Leitsatz (redaktionell)
Der Unterhaltsanspruch einer früheren Ehefrau, der eine Hinterbliebenenrente nach RVO § 1265 auslösen soll, muß mehr als nur einen geringfügigen Teil des Unterhalts ausmachen; in der Regel werden etwa 25 % des zeitlich und örtlich notwendigen Mindestbedarfs eines Unterhaltsberechtigten gefordert.
Normenkette
RVO § 1265 Fassung: 1965-06-09
Tenor
Auf die Revisionen der Beklagten und der Beigeladenen zu 1) wird das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 18. Februar 1971 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Klägerin als der früheren Ehefrau des im Juli 1968 verstorbenen Otto F (Versicherter) Hinterbliebenenrente nach § 1265 der Reichsversicherungsordnung (RVO) zusteht.
Die Ehe der Klägerin mit dem Versicherten wurde im Oktober 1950 ohne Schuldausspruch geschieden. Im September 1951 verurteilte das Amtsgericht Hamburg-Altona den Versicherten zur Zahlung von monatlich 35 DM Unterhalt an die Klägerin. Der Versicherte verdiente damals durchschnittlich 218 DM netto im Monat. Im Oktober 1962 stellte er die bis dahin regelmäßigen Unterhaltszahlungen an die Klägerin ein, nachdem er arbeitsunfähig erkrankt war. Seit November 1963 bezog er eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit in Höhe von zuletzt 406 DM. Seine zweite Ehefrau, die er im Jahre 1957 geheiratet hatte - Beigeladene zu 1) -, verdiente zuletzt monatlich 334 DM. Die Klägerin war ohne Einkommen und lebte nach der Scheidung im Haushalt ihrer berufstätigen Schwester. Den Anspruch aus dem Unterhaltsurteil verfolgte sie nach 1962 nicht weiter. Die Beigeladene zu 2) bewilligte ihr im November 1967 eine monatliche Sozialhilfe in Höhe von 102 DM. Da die Klägerin das Geld nicht abholte, wurden die Zahlungen wieder eingestellt. Erst aufgrund einer neuen Bewilligung erhält die Klägerin seit November 1968 laufend Sozialhilfeleistungen.
Die Beklagte lehnte den Rentenantrag mit der Begründung ab, der Versicherte sei zur Zeit seines Todes nicht verpflichtet gewesen, der Klägerin Unterhalt zu leisten (Bescheid vom 9. Juli 1969). Das Sozialgericht (SG) wies die Klage mit der gleichen Begründung ab. Auf die Berufung der Beigeladenen zu 2) wurde die Beklagte verurteilt, der Klägerin neben der Beigeladenen zu 1) Hinterbliebenenrente zu gewähren: Die Klägerin habe einen Anspruch nach der zweiten Alternative des § 1265 RVO, weil sie zur Zeit des Todes des Versicherten gegen ihn einen Unterhaltsanspruch in Höhe von 35 DM monatlich gehabt habe. Der Versicherte habe die Wirkungen des Unterhaltsurteils nicht nach den §§ 323, 767 der Zivilprozeßordnung (ZPO) beseitigen können, weil sich seine Einkommensverhältnisse nicht verschlechtert hätten. Die Klägerin habe auf ihre Ansprüche aus dem Unterhaltsurteil auch nicht verzichtet. Der Betrag von 35 DM monatlich sei als Unterhalt im Sinne der Rechtsprechung anzusehen, da er etwa 25 v. H. des örtlich und zeitlich notwendigen Mindestbetrags der Klägerin - hier der vom Sozialamt für die Klägerin errechnete Betrag von 102 DM monatlich - gedeckt habe und im Hinblick auf den Bedarf der Klägerin auch wertmäßig ins Gewicht gefallen sei (Urteil vom 18. Februar 1971).
Gegen dieses Urteil haben die Beklagte und die Beigeladene zu 1) die zugelassene Revision eingelegt. Sie rügen die unrichtige Anwendung des materiellen Rechts, Verstöße gegen die Amtsermittlungspflicht und eine Überschreitung des Rechts der freien richterlichen Beweiswürdigung.
Die Beklagte und die Beigeladene zu 1) beantragen, das Urteil des Landessozialgerichts (LSG) Hamburg vom 18. Februar 1971 aufzuheben und die Berufung der Beigeladenen zu 2) zurückzuweisen, hilfsweise, das Urteil des LSG Hamburg aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.
Die Beigeladene zu 2) beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Sie macht sich die Rechtsauffassung des LSG zu eigen und weist ergänzend darauf hin, daß die Klägerin mit einer Änderungsklage Erfolg gehabt hätte, weil der Versicherte zu einer Unterhaltszahlung von ca. 135 DM monatlich fähig gewesen wäre.
Die Klägerin ist im Revisionsverfahren nicht durch einen zugelassenen Prozeßbevollmächtigten im Sinne des § 166 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) vertreten.
II
Die durch Zulassung statthaften Revisionen der Beklagten und der Beigeladenen zu 1) sind insoweit begründet, als das angefochtene Urteil aufzuheben und der Rechtsstreit zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist.
Der Auffassung des LSG, das von der Klägerin im Jahre 1951 gegen den Versicherten erwirkte Urteil über eine monatliche Unterhaltszahlung von 35 DM begründe den Anspruch der Klägerin auf die Witwenrente nach der 2. Alternative des § 1265 RVO, kann nicht gefolgt werden. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) muß der Unterhaltsanspruch einer geschiedenen Frau, um diese Rente auszulösen, mehr als einen nur geringfügigen Teil des Unterhalts ausmachen; in der Regel werden etwa 25 v. H. des zeitlich und örtlich notwendigen Mindestbedarfs eines Unterhaltsberechtigten gefordert (BSG 22, 44; SozR Nr. 41 und Nr. 49 zu § 1265 RVO). Dieser Mindestbedarf kann aber im vorliegenden Fall nicht mit dem vom Sozialamt errechneten Betrag von 102 DM monatlich gleichgesetzt werden.
Das Sozialamt hat die Klägerin als Haushaltsangehörige behandelt und bei der Festsetzung der Leistung den für sie geltenden Regelsatz i. S. des § 22 des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) zugrunde gelegt. Dieser Satz entspricht indes schon deswegen nicht dem Gesamtaufwand für den notwendigen Lebensunterhalt, weil daneben in der Regel noch die Kosten für die Unterkunft zu berücksichtigen sind (vgl. §§ 3, 4 der Verordnung zur Durchführung des § 22 BSHG vom 20. Juli 1962, BGBl I 515). Die Kosten der Unterkunft hat das Sozialamt hier nur deshalb nicht übernommen, weil die Klägerin in der Familie ihrer Schwester wohnt und keine Miete zahlt (vgl. §§ 16, 78 Abs. 2 BSHG). Bei der Feststellung des Mindestbedarfs ist jedoch nicht allein von den Leistungen auszugehen, die im Einzelfall nach den Vorschriften des BSHG zu erbringen sind. Denn die Erheblichkeit einer Unterhaltsleistung bemißt sich nach dem Gesamtaufwand für den notwendigen Lebensunterhalt und nicht nach der etwa bestehenden Deckungslücke. Andernfalls würden - worauf die Revision der Beklagten zutreffend hinweist - diejenigen früheren Ehefrauen bevorzugt, deren Bedarf nicht ausschließlich aus den Mitteln der Sozialhilfe gedeckt wird.
Legt man aber den notwendigen Gesamtbedarf der Klägerin zugrunde, so ergibt sich, daß der im Jahre 1951 festgesetzte Unterhaltsbetrag von 35 DM monatlich zur Zeit des Todes des Versicherten im Jahre 1968 eine zu geringe Unterhaltszahlung bedeutet: Als Anhaltswert für den Mindestbedarf kann der Regelsatz für eine alleinstehende Person zuzüglich einer entsprechenden Mietpauschale herangezogen werden. Der Regelsatz für eine alleinstehende Person belief sich im Jahre 1968 in Hamburg auf 135 DM monatlich. Ohne die monatlichen Kosten der Unterkunft konkret zu beziffern, kann jedenfalls ausgeschlossen werden, daß 35 DM monatlich ein Viertel des Mindestbedarfs zur damaligen Zeit erreichten, weil die Unterhaltsleistung schon dann unter 25 % absinkt, wenn die Aufwendungen für die Unterkunft monatlich 5 DM übersteigen.
Da hiernach die Voraussetzungen der 2. Alternative des § 1265 Satz 1 RVO nicht erfüllt sind, war das angefochtene Urteil aufzuheben, ohne daß es insoweit noch darauf ankommt, ob die von den Revisionen gerügten wesentlichen Mängel im Verfahren des LSG vorliegen.
Das LSG hatte von seinem abweichenden Rechtsstandpunkt aus nicht zu prüfen, ob die Klägerin gegen den Versicherten zur Zeit seines Todes einen über den titulierten Anspruch hinausgehenden Unterhaltsanspruch nach den Vorschriften des Ehegesetzes (EheG) gehabt hat (1. Alternative des § 1265 Satz 1 RVO). Da sich nach den Feststellungen des LSG das Einkommen des Versicherten von 1951 bis 1968 nahezu verdoppelt hat, ist auch unter Berücksichtigung des Anstiegs der Lebenshaltungskosten in diesem Zeitraum (vgl. hierzu die Statistischen Jahrbrücher für die Bundesrepublik Deutschland 1965, 497 und 1971, 445) nicht auszuschließen, daß hiernach der Anspruch der Klägerin auf Hinterbliebenenrente begründet ist. Der Senat vermag dies nicht abschließend zu entscheiden, weil Feststellungen darüber fehlen, ob und inwieweit die Gewährung von Unterhalt an die Klägerin im letzten wirtschaftlichen Dauerzustand vor dem Tode, welcher mit der letzten Erhöhung der Rente des Versicherten im Januar 1968 begonnen hatte, im Sinne von § 61 Abs. 2 EheG der Billigkeit entsprach.
Vorab wird das LSG allerdings erneut zu prüfen haben, ob die Klägerin auf einen etwaigen gesetzlichen Unterhaltsanspruch im maßgebenden letzten Zeitraum vor dem Tode des Versicherten verzichtet hat. Dafür könnte sprechen, daß die Klägerin seit der Erkrankung und dem Rentenbezug des Versicherten weder versucht hat, aus dem Unterhaltsurteil zu vollstrecken noch die ihr vom Sozialamt - unter Überleitung des Unterhaltsanspruchs - bewilligte Sozialhilfe in Anspruch genommen hat. Insoweit wird - womöglich durch Vernehmung von Zeugen - zu klären sein, ob die Klägerin den für einen Rechtsverzicht notwendigen rechtsgeschäftlichen Willen gehabt hat, dem Versicherten die Unterhaltsschuld zu erlassen (§ 397 Abs. 1 BGB). Ein derartiger Aufgabewille setzt indes voraus, daß die Klägerin Kenntnis wenigstens von der Möglichkeit des Bestehens eines Unterhaltsanspruchs gehabt hat (vgl. Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, 17. Aufl., Anm. 2 zu § 397 BGB mit weiteren Nachweisen).
Aus diesen Gründen mußte die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen werden (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).
Die Kostenentscheidung bleibt der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen