Entscheidungsstichwort (Thema)

Verfahrensmangel. rechtliches Gehör

 

Orientierungssatz

Der in SGG § 128 Abs 2 konkretisierte Grundsatz des rechtlichen Gehörs verlangt es, die Beteiligten darauf hinzuweisen, welches der Beweisergebnisse in das Verfahren eingeführt werden soll, damit sie sich dazu äußern können.

 

Normenkette

SGG § 128 Abs. 2 Fassung: 1953-09-03, § 62 Fassung: 1953-09-03; GG Art. 103 Abs. 1 Fassung: 1949-05-23

 

Verfahrensgang

LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 26.05.1976; Aktenzeichen L 10 J 515/75)

SG Hildesheim (Entscheidung vom 10.07.1975; Aktenzeichen S 4 J 408/72)

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 26. Mai 1976 aufgehoben; der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger gegen die Beklagte einen Anspruch auf die Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit nach § 1246 der Reichsversicherungsordnung (RVO) hat.

Der Kläger war bis 1960 als gelernter Maurer und Hausschlachter und danach - bis zu einem Unfall im Jahre 1973 - auch in anderen Berufen tätig. Seitdem ist er ohne Arbeit. Die Beklagte lehnte den im Januar 1972 gestellten Rentenantrag mit Bescheid vom 26. Oktober 1972 ab.

Das Sozialgericht (SG) hat mit Urteil vom 10. Juli 1975 den Bescheid der Beklagten geändert und die Beklagte unter Klageabweisung im übrigen verurteilt, dem Kläger Versichertenrente auf Zeit wegen Erwerbsunfähigkeit für die Zeit vom 19. März 1974 bis zum 31. Mai 1975 zu zahlen. Das Landessozialgericht (LSG) hat mit Urteil vom 26. Mai 1976 das Urteil des SG geändert und die Beklagte verurteilt, dem Kläger über die Verurteilung des SG hinaus für die Zeit vom 1. Februar 1972 bis zum 18. März 1974 und vom 1. Juni 1975 an Rente wegen Berufsunfähigkeit zu zahlen. Im übrigen hat das LSG die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Zur Begründung hat das Gericht im wesentlichen ausgeführt, der Kläger sei berufs-, aber nicht erwerbsunfähig. Auszugehen sei von seinem erlernten Beruf, den der Kläger aus gesundheitlichen Gründen habe aufgeben müssen. Berufsverwandten Beschäftigungen, z. B. auf dem Bauhof, großen Baustellen oder in Baustoffhandlungen, die ebenfalls körperlichen Einsatz verlangten, sei der Kläger nicht mehr gewachsen. Wegen der Einzelheiten werde auf das Urteil des LSG vom 28. November 1975 - L 10 J 471/75 - verwiesen. Prüf- und Montagetätigkeiten qualifizierter Art seien dem Kläger nicht zugänglich, weil er nicht die notwendigen Kenntnisse und Erfahrungen habe. Prüf- und Montagetätigkeiten, die von jedem Arbeitnehmer nach kurzer betrieblicher Einweisung verrichtet werden könnten, seien Facharbeitern nicht zumutbar. Es leuchte nicht ein, inwiefern ein Maurer Kenntnisse und Fertigkeiten mitbringen solle, um als Schalttafel- oder Apparatewärter zu arbeiten. Diese Berufe erforderten Kenntnisse und Fähigkeiten, die nur durch entsprechende Berufserfahrung erworben werden könnten. Außerdem stellten sie gesundheitliche Anforderungen, denen der Kläger nicht mehr gewachsen sei. Die Anforderungen in den genannten Berufen habe der Senat in seinem Urteil vom 28. November 1975 im Anschluß an Kuebarth (Soziale Sicherheit 1975 S. 137) näher erörtert. Auf die Tätigkeiten eines Pförtners, Boten, Registrators oder Wächters könne nur dann verwiesen werden, wenn der Versicherte einen entsprechenden Arbeitsplatz innehabe. Der Kläger sei daher berufsunfähig, aber nicht erwerbsunfähig, denn er könne auf nicht absehbare Zeit in gewisser Regelmäßigkeit einer Erwerbstätigkeit nachgehen.

Die Beklagte hat dieses Urteil mit der - vom LSG zugelassenen - Revision angefochten. Sie ist der Ansicht, das LSG habe den Begriff der Zumutbarkeit unrichtig ausgelegt und angewandt. Im übrigen habe das LSG mit der Verweisung auf sein Urteil vom 28. November 1975 zu den Anforderungen an die Tätigkeiten eines Schalttafel- oder Apparatewärters die dort gewonnenen Ergebnisse in prozessual nicht ordnungsgemäßer Form in dieses Verfahren eingeführt. Es habe die §§ 62 und 128 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) sowie Artikel 103 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) verletzt, indem es den Beteiligten nicht Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben habe. Daran ändere die Tatsache nichts, daß die Beklagte auch an dem anderen Verfahren beteiligt gewesen sei. Das LSG habe rechtsirrig nicht geprüft, auf welche anderen zumutbaren Vollzeitbeschäftigungen, die in den Tarifverträgen enthalten seien, der Kläger noch verwiesen werden könne.

Die Beklagte beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts zurückzuweisen;

hilfsweise,

den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision der Beklagten zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil im Ergebnis und in der Begründung für richtig und ist der Ansicht, die Revision der Beklagten sei unbegründet.

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision der Beklagten hat mit ihrem Hilfsantrag auf Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht Erfolg. Das angefochtene Urteil beruht auf einem von der Beklagten gerügten Verfahrensmangel und ist auch nicht aus anderen Gründen richtig.

Die Feststellung des LSG, die Tätigkeiten eines Schalttafel- oder Apparatewärters stellten gesundheitliche Anforderungen, denen der Kläger nicht mehr gewachsen sei, beruht auf einer Verletzung des rechtlichen Gehörs und damit der §§ 62, 128 Abs. 2 SGG, Art. 103 Abs. 1 GG. Dem LSG ist zwar darin zuzustimmen, daß es dann nicht eines Sachverständigengutachtens bedarf, wenn das Gericht sich die zur Tatsachenfeststellung notwendigen Fachkenntnisse aus der Literatur oder aus anderen Verfahren verschaffen kann. Da die Beschaffung dieser Fachkenntnisse aber an die Stelle einer - sonst erforderlichen - Beweisaufnahme tritt, muß den Beteiligten vorher Gelegenheit gegeben werden, dazu Stellung zu nehmen. Das Tatsachengericht muß also die Beteiligten darauf hinweisen, welche Erkenntnisquellen es zur Beschaffung der notwendigen Fachkenntnisse und für die zu treffenden Tatsachenfeststellungen benutzen will. Das gilt insbesondere für die Heranziehung von Beweisergebnissen in anderen Verfahren, zumal darin ebenfalls eine Beweiserhebung liegt. Weder aus der Ladungsverfügung noch aus der Sitzungsniederschrift oder sonst aus den Akten geht hervor, daß die Beteiligten auf die beabsichtigte Verwertung des Beweisergebnisses in dem Rechtsstreit L 10 J 471/75 und der Ausführungen in "Soziale Sicherheit" 1975 S. 137 hingewiesen worden sind. Zwar brauchen die Beteiligten nicht in jedem Falle auf die beabsichtigte Verwertung von Rechtsausführungen in der Literatur hingewiesen zu werden, wohl aber auf die beabsichtigte Verwertung sonstiger Ausführungen, die der Feststellung von Tatsachen dienen.

Es ist unerheblich, daß die Beklagte an dem Verfahren L 10 J 471/75, auf dessen Beweisergebnis das LSG Bezug genommen hat, beteiligt gewesen ist. Wenn die Beklagte auch das Beweisergebnis in jenem Verfahren kannte, so brauchte sie ohne einen entsprechenden Hinweis des Gerichts doch nicht davon auszugehen, daß das Gericht das Beweisergebnis jenes Verfahrens in diesem Verfahren verwerten würde. Insbesondere die Versicherungsträger sind an vielen Verfahren beteiligt, in denen Beweise mit unter Umständen unterschiedlichen Ergebnissen erhoben werden. Der in § 128 Abs. 2 SGG konkretisierte Grundsatz des rechtlichen Gehörs verlangt es, die Beteiligten darauf hinzuweisen, welches dieser Beweisergebnisse in dieses Verfahren eingeführt werden soll, damit sie sich dazu äußern können.

Da das angefochtene Urteil auf fehlerhaft zustande gekommenen Tatsachenfeststellungen beruht und der Senat die erforderlichen Feststellungen nicht selbst treffen kann, mußte er das angefochtene Urteil aufheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverweisen.

Bei der erneuten Entscheidung wird das LSG zu prüfen haben, ob unter Berücksichtigung der noch festzustellenden Anforderungen an körperliche und geistige Leistungsfähigkeit in medizinischer Hinsicht hinreichend geklärt ist, ob der Kläger die Tätigkeiten eines Apparate- und Schalttafelwärters verrichten kann. Auch hinsichtlich der erforderlichen Kenntnisse und Fertigkeiten für diese Tätigkeiten sind konkrete Feststellungen zu treffen. Es genügt insoweit nicht, in Frage zu stellen, inwiefern ein Maurer die erforderlichen Kenntnisse und Fertigkeiten mitbringt. Vielmehr ist zu klären, ob ein Versicherter mit der beruflichen Vorbildung des Klägers in der Lage ist, sich die notwendigen Kenntnisse und Fertigkeiten innerhalb von drei Monaten anzueignen (vgl. BSG in SozR Nr. 40 zu § 45 RKG). Schließlich ist auch die Zumutbarkeit von einfachen Prüf- und Montagearbeiten erneut unter Berücksichtigung der noch darzulegenden konkreten Tätigkeitsmerkmale zu prüfen. Dabei ist insbesondere zu klären, ob sich diese ungelernten Tätigkeiten durch andere Qualitätsmerkmale als die erforderlichen Kenntnisse und Fertigkeiten, z. B. übernormale Leistungsbereitschaft, Gewissenhaftigkeit, besonderes Verantwortungsbewußtsein, ausgeprägte Disziplin, Nervenkraft, Selbständigkeit des Denkens und Handelns, natürliche Autorität, Wendigkeit u. s. w. derart aus dem Kreis der übrigen ungelernten Tätigkeiten hervorheben, daß sie wie angelernte Tätigkeiten bewertet und tariflich eingestuft werden. Darüber hinaus wird das LSG auch zu prüfen haben, ob der Kläger noch andere in den Tarifverträgen enthaltene Tätigkeiten verrichten kann, die unter Berücksichtigung der genannten Merkmale als zumutbar anzusehen sind.

Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1651605

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