrevision der Beklagten zu 1) hat der erkennende Senat das Urteil des SG wegen unterlassener notwendiger Beiladung des Vaters der Klägerin aufgehoben und den Rechtsstreit an das SG zurückverwiesen (Urteil vom 30. Januar 1980). Nach erfolgter Beiladung hat das SG in der Sache erneut wie im Urteil vom 25. Mai 1977 entschieden (Urteil vom 4. Juni 1980). Es hat angenommen, daß die Klägerin zum Kreis der nach § 165 Abs 1 Nr 6 RVO versicherungspflichtigen Personen gehöre, die eine in Studien- oder Prüfungsordnungen vorgeschriebene berufspraktische Tätigkeit verrichten, daß sie jedoch nach § 175 Nr 3 RVO wegen des bestehenden Anspruchs auf Familienkrankenpflege von der Versicherungspflicht befreit sei.
Mit der - vom SG im Urteil zugelassenen - Sprungrevision vertritt die Beklagte zu 1) die Auffassung, daß § 165 Abs 2 RVO (Krankenversicherungspflicht von Lehrlingen auch bei Beschäftigung ohne Entgelt) nicht nur für Ausbildungsverhältnisse (Lehrverhältnisse), sondern auch für Praktikantenverhältnisse gelten müsse. Daß der Klägerin während des Praktikums keine Vergütung gewährt worden sei, stehe daher ihrer Versicherungspflicht nach § 165 Abs 1 Nr 2 RVO nicht entgegen.
Die Beklagte zu 1) beantragt,
das Urteil des SG aufzuheben und zu entscheiden,
daß die Beklagte zu 2) in der Zeit vom 1. September 1976
bis 28. Februar 1977 die für die Klägerin zuständige
Krankenkasse war.
Die im Revisionsverfahren nicht vertretene Klägerin und der Beigeladene haben sich zur Sache nicht geäußert.
Die Beklagte zu 2) hat keinen Antrag gestellt. Sie hält das Urteil des SG für zutreffend.
Alle Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes).
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten zu 1) ist unbegründet. Sie ist zurückzuweisen.
Das SG hat zu Recht angenommen, daß die Klägerin in der streitigen Zeit nicht der Krankenversicherungspflicht nach § 165 Abs 1 Nr 2 iVm Abs 2 RVO unterlag, sondern zum Personenkreis der nach § 165 Abs 1 Nr 6 RVO versicherungspflichtigen Praktikanten gehörte, daß sie jedoch gemäß § 175 Nr 3 RVO wegen des für sie nach § 205 RVO gegen die Beklagte zu 1) bestehenden Anspruchs auf Familienkrankenpflege von der Versicherungspflicht nach § 165 Abs 1 Nr 6 RVO befreit war. Das SG hat demzufolge zu Recht die Beklagte zu 1) als die für die Klägerin zuständige Krankenkasse festgestellt.
Wie der Senat bereits mit Urteil vom 17. Dezember 1980 - 12 RK 20/79 - entschieden hat, sind Personen, die vor Aufnahme des Studiums ein in Studien- oder Prüfungsordnungen vorgeschriebenes Berufspraktikum (Vorpraktikum) ohne Entgelt ableisten, nicht wie "Lehrlinge" nach § 165 Abs 1 Nr 1 oder 2 iVm Abs 2 RVO versicherungspflichtig. Auch wenn unterstellt wird, daß ein solcher Vorpraktikant bei der Ableistung des Berufspraktikums schon aus organisatorischen Gründen in den betreffenden Betrieb eingegliedert und gewissen Weisungen unterworfen ist, er mithin die Merkmale eines abhängig Beschäftigten aufweist, erfüllt er nicht die rechtlichen Voraussetzungen eines "Lehrlings". Zu den "Lehrlingen" könnten Praktikanten, wenn überhaupt, allenfalls dann gerechnet werden, wenn sie eine umfassende Fachausbildung erhalten, die sie befähigt, den fraglichen Beruf selbst auszuüben und nicht nur einschlägigen Vorlesungen auf der Hochschule mit Verständnis zu folgen (so schon RVA, GE 2650, AN 1921, 339, 340, wo die Lehrlingseigenschaft verneint worden ist für "Maschinenbaubeflissene", die vor ihrem Hochschulstudium ein Jahr in einer Eisenbahnwerkstatt praktisch arbeiteten; die Notwendigkeit einer "umfassenden" Fachausbildung betonen auch Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 51. Nachtrag, S 303 c, und Peters, Handbuch der Krankenversicherung, 49. Nachtrag, Anm 5 zu § 165 a RVO, S 17/83).
Dieser enge, Praktikanten im allgemeinen ausschließende Lehrlingsbegriff gilt bis heute. In der Rentenversicherung hat er allerdings seine - die Versicherungspflicht von Ausbildungsbeschäftigten einschränkende - Bedeutung dadurch verloren, daß dort seit 1957 den Lehrlingen diejenigen gleichgestellt worden sind, die "sonst zu ihrer Berufsausbildung beschäftigt sind" (§ 1227 Abs 1 Nr 1 RVO) oder die "sonst zu ihrer Ausbildung für den Beruf als Angestellte beschäftigt sind" (§ 2 Abs 1 Nr 1 AVG), was auch für Praktikanten zutrifft. Eine entsprechende Gleichstellungsvorschrift für die Krankenversicherung ist bisher nicht ergangen (vgl den - nicht Gesetz gewordenen - Entwurf eines Krankenversicherungs-Neuregelungsgesetzes, BR-Drucks 342/62, § 166 Abs 1 Nr 1 RVO und die Begründung dazu, S 7 und S 72 aaO).
Auch das Berufsbildungsgesetz (BBiG) vom 14. August 1969, das die Bezeichnung Lehrling durch Auszubildenden ersetzt hat, hat den alten Lehrlingsbegriff in der Sache im wesentlichen beibehalten (vgl § 1 Abs 2; danach hat die Berufsausbildung eine breit angelegte berufliche Grundbildung und die für die Ausübung einer qualifizierten Berufstätigkeit notwendigen fachlichen Fertigkeiten und Kenntnisse in einem geordneten Ausbildungsgang zu vermitteln). Daß die §§ 3 bis 18 BBiG nach § 19 mit bestimmten Einschränkungen auch für Personen gelten, die eingestellt werden, um berufliche Kenntnisse, Fertigkeiten oder Erfahrungen zu erwerben, ohne daß es sich um eine Berufsausbildung iS dieses Gesetzes handelt, macht diese Personen nicht zu Auszubildenden oder Lehrlingen. Daß eine Beschäftigung solcher Personen im Rahmen betrieblicher Berufsbildung als eine Beschäftigung iS des Sozialversicherungsrechts gilt (§ 7 Abs 2 SGB 4), begründet für sie nicht ohne weiteres Versicherungspflicht; denn eine Versicherungspflicht der zu ihrer Berufsausbildung Beschäftigten besteht nur "nach Maßgabe der besonderen Vorschriften für die einzelnen Versicherungszweige" (§ 2 Abs 2 Nr 1 SGB 4). In der Krankenversicherung sind danach bei unentgeltlicher Beschäftigung nur Lehrlinge versicherungspflichtig, zu denen die Klägerin nicht gehört.
Da sonach die Klägerin nicht versicherungspflichtig nach § 165 Abs 1 Nr 2 iVm Abs 2 RVO war, kam für sie nur eine Versicherungspflicht nach § 165 Abs 1 Nr 6 RVO in Betracht, von der sie jedoch wegen eines - für sie gegen die Krankenkasse ihres Vaters nach § 205 RVO bestehenden - Anspruchs auf Familienkrankenpflege nach § 175 Nr 3 RVO befreit war.
Der Einwand der Beklagten zu 1), aus dem Wortlaut des Satzes 2 dieser Vorschrift "Die Versicherungsfreiheit besteht bis zum Ende des Semesters ..." könne geschlossen werden, daß der Gesetzgeber nur berufspraktische Tätigkeiten während der Studienzeit bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen für versicherungsfrei habe erklären wollen, geht fehl. Daß auch eine Versicherungspflicht nach § 165 Abs 1 Nr 6 RVO, die durch studien- oder prüfungsordnungsmäßig vorgeschriebene, aber außerhalb der Zeiten einer Immatrikulation abgeleitete Vorpraktika begründet wird, durch den - insoweit vorrangigen - Anspruch auf Familienkrankenpflege verdrängt wird, entspricht dem Wortlaut und Zweck des Gesetzes sowie der Gesetzessystematik, nicht anders wie dies für die Nachrangigkeit des § 165 Abs 1 Nr 6 RVO bei berufspraktischen Tätigkeiten während eines bereits mit der Immatrikulation begonnenen Studiums gilt. Nach § 175 Nr 3 Satz 1 RVO ist als Voraussetzung für die Befreiung von der Versicherungspflicht das Bestehen eines Anspruchs auf Familienkrankenpflege bei Beginn des Semesters "oder ... im Zeitpunkt der Aufnahme der berufspraktischen Tätigkeit" vorgesehen. Der Gesetzgeber hat also durchaus den Sachverhalt berücksichtigt, daß jemand eine berufspraktische Tätigkeit außerhalb eines Semesters, dh außerhalb der Zeit einer Immatrikulation, verrichtet. Im übrigen wird sich im Normalfall an ein durch Studien- oder Prüfungsordnungen vorgeschriebenes Vorpraktikum das eigentliche Studium zeitlich eng anschließen, so daß es entbehrlich erscheinen konnte, den Fall ausdrücklich zu regeln, daß der Anspruch auf Familienkrankenpflege noch während der dem Studium vorgeschalteten berufspraktischen Tätigkeit erlischt (zu dem Fall, daß der Anspruch während des Studiums erlischt, vgl Urteil des BSG vom 14. Januar 1981, 3 RK 42/79).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
RegNr, 9221 |
Das Beitragsrecht Meuer, 425 A 3 a 35 (ST1-2) |
USK 81107, (ST1, OT1) |
VdKMitt 1982, Nr 1, 37-38 (SP1) |
BKK 1982, 38 (ST1-2) |
Die Beiträge 1982, 92-95 (ST1, 2, OT1) |
SozSich 1982, 86 (S3) |