Entscheidungsstichwort (Thema)
Rechtsbehelfsbelehrung. Belehrung über die Möglichkeiten der Auslegung. Begriff des Versicherungsträgers
Leitsatz (amtlich)
1. Die Rechtsbehelfsbelehrung in einem Bescheid, die - neben dem erforderlichen Inhalt - zusätzlich den Wortlaut des § 84 Abs 2 SGG wiederholt und in diesem Zusammenhang dann nicht auch auf die Möglichkeit nach Art 48 des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Spanischen Staat über Soziale Sicherheit vom 1973-12-04 hinweist, ist unrichtig iS des § 66 Abs 2 SGG.
2. Eine Zurückverweisung nach § 159 Abs 1 Nr 1 SGG ist auch zulässig, wenn das Sozialgericht die Klage wegen Versäumung der Widerspruchsfrist abgewiesen hatte.
Orientierungssatz
1. Eine Rechtsbehelfsbelehrung genügt der Bestimmung des § 66 SGG, wenn sie den Beteiligten über das Nächstliegende, dh den in erster Linie in Betracht kommenden Rechtsbehelf, über den "Regelweg" aufklärt. Der Beteiligte muß über die wesentlichen Einzelheiten einer rechtswirksamen Einlegung des Rechtsbehelfs belehrt werden. Einen Hinweis auf die "Auch-Möglichkeiten" des § 84 Abs 2 braucht die Rechtsbehelfsbelehrung nicht zu enthalten (so zu § 91 Abs 1 SGG BSG 1975-12-10 8 RU 46/74 = SozR 1500 § 66 Nr 2 mwN). Der nicht notwendige Zusatz, der auf die Möglichkeiten des § 91 Abs 1 (entspricht § 84 Abs 2) hinweist, wird in der Rechtsprechung nicht als schädlich angesehen, weil er das Erheben der Klage nicht erschwert und nicht geeignet ist, den Antragsteller von der Klageerhebung abzuhalten, sondern ihm im Gegenteil die Klagerhebung unter Umständen erleichtert. Der Hinweis muß aber dann auch richtig sein (BSG aaO).
2. Versicherungsträger ist nicht die unscharfe Bezeichnung von Funktionsträgern, die es auch außerhalb des Geltungsbereichs des SGG geben könnte, sondern der spezielle Begriff des § 29 SGB 4: "Die Träger der Sozialversicherung (Versicherungsträger) sind rechtsfähige Körperschaften des öffentlichen Rechts mit Selbstverwaltung." Damit kann nur ein inländischer Träger gemeint sein.
Normenkette
SGG § 66 Abs. 2 S. 1 Fassung: 1953-09-03, § 84 Abs. 2 S. 1 Fassung: 1953-09-03, § 159 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1953-09-03; SozSichAbk ESP 2 Art. 48 Fassung: 1973-12-04; SGG § 91 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03; SGB IV § 29 Abs. 1
Verfahrensgang
SG Düsseldorf (Entscheidung vom 24.04.1980; Aktenzeichen S 4 Kr 249/78) |
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 02.10.1980; Aktenzeichen L 16 Kr 78/80) |
Tatbestand
Der Kläger, ein spanischer Staatsangehöriger, ist aufgrund seiner seit 1970 in Deutschland ausgeübten Beschäftigung Mitglied der Beklagten. Während seines Urlaubs in Spanien bescheinigte ihm ein dortiger Arzt am 19. August 1977 und später noch mehrmals für die Zeit bis zum 13. Februar 1979 Arbeitsunfähigkeit. Die Beklagte lehnte aufgrund eines Gutachtens des Vertrauensarztes Dr M mit Bescheid vom 24. Juli 1978 die Zahlung von Krankengeld ab. In der Rechtsbehelfsbelehrung heißt es, gegen diesen Bescheid bestehe das Recht des Widerspruchs; dieser müsse binnen eines Monats vom Tag der Zustellung des Bescheids an schriftlich oder zur Niederschrift bei der Betriebskrankenkasse B, B Maschinenfabrik AG, R 11, L Straße, eingereicht werden. Die Frist zur Erhebung des Widerspruchs gelte auch dann als gewahrt, wenn die Widerspruchsschrift bei einer anderen inländischen Behörde oder bei einem Versicherungsträger oder bei einer deutschen Konsularbehörde eingegangen sei. Der Bescheid wurde dem Kläger mit Einschreiben gegen Rückschein am 28. Juli 1978 in Spanien bekanntgegeben. Am 31. August 1978 ging bei der Beklagten ein Widerspruchsschreiben des vom Kläger bevollmächtigten Leiters der spanischen Kommission für Arbeitsfragen in R ein. Diesen Widerspruch wies die Beklagte am 14. November 1978 wegen Versäumung der Widerspruchsfrist als unzulässig zurück.
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage wegen Versäumung der Widerspruchsfrist abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht (LSG) dieses Urteil aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das SG zurückverwiesen. Es hat ausgeführt, das SG sei zu Unrecht von der Versäumung der Widerspruchsfrist ausgegangen. Auf die Erhebung des Widerspruchs sei die Bestimmung des § 87 Abs 1 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) entsprechend anzuwenden. Danach betrage die Widerspruchsfrist bei Bekanntgabe des Verwaltungsakts im Ausland drei Monate.
Die Beklagte hat Revision eingelegt und macht geltend, die Entscheidung des LSG sei nicht mit § 84 Abs 1 SGG vereinbar. Das Gesetz unterscheide in dieser Bestimmung für die Widerspruchsfrist nicht zwischen der Zustellung im Inland und im Ausland. Nach § 84 Abs 2 Satz 1 SGG gelte die Widerspruchsfrist als gewahrt, wenn die Widerspruchsschrift bei einer deutschen Konsularbehörde oder bei einem deutschen Seemannsamt eingegangen sei. Dies zeige, daß sich der Gesetzgeber über die Möglichkeit von Auslandszustellungen im klaren war und deshalb in bestimmten Fällen Erleichterungen für die Einlegung des Widerspruchs geschaffen hat.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts für das Land
Nordrhein-Westfalen vom 2. Oktober 1980 aufzuheben
und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des
Sozialgerichts Düsseldorf vom 24. April 1980 zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unbegründet. Im Ergebnis hat das LSG zutreffend das klagabweisende Urteil des SG aufgehoben. Die Klage ist entgegen der Meinung des SG nicht wegen Versäumung der Widerspruchsfrist unbegründet. Mit dem am 31. August 1978 bei der Beklagten eingegangenen Widerspruch hat der Kläger die für diesen Rechtsbehelf hier geltende Frist eingehalten.
Dahingestellt kann bleiben, ob die Zustellung eines Bescheids außerhalb des Geltungsbereichs des SGG eine Widerspruchsfrist von drei Monaten in Lauf setzt. Das LSG hat dies angenommen, und in § 83 Abs 2 des Entwurfs einer Verwaltungsprozeßordnung ist eine entsprechende Regelung vorgesehen. Andererseits hat das Bundessozialgericht (BSG) ausgeführt, es gebe im sozialgerichtlichen Verfahren keine allgemeine Vorschrift über eine Fristverlängerung auf drei Monate, wenn die Zustellung im Ausland zu erfolgen hat, für die Begründung der Revision bleibe es bei der einmonatigen Frist (BSG SozR SGG § 164 Nr 51).
Der Widerspruch gegen den Bescheid vom 24. Juli 1978 ist gem § 84 Abs 2 Satz 3 iVm § 66 Abs 2 SGG innerhalb eines Jahres nach der Bekanntgabe zulässig gewesen, denn der Bescheid enthält eine unrichtige Belehrung über den Rechtsbehelf. Unrichtig ist die Belehrung im Bescheid vom 24. Juli 1978, weil sie im zweiten Absatz als Stellen, wo der Widerspruch fristwahrend eingehen kann, neben den inländischen Behörden und den deutschen Konsularbehörden nur die "Versicherungsträger" nennt. Dieser Hinweis hätte einen Zusatz erforderlich gemacht, daß der Widerspruch auch bei einem entsprechenden Träger des spanischen Staates eingereicht werden kann.
Allerdings genügt eine Rechtsbehelfsbelehrung der Bestimmung des § 66 SGG, wenn sie den Beteiligten über das Nächstliegende, dh den in erster Linie in Betracht kommenden Rechtsbehelf, über den "Regelweg" aufklärt. Der Beteiligte muß über die wesentlichen Einzelheiten einer rechtswirksamen Einlegung des Rechtsbehelfs belehrt werden. Einen Hinweis auf die "Auch-Möglichkeiten" des § 84 Abs 2 - Fristwahrung, auch wenn der Widerspruch bei einer anderen inländischen Behörde, bei einem Versicherungsträger oder bei einer deutschen Konsularbehörde eingeht -, braucht die Rechtsbehelfsbelehrung nicht zu enthalten (so zu § 91 Abs 1 SGG BSG SozR 1500 § 66 Nr 2 mwN). Der nicht notwendige Zusatz, der auf die Möglichkeiten des § 91 Abs 1 (entspricht § 84 Abs 2) hinweist, wird in der Rechtsprechung nicht als schädlich angesehen, weil er das Erheben der Klage nicht erschwert und nicht geeignet ist, den Antragsteller von der Klagerhebung abzuhalten, sondern ihm im Gegenteil die Klagerhebung unter Umständen erleichtert. Der Hinweis muß aber dann auch richtig sein (BSG aaO).
Der Zusatz in der Rechtsbehelfsbelehrung des Bescheids vom 24. Juli 1978 macht die Belehrung unrichtig, weil er unvollständig und geeignet ist, die Erhebung des Widerspruchs zu erschweren.
Nach Art 48 des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem spanischen Staat über soziale Sicherheit vom 4. Dezember 1973 - Zustimmungsgesetz vom 29. Juli 1977 (BGBl II 685) -, das am 1. November 1977 in Kraft getreten ist, können Rechtsbehelfe, die nach den Vorschriften eines Vertragsstaates innerhalb einer bestimmten Frist bei einer Behörde, einem Gericht oder einem Träger dieses Staates einzureichen sind, innerhalb der gleichen Frist bei einer entsprechenden Behörde, einem entsprechenden Gericht oder einem entsprechenden Träger des anderen Vertragsstaates eingereicht werden. Der in der Rechtsbehelfsbelehrung des Bescheids vom 24. Juli 1978 verwendete Begriff "Versicherungsträger" erfaßt nicht auch den entsprechenden Träger des spanischen Staates. Vielmehr kann der Empfänger diese Belehrung, die wörtlich dem § 84 Abs 2 SGG entnommen ist, nur so verstehen, daß der Begriff des Versicherungsträgers im Sinne des deutschen Rechts verwendet wird. Versicherungsträger ist nicht die unscharfe Bezeichnung von Funktionsträgern, die es auch außerhalb des Geltungsbereichs des SGG geben könnte, sondern der spezielle Begriff des § 29 des Vierten Buchs des Sozialgesetzbuches: "Die Träger der Sozialversicherung (Versicherungsträger) sind rechtsfähige Körperschaften des öffentlichen Rechts mit Selbstverwaltung". Damit kann nur ein inländischer Träger gemeint sein. Index die Rechtsbehelfsbelehrung im Bescheid vom 24. Juli 1978 ausdrücklich auf die Fristwahrung durch Eingang bei inländischen Behörden, bei einem Versicherungsträger oder bei einer deutschen Konsularbehörde hinweist, erweckt sie den Anschein, als seien damit alle Stellen genannt, bei denen der Widerspruch fristwahrend eingehen kann. Die Möglichkeit der "Einreichung" bei einem entsprechenden spanischen Träger ist nicht genannt, obwohl diese Träger insoweit sogar der Stelle gleichgestellt sind, die den Verwaltungsakt erlassen hat (§ 84 Abs 1 SGG).
Der Bescheid vom 24. Juli 1978 erschwert durch diese Unrichtigkeit der Belehrung über die "Auch-Möglichkeiten" die Einlegung des Widerspruchs. Er ist geeignet, einen Irrtum über die Einhaltung der Frist hervorzurufen und den Beteiligten dadurch von der Einlegung des Widerspruchs abzuhalten (BVerwGE 57, 188, 190 f). Durch die Rechtsbehelfsbelehrung wird der Eindruck erweckt, daß es keine weiteren "Auch-Möglichkeiten" gibt, insbesondere nicht die für den Empfänger in Spanien nächstliegende der Einreichung bei einem entsprechenden dortigen Träger. Dadurch wird der Empfänger davon abgehalten, sich zu erkundigen, ob es auch in seiner Nähe Stellen gibt, an die er den Widerspruch fristwahrend richten kann. Er verliert damit die Zeit, um die eine Postbeförderung ins Gebiet der Bundesrepublik Deutschland länger dauert als eine solche an den nächstgelegenen entsprechenden Träger. Die ihm zur Verfügung stehende Frist, in der er sich über die Einlegung des Widerspruchs schlüssig werden soll, verkürzt sich dadurch. Ferner erschwert es den Widerspruch, wenn der Ausländer glaubt, ihn nicht bei einem Träger seines Staates einreichen zu können. Von diesem könnte er sich erste Auskünfte über den Rechtsbehelf erwarten, und für viele Menschen ist es leichter, sich mit einem Rechtsbehelf an eine Stelle zu wenden, bei der sie persönlich vorsprechen können.
Die im angefochtenen Urteil des LSG entschiedene Zurückverweisung der Sache an das SG ist nicht zu beanstanden. Allerdings ist nach dem hier allein in Betracht kommenden § 159 Abs 1 Nr 1 SGG diese Möglichkeit nur gegeben, wenn das SG die Klage abgewiesen hat, ohne in der Sache selbst zu entscheiden. Das SG hat die Klage wegen Versäumung der Widerspruchsfrist, dh als unbegründet abgewiesen. Indessen kann die Bestimmung des § 159 Abs 1 Nr 1 ausdehnend ausgelegt werden (Meyer-Ladewig, Kommentar zum SGG, § 159 RdNr 2 mwN; aM wohl Peters/Sautter/Wolff, Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit, § 159 Anm 1a). Die Vorschrift ist entsprechend anzuwenden, wenn das SG zu den materiellen Voraussetzungen des Anspruchs überhaupt nicht Stellung genommen und keinerlei Feststellungen getroffen hat. In diesen Fällen kann das LSG die Sache zur Vermeidung des Verlustes einer Instanz für den Kläger zurückverweisen.
Der Senat befindet sich mit dieser Auslegung des § 159 Abs 1 Nr 1 SGG in Einklang mit der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) zur Vorschrift des § 130 Abs 1 Nr 1 der Verwaltungsgerichtsordnung; danach kann das Oberverwaltungsgericht an das Verwaltungsgericht zurückverweisen, wenn dieses noch nicht in der Sache selbst entschieden hat. Eine Entscheidung in der Sache liegt - wie das BVerwG annimmt - sogar dann nicht vor, wenn das erstinstanzliche Gericht den angefochtenen Verwaltungsakt aufgehoben hat, weil der zugrundeliegende Ministerialerlaß unwirksam sei (BVerwGE 38, 139, 146; aM Kopp, Verwaltungsgerichtsordnung, Kommentar 4. Aufl § 130 RdNr 5, der eine Zurückverweisung ablehnt, wenn das erstinstanzliche Gericht den Verwaltungsakt wegen Mängel des Verwaltungsverfahrens aufgehoben hat). Von der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes (BGH) zu § 538 Abs 1 Nr 2 der Zivilprozeßordnung (ZPO) weicht der Senat nicht ab. Die Vorschrift hat einen anderen Inhalt wie § 159 Abs 1 Nr 1 SGG. Nach § 538 Abs 1 Nr 2 ZPO aF hatte das Berufungsgericht die Sache zurückzuverweisen, wenn durch das angefochtene Urteil nur über prozeßhindernde Einreden entschieden worden war. Dazu hat der BGH entschieden, die Zurückverweisung komme nicht in Betracht, wenn die Klage wegen Verjährung abgewiesen worden war (BGH MDR 1968, 576). Die Einrede der Verjährung stützt sich auf das materielle Recht (§§ 194 ff des Bürgerlichen Gesetzbuches) und ist nicht zu vergleichen mit dem Einwand, die Widerspruchsfrist sei nicht eingehalten worden. Außerdem ist und war § 538 Abs 1 Nr 2 ZPO eine Muß-, § 159 Abs 1 Nr 1 SGG hingegen eine Kann-Vorschrift.
Die Revision ist aus allen diesen Gründen zurückzuweisen. Damit wird der Rechtsstreit beim SG anhängig, das auch über die Kosten des Revisionsverfahrens mit zu entscheiden haben wird.
Fundstellen