Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfahrensmangel - Sachaufklärung - Bezugnahme - Verwaltungsakten - Sachverständiger - Gutachten - Dolmetscher
Orientierungssatz
Verletzung der Sachaufklärungspflicht, soweit das LSG sich in seiner Entscheidung ua auf das im Vorverfahren erstattete Gutachten gestützt hat, obwohl der Sachverständige ausdrücklich auf die Unzulänglichkeit der Beurteilung des psycho-pathologischen Befundes wegen der eingeschränkten sprachlichen Verständigung mit dem Versicherten (italienischer Staatsbürger) hingewiesen hatte.
Normenkette
GVG § 185; SGG §§ 103, 128
Verfahrensgang
Tatbestand
Streitig ist, ob die Beklagte dem Kläger Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU), hilfsweise Berufsunfähigkeit (BU) zu gewähren hat.
Der im August 1938 geborene Kläger ist italienischer Staatsangehöriger und war in seiner Heimat zwischen 1956 und 1964 mit Unterbrechungen als Arbeiter tätig. 1964 kam er in die Bundesrepublik Deutschland und war hier mit Unterbrechungen als Bauhilfsarbeiter sowie als Arbeiter bei einem Hersteller von Gaszählern und bei einem Hygienepapierhersteller beschäftigt. Seit April 1978 ist er arbeitslos bzw arbeitsunfähig krank. Seit 1981 bezieht er vom italienischen Versicherungsträger Invalidenrente.
Ein erster Rentenantrag des Klägers von November 1976 wurde abgelehnt (Bescheid vom 18. Mai 1977). Der zweite Rentenantrag vom September 1981 war ebenfalls erfolglos (Bescheid vom 28. Januar 1982; Widerspruchsbescheid vom 21. Oktober 1982 sowie Urteile des Sozialgerichts ≪SG≫ Mainz vom 28. April 1983 - S 7 I 261/82 - und des Landessozialgerichts ≪LSG≫ Rheinland-Pfalz vom 12. Dezember 1983 - L 2 I 118/83 -). Im Juli 1984 stellte der Kläger den dritten Rentenantrag, den die Beklagte wiederum ablehnte (Bescheid vom 26. November 1984; Widerspruchsbescheid vom 9. Juli 1985). Klage, Berufung und Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision hatten keinen Erfolg (Urteile des SG Mainz vom 20. Dezember 1985 - S 5 I 246/85 - und des LSG Rheinland-Pfalz vom 11. August 1986 - L 2 I 44/86 - sowie Beschluß des Bundessozialgerichts ≪BSG≫ vom 27. April 1987 - 5b BJ 250/86 -).
Den jetzt streitbefangenen vierten Rentenantrag vom August 1991 begründete der Kläger wie bei früheren Anträgen mit einem Attest seines behandelnden Arztes Dr. C. sowie des Orthopäden Dr. A. . Nach umfangreicher medizinischer Sachaufklärung lehnte die Beklagte auch diesen Rentenantrag ab, weil weder EU noch BU vorliege (Bescheid vom 29. April 1992; Widerspruchsbescheid vom 27. April 1993). Die hiergegen gerichtete Klage hat das SG Mainz abgewiesen (Urteil vom 8. März 1994), weil der Kläger auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt jedenfalls noch körperlich leichte Arbeiten verrichten, insbesondere als einfacher Pförtner eingesetzt werden könne. Mit seiner Berufung hat der Kläger im wesentlichen geltend gemacht, aufgrund der Vielzahl sich verschlimmernder Leiden sei er für eine Erwerbstätigkeit nicht mehr einsatzfähig. Das LSG hat die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 9. Juni 1995). Zur Begründung ist ausgeführt worden: Zwar sei das Leistungsvermögen des schon seit über 20 Jahren aus dem Erwerbsleben ausgeschiedenen Klägers erheblich beeinträchtigt. Nach den vielfältigen in verschiedenen Verfahren eingeholten Gutachten sei der Kläger jedenfalls noch in der Lage, körperlich leichte Arbeiten in wechselnder Körperhaltung in geschlossenen heizbaren Räumen zu verrichten. Dies ergebe sich aus der zusammenfassenden Begutachtung des im Berufungsverfahren als Sachverständigen gehörten Sozialmediziners Dr. E. , der den Kläger untersucht und alle vorliegenden Befunde (Rentengutachten, Heilverfahrensgutachten, ärztliche Unterlagen des den Kläger seit Jahrzehnten behandelnden Internisten Dr. C. mit weiteren Berichten) ausgewertet habe.
Der Kläger hat die vom LSG (im Hinblick auf die Vorlagebeschlüsse des 13. Senats des BSG vom 23. November 1994) zugelassene Revision eingelegt. Er rügt die Verletzung formellen und materiellen Rechts und trägt vor: Das LSG habe die ihm gemäß den §§ 103, 128 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) obliegende Amtsermittlungspflicht verletzt. Zwar seien die Gutachter übereinstimmend zu dem Ergebnis gelangt, daß der Kläger leichte Tätigkeiten vollschichtig verrichten könne. Sie widersprächen sich aber im Hinblick auf zusätzliche Leistungseinschränkungen. Nach weiterer Aufklärung in dieser Richtung habe das LSG dann feststellen müssen, ob eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder eine schwere Leistungsbehinderung vorliege, die nach der Rechtsprechung des BSG zur konkreten Benennung eines Verweisungsberufs nötige. Eine Verletzung des Grundsatzes des rechtlichen Gehörs sei darin zu sehen, daß die Feststellungen des LSG auf gutachterlichen Ergebnissen beruhten, denen eine Befragung des Klägers ohne Beiziehung eines Dolmetschers zugrunde liege, was wegen seiner Sprachschwierigkeiten erforderlich gewesen sei. Der Sachverständige Dr. G. habe in seinem neurologisch-psychiatrischen Gutachten ua ausgeführt, der psychopathologische Befund sei wegen der eingeschränkten sprachlichen Verständigung schwer zu beurteilen. Es sei deshalb nicht auszuschließen, daß eine weitere Begutachtung unter Beiziehung eines Dolmetschers zu einem anderen Ergebnis der Leistungsbeurteilung geführt habe. Ferner werde gerügt, daß die Feststellungen des LSG auf dem Gutachten des Sachverständigen Dr. E. beruhten, der entsprechend dem Berufungsvorbringen wegen Besorgnis der Befangenheit abzulehnen sei. Außerdem habe das LSG den Berufsschutz des Klägers nicht aufgeklärt. Schließlich sei in materiell-rechtlicher Hinsicht § 1247 der Reichsversicherungsordnung (RVO) verletzt, weil bei Vorliegen einer Summierung von schweren spezifischen Leistungsbeeinträchtigungen eine Verweisungstätigkeit benannt werden müsse. Jedenfalls sei dem Kläger deshalb eine Rente zu gewähren, weil ihm aufgrund seines Alters, seines Gesundheitszustandes und der seit 1979 bestehenden Arbeitslosigkeit der Arbeitsmarkt verschlossen sei.
Der Kläger beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 9. Juni 1995 und
des Sozialgerichts Mainz vom 8. März 1994 sowie den Bescheid der Beklagten
vom 29. April 1992 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. April
1993 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger ab Beginn des
Antragsmonats Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, hilfsweise Berufsunfähigkeit
zu gewähren,
hilfsweise den Rechtsstreit zur weiteren Sachaufklärung an das
Landessozialgericht Rheinland-Pfalz zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend und die vom Kläger dagegen erhobenen Rügen für unbegründet.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision ist in dem Sinne begründet, daß das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist.
Das angefochtene Urteil leidet jedenfalls deshalb an einem Verfahrensmangel, weil das LSG die Pflicht zur Sachaufklärung (§ 103 SGG) verletzt hat. Das Berufungsgericht hätte sich von seinem sachlich-rechtlichen Standpunkt aus zu weiteren Ermittlungen in medizinischer Hinsicht gedrängt fühlen müssen. Dies hat der Kläger in zulässiger Weise gerügt. In bezug auf das Gutachten des Sachverständigen Dr. G. hat er nicht nur die Verwertung unter dem Gesichtspunkt eines Verfahrensfehlers der Verletzung rechtlichen Gehörs (vgl Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO-Komm, 53. Aufl, § 185 GVG RdNr 4) gerügt, sondern auch mit hinreichender Deutlichkeit beanstandet, daß das LSG zumindest die Einholung eines weiteren medizinischen Sachverständigengutachtens ohne rechtfertigenden Grund unterlassen hat. Damit ist inhaltlich die in anderem Zusammenhang ausdrücklich genannte Vorschrift des § 103 SGG angesprochen worden. Dies reicht aus, weil bei der Revisionsrüge die verletzte Rechtsnorm nicht zwingend nach Gesetz und Paragraphennummer bezeichnet zu werden braucht; es genügt vielmehr, wenn sich - wie hier - die Rüge deutlich aus dem Inhalt der Darlegungen des Klägers ergibt (vgl Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 1. Aufl 1991, IX. Kapitel, RdNrn 319, 327, 330 mwN).
Die auf eine Verletzung des § 103 SGG gestützte Rüge ist auch begründet. Im angefochtenen Urteil hat das LSG zu erkennen gegeben, daß es seine Entscheidung ua auf das im Verwaltungsverfahren erstattete Gutachten des Arztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. G. gestützt hat. Dies ergibt sich daraus, daß am Ende des Tatbestandes zur Ergänzung des Sachverhalts auf den Inhalt der den Kläger betreffenden Akten und Widerspruchsakten der Beklagten, in denen sich das Gutachten des Arztes Dr. G. befindet, "verwiesen" ist. Zwar handelt es sich bei diesem Wortlaut nicht um eine ordnungsgemäße Bezugnahme, weil hierdurch für das Revisionsgericht (vgl § 163 SGG) nicht festzustellen ist, ob die genannten Verwaltungsakten Grundlage der Entscheidung gewesen sind. Dies wäre in zulässiger Weise nur dann gegeben, wenn die Verwaltungsakten Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Beratung des Senats gewesen (vgl Meyer-Ladewig, SGG-Komm, 5. Aufl 1995, § 128 RdNr 5 mwN) und darüber in der Sitzungsniederschrift oder den Urteilsgründen entsprechende Angaben gemacht worden wären. Aus der "Verweisung" läßt sich hier indessen jedenfalls entnehmen, daß das LSG auch das in den Widerspruchsakten enthaltene Gutachten des Arztes Dr. G. in der schriftlichen Urteilsbegründung verwertet hat. Ungeachtet dessen ergibt sich die Verwertung auch aus den Entscheidungsgründen, weil das LSG sich der zusammenfassenden Begutachtung des Sozialmediziners Dr. E. angeschlossen hat, der alle vorliegenden Befunde, ua ausdrücklich Rentengutachten, also auch das Gutachten des Arztes Dr. G. , ausgewertet habe. Dieses Gutachten war jedoch unzureichend, denn der Sachverständige hatte ausdrücklich erklärt, der psycho-pathologische Befund sei wegen der eingeschränkten sprachlichen Verständigung schwer zu beurteilen; der Kläger verstehe es nicht, seine Beschwerden eingehend darzustellen; darüber hinaus verstehe er auch die Fragen des Untersuchers nicht, selbst wenn diese mit sehr einfachen Worten formuliert werden. Danach und nachdem bereits im Widerspruchsverfahren Anlaß zur Einholung eines neurologisch-psychiatrischen Gutachtens gesehen worden war, hätte das LSG den Sachverhalt auf diesem medizinischen Fachgebiet unter Beiziehung eines Dolmetschers weiter aufklären müssen, um zu einer verwertbaren Entscheidungsgrundlage zu gelangen.
Das angefochtene Urteil kann auf dem gerügten Verfahrensmangel beruhen, denn bei weiterer Sachaufklärung wäre das Leistungsvermögen des Klägers im Hinblick auf die Frage des Vorliegens von EU bzw BU möglicherweise anders beurteilt worden.
Nach der Zurückverweisung wird das LSG insbesondere auch zu prüfen haben, von welchem bisherigen Beruf des Klägers im Rahmen von § 1246 RVO auszugehen ist sowie ob ggf nach dem vom BSG entwickelten Mehrstufenschema eine Verweisungstätigkeit benannt werden muß. Insoweit enthält das angefochtene Urteil weder ausdrücklich noch im Rahmen einer zulässigen Bezugnahme auf das erstinstanzliche Urteil irgendwelche für das Revisionsgericht verwertbare Feststellungen und rechtlichen Begründungen.
Zu prüfen ist ferner, ob der Kläger in der Lage ist, eine Arbeitsstelle aufzusuchen und hierzu "Wege von mindestens 500 m" (vgl Urteil des Senats vom 14. September 1995 - 5 RJ 10/95 -) zurückzulegen. Insoweit ist es unzulässig, eine Zeitangabe, die ärztlicherseits für einen Fußweg als zumutbar genannt worden ist, ohne Feststellung der zumutbaren Gehgeschwindigkeit auf eine Wegstrecke umzurechnen.
Zu prüfen ist schließlich, ob ein sog Seltenheits- oder Katalogfall vorliegt, der es erfordert, zumindest eine Tätigkeit ihrer Art nach zu benennen, die der Kläger tatsächlich noch verrichten kann (vgl Urteil des Senats vom 14. September 1995 - 5 RJ 50/94 - SozR 3-2200 § 1246 Nr 50).
Unter diesen Umständen kann dahinstehen, ob die weiteren Revisionsrügen des Klägers durchgreifen und zu einer Aufhebung des Urteils führen würden.
Die Kostenentscheidung bleibt der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen
Haufe-Index 543326 |
RegNr, 22628 (BSG-Intern) |