Leitsatz (amtlich)
1. Läßt das Urteil des LSG nicht ausreichend erkennen, daß die gesetzlichen Anspruchsvoraussetzungen für die begehrte Rente wegen Berufsunfähigkeit fehlen, ist § 136 Abs 1 Nr 6 SGG verletzt (Anschluß an BSG vom 9.5.1974 11 RA 252/73 = SozR 1500 § 136 Nr 1 und BSG vom 12.12.1974 1 RA 33/74 = SozR 1500 § 136 Nr 2).
2. Ein Versicherter mit dem bisherigen Beruf eines Facharbeiters kann auf die Tätigkeit eines Kaufhausdetektivs nicht iS von § 1246 Abs 2 S 2 RVO zumutbar verwiesen werden.
Normenkette
SGG § 136 Abs 1 Nr 6; RVO § 1246 Abs 2 S 2
Verfahrensgang
Schleswig-Holsteinisches LSG (Entscheidung vom 21.08.1986; Aktenzeichen L 3 J 18/86) |
SG Lübeck (Entscheidung vom 19.11.1985; Aktenzeichen S 2 J 582/84) |
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger ein Anspruch auf Berufsunfähigkeitsrente zusteht.
Der am 3. Oktober 1945 geborene Kläger erlernte den Beruf eines Schriftsetzers. Diese Lehre schloß er 1964 erfolgreich ab. Anschließend war er als Schriftsetzer und Maschinensetzer tätig. Nach einer entsprechenden Fortbildung war er von 1976 bis August 1983 als Korrektor versicherungspflichtig beschäftigt. Anschließend war er arbeitsunfähig krank. Er bezog bis zum 14. März 1984 Krankengeld und nach einer kurzfristigen Beschäftigung im bisherigen Beruf, ab 1. April 1984 Arbeitslosengeld bzw ab 1. April 1985 Arbeitslosenhilfe.
Den vom Kläger am 23. August 1983 gestellten Rentenantrag lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 13. Februar 1984 mit der Begründung ab, zwar sei sein Leistungsvermögen insbesondere durch ein Krampfaderleiden beeinträchtigt, er könne aber seinen Beruf als Schriftsetzer und Korrektor weiterhin ausüben. Einen am 18. September 1984 erneut gestellten Rentenantrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 9. November 1984 wiederum ab. Als zusätzliche Leistungsbeeinträchtigung war eine Einschränkung der Sehkraft festgestellt worden. Die Ablehnung wurde nunmehr damit begründet, das Leistungsvermögen des Klägers reiche zwar für die Tätigkeit des Schriftsetzers nicht mehr aus, er könne aber eine Tätigkeit als Telefonist, Bankbote und Registrator ausüben.
Auf die Klage des Versicherten hat das Sozialgericht (SG) durch Urteil vom 19. November 1985 den Bescheid vom 9. November 1984 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, dem Kläger Rente wegen Berufsunfähigkeit unter Annahme des Eintritts des Versicherungsfalles am 18. September 1984 auf Zeit bis Ende August 1986 zu gewähren. Während des Verfahrens hat die Beklagte dem Kläger im Rahmen der beruflichen Rehabilitation eine Berufsfindungsmaßnahme vom 5. bis 15. Mai 1985 gewährt und ihm ein Übergangsgeld bezahlt.
Auf die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) mit Urteil vom 21. August 1986 die Klage in vollem Umfang abgewiesen und die Anschlußberufung des Klägers zurückgewiesen: Die Voraussetzungen für die begehrte Rente seien nicht gegeben. Dem Kläger stehe zwar als gelerntem Schriftsetzer bzw Korrektor der Berufsschutz eines Facharbeiters zu. Er müsse sich daher entsprechend § 1246 Abs 2 Satz 2 Reichsversicherungsordnung (RVO) auf Tätigkeiten der Anlernebene verweisen lassen. Als entsprechende Verweisungstätigkeit komme diejenige des Kaufhausdetektivs in Betracht. Bei dieser Tätigkeit sei ein verantwortungsbewußtes Vorgehen und situationsgerechtes Verhalten erforderlich. Daneben seien gewandtes Auftreten, gute Umgangsformen und ein Führungszeugnis ohne Eintragungen von Bedeutung. Echte Einstellungskriterien gebe es nicht. Eine Anlernung erfolge innerhalb weniger Wochen. Diese Tätigkeiten seien auf dem Arbeitsmarkt in nennenswerter Zahl vorhanden und der gehobenen Anlernebene zuzuordnen, so daß sie dem Kläger sozial zumutbar seien. Die Tätigkeit entspreche auch dem Leistungsvermögen des Klägers.
Der Kläger hat gegen dieses Urteil die vom erkennenden Senat zugelassene Revision eingelegt. Er rügt Verletzungen des § 136 Abs 1 Nr 6 Sozialgesetz (SGG) und § 1246 Abs 2 RVO.
Der Kläger beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben, das Urteil des SG Lübeck vom 19. November 1985 dahingehend zu ändern, daß die Beklagte verurteilt wird, dem Kläger vom 1. Oktober 1984 bis zum 4. Mai 1985 Übergangsgeld und ab dem 16. Mai 1985 Versicherungsrente wegen Berufsunfähigkeit auf unbestimmte Zeit zu bewilligen, die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG Lübeck vom 19. November 1985 zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Sie hält die angefochtene Entscheidung im Ergebnis und in der Begründung für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die durch Zulassung statthafte Revision ist im Sinne der Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht begründet.
Zu Recht macht die Revision geltend, daß das angefochtene Urteil nicht in dem nach § 136 Abs 1 Nr 6 SGG erforderlichen Maße Entscheidungsgründe enthält. Wenn - wie im vorliegenden Fall - der geltend gemachte Anspruch auf Gewährung von Berufsunfähigkeitsrente verneint wird, so muß sich aus dem diesbezüglichen Urteil ergeben, daß die nach § 1246 Abs 2 RVO rechtserheblichen Anspruchsvoraussetzungen fehlen. Genügt ein Urteil diesen Erfordernissen nicht, so verstößt es gegen § 136 Abs 1 Nr 6 SGG und enthält damit einen wesentlichen Verfahrensmangel (so übereinstimmend Bundessozialgericht - BSG - in SozR 1500 § 136 Nrn 1 und 2).
Dieser wesentliche Verfahrensmangel muß hier schon deswegen bejaht werden, weil das angefochtene Urteil zur Frage, ob der Kläger mit der vom LSG in Betracht gezogenen Verweisungstätigkeit die sogenannte gesetzliche Lohnhälfte im Sinne des § 1246 Abs 2 Satz 1 RVO erreichen kann, keinerlei Feststellungen enthält und diese Frage unerörtert läßt. Der Sachverhalt hätte aber in dieser Richtung aufgeklärt und beurteilt werden müssen, weil diese Frage gerade im vorliegenden Fall entscheidungserheblich sein kann. Es spricht zwar in der Regel eine Vermutung dafür, daß mit der vollschichtig zumutbaren Verweisungstätigkeit im Sinne des § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO die "gesetzliche Lohnhälfte" des § 1246 Abs 2 Satz 1 RVO erzielt wird (vgl hierzu und insoweit übereinstimmend BSG in SozR Nr 103 zu § 1246 RVO und SozR 2200 § 1246 Nr 60). Dies durfte indes hier ausnahmsweise deshalb nicht als selbstverständlich vorausgesetzt werden, weil nach den Rehabilitationsakten der Beklagten, auf welche das LSG in den Gründen seines Urteils Bezug nimmt und welche danach Gegenstand der Berufungsverhandlung waren, bei der Berechnung des Übergangsgeldes ein monatliches Bruttoentgelt des Klägers von 4.963,71,-- DM zugrunde gelegt worden ist. Angesichts dieses relativ hohen Arbeitsverdienstes war hier die Prüfung, ob die Erwerbsfähigkeit des Klägers in dem vom LSG angenommenen Verweisungsberuf eines Kaufhausdetektivs mindestens die Hälfte des Durchschnittsverdienstes einer Vergleichsperson im bisherigen Beruf erreicht (vgl hierzu BSG in SozR 2200 § 1246 Nrn 5 und 118) unerläßlich.
Im Hinblick auf die genannte hohe Entlohnung des Klägers in dem zuletzt ausgeübten Beruf eines Korrektors gilt Entsprechendes für die unterbliebene nähere Prüfung der beruflichen Qualifikation und der tariflichen Einstufung des Klägers. Der bisherige Beruf des Klägers ist Ausgangspunkt für die Beurteilung eines gemäß § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO zumutbaren Verweisungsberufs, wobei nach der ständigen Rechtsprechung des BSG ein abgestuftes Berufsgruppenschema zugrundezulegen ist (vgl Urteil des erkennenden Senats vom 9. September 1986 in SozR 2200 § 1246 Nr 140 mwN). Wäre der Kläger - wie er geltend macht - in die Gruppe der besonders hoch qualifizierten Facharbeiter einzuordnen, könnte er nach der genannten Rechtsprechung des BSG nur auf eine Facharbeitertätigkeit zumutbar verwiesen werden (vgl SozR 2200 § 1246 Nrn 79 und 103 jeweils mwN). Da das LSG die allein in Betracht gezogene Verweisungstätigkeit eines Kaufhausdetektivs der Gruppe der Anlernberufe zuordnet, wäre dann eine Verweisbarkeit des Klägers ohnehin nicht gegeben. Das LSG hätte sich deshalb in den Entscheidungsgründen detailliert damit auseinandersetzen müssen, warum der Kläger trotz seiner Fortbildung vom Schriftsetzer zum Korrektor in die Gruppe der Facharbeiter und nicht zur Gruppe der besonders hoch qualifizierten Facharbeiter gehört.
Sollte der Kläger aufgrund der somit noch notwendigen Feststellungen zur sogenannten gesetzlichen Lohnhälfte und zum bisherigen Beruf gleichwohl auf einen sonstigen Ausbildungsberuf bzw auf eine "echte" Anlerntätigkeit iS des vom BSG entwickelten Mehrstufenschemas zumutbar verweisbar sein, so wird das LSG bei der diesbezüglichen Prüfung insbesondere die Entscheidungen des erkennenden Senats vom 9. September 1986 (SozR 2200 § 1246 Nr 139) und vom 30. September 1987 (5b RJ 20/86 mwN, ebenfalls zur Veröffentlichung bestimmt) zu beachten haben. Danach ist ein Facharbeiter lediglich auf Tätigkeiten verweisbar, die zu den sonstigen, staatlich anerkannten Ausbildungsberufen - mit Ausnahme also der Facharbeiterberufe - gehören oder eine echte, dh über eine bloße Einweisung und Einarbeitung hinausgehende, betriebliche Ausbildung von wenigstens drei Monaten erfordern oder wegen ihrer Qualität tariflich wie sonstige Ausbildungsberufe bewertet werden. Diese - alternativen - Voraussetzungen erfüllt die vom LSG genannte Tätigkeit eines Kaufhausdetektivs nicht. Denn nach den insoweit für den erkennenden Senat gemäß § 163 SGG bindenden Feststellungen des Berufungsgerichts gibt es für diese Tätigkeit keine echten Einstellungskriterien und sie erfordert nur eine "Anlernung" von wenigen Wochen. Wie der erkennende Senat in seinem Urteil vom 30. September 1987 aaO betont hat, kann es für die Zumutbarkeit einer Verweisungstätigkeit im Sinne von § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO nicht auf die tarifliche Bezeichnung "angelernte Arbeitnehmer" ankommen, wenn sich aus der nach dem Lohntarif erforderlichen "Anlernzeit" ergibt, daß es sich um Tätigkeiten handelt, die nach der vom BSG in ständiger Rechtsprechung vorgenommenen Berufsgruppeneinteilung nicht der Berufsgruppe der sonstigen Ausbildungsberufe - kurz: Anlernberufe - zugeordnet werden können (vgl hierzu auch die Urteile des erkennenden Senats in SozR 2200 § 1246 Nrn 79 und 140). Desgleichen kann es nicht maßgebend sein, daß der hier vom LSG gehörte Sachverständige die nur eine "Anlernung" von wenigen Wochen erfordernde Tätigkeit des Kaufhausdetektivs in Verkennung der genannten höchstrichterlichen Rechtsprechung gleichwohl der "gehobenen Anlernebene" zugerechnet hat.
Da nach alledem die Ausführungen des LSG nicht ausreichend erkennen lassen, daß die gesetzlichen Anspruchsvoraussetzungen für die begehrte Rente wegen Berufsunfähigkeit fehlen, kann das angefochtene Urteil keinen Bestand haben. Der Rechtsstreit mußte deshalb an das Berufungsgericht zurückverwiesen werden (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).
Die Kostenentscheidung bleibt der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen