Leitsatz (amtlich)
Ein körperbehinderter Jugendlicher ist Berufsanwärter iS der AVAVG §§ 39 und 46, wenn er sich Ausbildungs- und Förderungsmaßnahmen unterzieht, die mit Aussicht auf Erfolg dahin zielen, ihn für den Eintritt in das Erwerbsleben zu befähigen.
Leitsatz (redaktionell)
Die Übernahme von Kosten durch die Arbeitsverwaltung für bereits durchgeführte Rehabilitationsmaßnahmen - Berufsausbildung - setzt voraus, daß bei deren Beginn hinreichende Aussicht auf Erfolg bestand, dh daß mit den zu vermittelnden Fähigkeiten der Behinderte in die Lage versetzt werden kann, eine übliche Arbeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt verrichten zu können, wobei während der Dauer der Ausbildung keine heiltherapeutischen Maßnahmen im Vordergrund gestanden haben dürfen.
Normenkette
AVAVG § 39 Abs. 3 Fassung: 1957-04-03, Abs. 4 Fassung: 1957-04-03, § 46 Abs. 2 Fassung: 1957-04-03
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 26. April 1968 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Im Auftrag des Landessozialhilfeamtes B hatte der Vater der schwer körperbehinderten E K im Mai 1964 die Bewilligung einer Berufsausbildungsbeihilfe für seine Tochter beim Arbeitsamt beantragt. Das 1946 geborene Mädchen, das an erblicher Ataxie leidet, hatte ihre zunächst am 1. April 1962 bei einem Schneidermeister begonnene Lehre schon nach wenigen Wochen abbrechen müssen, da es unmöglich erschien, das Ziel der Lehre zu erreichen. Sie wurde dann von September 1962 bis Oktober 1964 an einer orthopädischen Heil- und Lehranstalt, dem A.-stift in H, als Wäscheschneiderin ausgebildet. Die Kosten hierfür in Höhe von über DM 12.000,- trug das Landessozialhilfeamt, das den geltend gemachten Anspruch auf Berufsausbildungsbeihilfe im Juni 1964 gemäß § 90 des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) auf sich überleitete. Die Arbeitsverwaltung lehnte die Gewährung von Berufsausbildungsbeihilfe ab, weil die körperbehinderte E K während ihrer fachlichen Ausbildung in einer Einrichtung der Körperbehindertenhilfe untergebracht sei und deshalb nur Leistungen nach dem BSHG in Betracht kämen (Bescheid vom 10. August 1964). Der Widerspruch hiergegen blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 11. Februar 1965). Die Klage des Landes Niedersachsen (Landessozialhilfeamt) wurde vom Sozialgericht (SG) abgewiesen (Urteil vom 29. November 1965), seine Berufung vom Landessozialgericht (LSG) zurückgewiesen (Urteil vom 26. April 1968). E K sei weder "Arbeitssuchende" noch "Berufsanwärter" im Sinne des § 39 des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG), weil sie bei ihrer Einweisung in das A.-stift grundsätzlich überhaupt nicht vermittlungsfähig gewesen sei. Ihr Vater habe erstmals wenige Monate vor Beendigung der Heimausbildung im A.-stift im Auftrage des Landessozialhilfeamtes die Gewährung einer Berufsausbildungsbeihilfe beantragt, nachdem zuvor die Arbeitsverwaltung niemals eingeschaltet oder beteiligt gewesen sei. Aus anderen Vorschriften des AVAVG lasse sich ein Anspruch auf Berufsausbildungsbeihilfe ebenfalls nicht herleiten. Insbesondere liege kein Ermessensfehler vor, wenn in den zu §§ 131 bis 138 AVAVG erlassenen Richtlinien des Verwaltungsrats der Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (Fassung vom 9. März 1956 = BABl 1957, 276) unter Ziff. 4 Buchst. c bestimmt sei, daß eine Berufsausbildungsbeihilfe nicht gewährt wird, wenn der Auszubildende aufgrund von Bestimmungen des BSHG in einer Anstalt, in einem Heim oder einer gleichartigen Einrichtung untergebracht ist.
Die Revision wurde zugelassen.
Der Kläger hat Revision eingelegt und beantragt,
das angefochtene Urteil, das vorausgegangene Urteil des SG vom 29. November 1965 und den Bescheid der Beklagten vom 12. Oktober 1964 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 11. Februar 1965 aufzuheben,
sowie,
die Beklagte zu verurteilen, einen neuen Bescheid unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu erteilen.
Zur Begründung führt der Kläger im wesentlichen aus, das LSG habe verkannt, wer als "Arbeitsuchender" und "Berufsanwärter" im Sinne des § 39 Abs. 3 und 4 AVAVG anzusehen sei. Hierzu müßten auch die Personen gerechnet werden, die vor der Ausbildungsmaßnahme nicht im Arbeitsleben gestanden hätten und deren Unterbringung auf dem Ausbildungsstellenmarkt wegen ihrer Körperbehinderung Schwierigkeiten bereite. Ob jemand für eine Maßnahme der Eingliederung in Frage komme, richte sich danach, ob eine Rehabilitationsmaßnahme voraussichtlichen Erfolg haben werde. Dies sei bei E K zu bejahen gewesen. Überdies sei die Betroffene nicht nur rehabilitationsfähig, sondern auch rehabilitationsbereit gewesen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil im Ergebnis für zutreffend. Ihre Pflicht zur Kostentragung beschränke sich gemäß § 39 Abs. 3 AVAVG bei Berufsanwärtern auf Maßnahmen, die den Ausbildungswilligen an ein marktübliches Ausbildungsverhältnis heranführen. Bei E K dagegen sei nur eine heimgebundene Ausbildung in Betracht gekommen, weil durch ihre Körperbehinderung die Fähigkeit, eine Ausbildung unter den Bedingungen des Ausbildungsstellenmarktes zu durchlaufen, dauernd aufgehoben war. Folglich sei sie nicht Berufsanwärterin im Sinne des § 39 Abs. 3 AVAVG gewesen. Dieses Ergebnis bestätige im übrigen auch die Regelung in dem neuen Arbeitsförderungsgesetz (AFG), das die heimgebundene Ausbildung von Behinderten ausdrücklich in die Zuständigkeit der Sozialhilfeträger verweise.
II
Die Revision des Klägers ist zulässig und statthaft. Sie hat insofern Erfolg, als die Sache unter Aufhebung des angefochtenen Urteils zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden muß.
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte verpflichtet ist, gemäß § 39 Abs. 3 AVAVG iVm § 139 AVAVG und den hier zu ergangenen Vorschriften des Verwaltungsrats vom 27. März 1958 (BABl 1958, 609), die Kosten für die Ausbildungsmaßnahmen der E K im A.-stift in H zu tragen.
Nach § 39 Abs. 3 AVAVG hat die Beklagte, soweit zur Eingliederung von Arbeitsuchenden und Berufsanwärtern Maßnahmen zur Erhaltung, Besserung und Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit geistig oder körperlich behinderter Personen erforderlich werden, die notwendigen Maßnahmen der Arbeits- und Berufsförderung zu veranlassen. Die Beklagte kann derartige Maßnahmen selbst durchführen, kann ferner Einrichtungen, die Maßnahmen zur Erhaltung, Besserung und Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit durchführen, durch Darlehen und Zuschüsse fördern. § 39 Abs. 4 AVAVG regelt hierbei das Zusammenwirken mit anderen Leistungsträgern. Somit bestimmt das Gesetz einmal den Personenkreis (Arbeitsuchende und Berufsanwärter), der von der Beklagten betreut werden soll, zum anderen die Aufgaben, die ihr im Rahmen der beruflichen Rehabilitation zufallen. Die Absätze 3 und 4 des § 39 AVAVG ziehen die Folgerungen aus Abs. 2, der das Gebot enthält: "Bei der Arbeitsvermittlung hat die Bundesanstalt die besonderen Verhältnisse der Arbeitsuchenden, deren Unterbringung unter den üblichen Bedingungen des Arbeitsmarktes erschwert ist, gebührend zu berücksichtigen." Der erkennende Senat hat bereits in seinem Urteil vom 15. März 1967 (BSG 26, 155 ff) entschieden, daß die notwendigen Maßnahmen der Arbeits- und Berufsförderung bei geistig oder körperlich behinderten Arbeitsuchenden Pflichtleistungen der Beklagten sind (§ 39 Abs. 3 und 4 AVAVG), sofern aufgrund gesetzlicher Vorschriften nicht anderweit hierfür ein Kostenträger vorrangig zuständig ist. Diese Pflichtleistungen können deshalb auch nicht durch Richtlinien oder Durchführungsvorschriften des Verwaltungsrates der beklagten Bundesanstalt außer Kraft gesetzt oder abgeändert werden.
Gemäß § 46 Abs. 2 AVAVG gilt § 39 Abs. 2 und 4 AVAVG entsprechend für jede Tätigkeit, die auf das Zustandekommen von beruflichen Ausbildungsverhältnissen gerichtet ist. Folglich ist im vorliegenden Fall von wesentlicher Bedeutung, ob E K als Berufsanwärterin zu gelten hat. Berufsanwärter im Sinne des AVAVG (§ 39 Abs. 3, § 46 Abs. 1 Satz 2) ist jede Person, die einen Beruf ernsthaft anstrebt. Ausgehend von der im Tatbestand des Berufungsurteils enthaltenen Feststellung, daß E K zunächst schon im April 1962 ein (freilich dann erfolgloses) Lehrverhältnis eingegangen war, wird der nachhaltige Wille des Mädchen (und ihrer Eltern), den Zugang für eine spätere Erwerbstätigkeit durch eine Heimausbildung zu erreichen, nicht schlechthin verneint werden können. Das LSG muß hierzu noch ergänzende Ermittlungen treffen. Für den ernstlichen Lern- und Arbeitswillen eines Berufsanwärters ist in der Regel nicht entscheidend, ob dieser ihn etwa durch ein förmliches Gesuch um Vermittlung einer Lehr- oder Ausbildungsstelle gegenüber dem Arbeitsamt bekundet hat, es kann vielmehr ein entsprechendes tatsächliches Verhalten ausreichen. Dies gilt namentlich dann, wenn die Vermittlung infolge körperlicher Behinderung erschwert oder eingeschränkt ist, aber durch zweckmäßige Förderungsmaßnahmen hergestellt werden kann. Ein körperbehinderter Jugendlicher ist jedenfalls dann Berufsanwärter im Sinne der §§ 39 und 46 AVAVG, wenn er sich Ausbildungs- und Förderungsmaßnahmen unterzieht, die mit Aussicht auf Erfolg dahin zielen, ihn für den Eintritt in das Erwerbsleben (allgemeiner Arbeitsmarkt) zu befähigen. Eine Verpflichtung zur Übernahme einschlägiger Kosten gemäß § 39 AVAVG könnte allenfalls nur dann entfallen, wenn die Beklagte von den Betreuern und den Betreuten bewußt und gewollt bei den Ausbildungs- und Förderungsmaßnahmen ausgeschaltet würde.
Das LSG wird weiterhin aber noch zu klären haben, ob die durch erbliche Ataxie schwer körperbehinderte E K überhaupt rehabilitationsfähig gewesen ist. Festzustellen hierfür wäre also, ob hinreichende Aussicht darauf bestanden hat, daß das Mädchen durch Aufnahme und Ausbildung in der "Orthopädischen Heil- und Lehranstalt A.-stift eV in H" befähigt werden konnte, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt eine Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen auszuüben (§ 76 AVAVG). Rehabilitationsmäßige Betreuung und Förderung, bei denen dieses Ziel wahrscheinlich nicht erreichbar ist oder bei der von vornherein die medizinischen und heiltherapeutischen Maßnahmen - nach Umfang oder aufzuwendenden Kosten - im Vordergrund stehen, fallen nicht unter die Pflichtleistung der beklagten Bundesanstalt nach § 39 AVAVG. Solche Maßnahmen gehören vielmehr zu den Aufgaben der Eingliederungshilfe für Behinderte nach §§ 39 ff BSHG.
Zur Abgrenzung der hier fraglichen Zuständigkeit hat das LSG die unerläßlichen Feststellungen über Art und Ausmaß der zustandsbedingten Unterbringung, Behandlung und Schulung von E K im A.-stift in H nachzuholen.
Da der Senat mangels ausreichender Feststellungen nicht selbst abschließend entscheiden konnte, mußte die Sache - ohne Erörterung darüber, ob das Inkrafttreten des neuen AFG etwa Rechtsänderungen bewirkt - an das LSG zurückverwiesen werden (§ 170 Abs. 2 und 4 des Sozialgerichtsgesetzes).
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen