Verfahrensgang
Hessisches LSG (Urteil vom 12.05.1997) |
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 12. Mai 1997 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger dessen außergerichtliche Kosten auch des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
I
Streitig ist, ob der Kläger ab 1. Mai 1995 Anspruch auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit hat.
Der 1944 in der Türkei geborene Kläger hat keine Berufsausbildung mit formalem Abschluß absolviert. Zwischen 1969 und 1990 war er in verschiedenen Bereichen versicherungspflichtig beschäftigt. Anschließend war er arbeitsunfähig, bezog zunächst Krankengeld, dann Arbeitslosengeld und wurde erneut arbeitsunfähig. Am 5. September 1991 beantragte er Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit. Dies lehnte die Beklagte ab (Bescheid vom 8. Oktober 1993 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. Januar 1994).
Im Klageverfahren hat das SG Gießen das Leistungsvermögen des Klägers weiter aufgeklärt. Die Beweisaufnahme hat ergeben, daß der Kläger jedenfalls ab Anfang 1995 nur noch leichte körperliche Arbeiten mit einer Reihe von Einschränkungen vollschichtig verrichten kann; objektiv sei ihm ein Fußweg von mehr als 500 m zumutbar, subjektiv sei dieser jedoch wegen des chronifizierten Schmerzsyndroms nicht schmerzfrei zurücklegbar. In einer berufskundlichen Stellungnahme des Landesarbeitsamtes Hessen ist ausgeführt worden, daß der Kläger unter Berücksichtigung der ärztlicherseits festgestellten Leistungseinschränkungen nicht mehr in der Lage sei, irgendwelche Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt auszuüben. Daraufhin hat das SG die Beklagte unter Abweisung der weitergehenden Klage verurteilt, dem Kläger ab 1. Mai 1995 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu gewähren (Urteil vom 18. März 1996). Zur Begründung hat es ausgeführt, daß der Kläger aufgrund der festgestellten Gesundheitsstörungen unter einer Summierung von Leistungseinschränkungen verbunden mit einer eingeschränkten Umstellungs- und Anpassungsfähigkeit leide, so daß ernsthafte Zweifel daran aufkommen müßten, ob er seine Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt überhaupt noch in geldwerte Güter umsetzen könne. Hieraus ergebe sich die Notwendigkeit der Benennung eines konkreten, seinem Leistungsvermögen angepaßten Arbeitsplatzes. Eine derartige Verweisungstätigkeit könne ihm unter Berücksichtigung der Auskunft des Landesarbeitsamtes nicht benannt werden. Daher sei der Kläger als erwerbsunfähig anzusehen, was nicht auf der jeweiligen Arbeitsmarktlage beruhe.
Hiergegen hat die Beklagte Berufung beim Hessischen LSG eingelegt. In einer ergänzenden Auskunft hat das Landesarbeitsamt Hessen insbesondere zu Tätigkeiten Stellung genommen, welche die Beklagte in ihrer Berufungsbegründung als dem Kläger zumutbar benannt hatte, und mitgeteilt, daß der Kläger auch unter Berücksichtigung dieser Tätigkeiten nicht auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt einsetzbar sei. Durch Urteil vom 12. Mai 1997 hat das LSG die Berufung der Beklagten zurückgewiesen und zur Begründung im wesentlichen ausgeführt: Unter Berücksichtigung der festgestellten Gesundheitsstörungen sei der Kläger noch in der Lage, einer vollschichtigen Erwerbstätigkeit nachzugehen, weil er noch leichte Arbeiten mit näher beschriebenen Einschränkungen verrichten könne. Allerdings müsse aufgrund der Fülle der beim Kläger vorhandenen Leistungseinschränkungen davon ausgegangen werden, daß eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen vorliege. Andererseits könne der Kläger nach den berufskundlichen Stellungnahmen des Landesarbeitsamtes wegen der vielfältigen gesundheitlichen Einschränkungen sowie der daraus resultierenden Einschränkung der Leistungsbreite – nicht etwa wegen der Arbeitsmarktlage – keine mehr als geringfügige Erwerbstätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt verrichten. In einem solchen Fall sei dem Versicherten eine konkrete Tätigkeit zu benennen, die er mit dem eingeschränkten Leistungsvermögen noch verrichten könne, auch wenn von einem vollschichtigen Leistungsvermögen auszugehen sei, das an sich die Annahme nahelege, daß es eine hinreichende Zahl von Erwerbsmöglichkeiten für ihn auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gebe. Diese Benennung einer konkreten Tätigkeit sei unter Berücksichtigung der Auskünfte des Landesarbeitsamtes im vorliegenden Fall nicht möglich.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Beklagte die Verletzung materiellen Rechts (§ 44 SGB VI) und ist der Auffassung, daß der Kläger keinen Anspruch auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit habe. Sie trägt dazu vor: Die vom LSG festgestellten Funktionseinschränkungen des Klägers stellten keine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen iS des vom BSG gebildeten Rechtsbegriffes dar. Folglich habe das LSG keine konkrete Verweisungstätigkeit zu bezeichnen brauchen.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 17. Mai 1997 (richtig: 12. Mai 1997) aufzuheben, das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 18. März 1996 abzuändern und die Klage in vollem Umfang abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
II
Die zulässige Revision der Beklagten ist unbegründet. SG und LSG haben zutreffend entschieden, daß der Kläger ab 1. Mai 1995 Anspruch auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit hat. Der Bescheid der Beklagten vom 8. Oktober 1993 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. Januar 1994 ist insoweit rechtswidrig.
Daß der Kläger die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für eine Rentengewährung erfüllt, ist nicht zweifelhaft. Er ist auch erwerbsunfähig iS von § 44 Abs 2 SGB VI. Nach dieser Vorschrift sind erwerbsunfähig Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit auszuüben oder Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen zu erzielen, das ein Siebtel der monatlichen Bezugsgröße übersteigt. Danach fehlt auch bei vollschichtigem Leistungsvermögen eines Versicherten für ihn die Fähigkeit, eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit auszuüben oder mehr als geringfügige Einkünfte durch Erwerbstätigkeit zu erzielen, wenn er nur noch Vollzeitarbeitsplätze ausfüllen kann, die in dieser Weise in der Arbeitswelt als Erwerbsmöglichkeiten nicht oder nicht mehr vorhanden sind. Vor der Frage, ob beim Kläger eine „Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen” (vgl dazu BSG Urteile vom 1. März 1984 – 4 RJ 43/83 – SozR 2200 § 1246 Nr 117, vom 6. Juni 1986 – 5b RJ 42/85 – SozR 2200 § 1246 Nr 136, vom 28. August 1991 – 13/5 RJ 47/90 – SozR 3-2200 § 1247 Nr 8, vom 14. September 1995 – 5 RJ 50/94 – SozR 3-2200 § 1246 Nr 50 und vom 19. August 1997 – 13 RJ 1/94 –) vorliegt und somit die Pflicht zur spezifischen Benennung einer Tätigkeit bestand, war deshalb nach der gesetzlichen Vorgabe in § 44 Abs 2 SGB VI zunächst zu prüfen, ob es in der Arbeitswelt typischerweise eine bzw keine Tätigkeit gibt, die dem Leistungsvermögen des Klägers entspricht, und welche Einkünfte ggf aus dieser Tätigkeit erzielt werden können (vgl Großer Senat des BSG Beschluß vom 11. Dezember 1969 – GS 2/68 – BSGE 30, 192, 199, 203 = SozR Nr 20 zu § 1247 RVO).
Diese Prüfung führt beim Kläger zu einem negativen Ergebnis. Er kann sein Restleistungsvermögen in der Arbeitswelt nicht mehr zur nennenswerten Erzielung von Geld oder geldwerten Gütern einsetzen. Das LSG hat hierzu zwar festgestellt, daß der Kläger seit einigen Monaten vor dem 1. Mai 1995 noch körperlich leichte Arbeiten vollschichtig verrichten kann. Diese Feststellung ist nicht mit zulässigen und begründeten Verfahrensrügen angegriffen worden und damit für den Senat bindend (§ 163 SGG). Darüber hinaus hat das LSG aber auch festgestellt, daß beim Kläger eine Reihe von (weiteren) gesundheitlichen Leistungseinschränkungen vorliegen und daß es in der Arbeitswelt keinen Arbeitsplatz gibt, der unter Berücksichtigung der ärztlicherseits genannten Leistungseinschränkungen dem Restleistungsvermögen des Klägers gerecht werden könnte. Diese Feststellung beruht auf dem Ergebnis der medizinischen Sachaufklärung sowie den eingeholten Auskünften des Landesarbeitsamtes. Sie ist rechtsfehlerfrei, nicht mit zulässigen und begründeten Verfahrensrügen angegriffen und für den Senat ebenfalls bindend (§ 163 SGG).
Unerheblich ist, daß das LSG die letztgenannte Feststellung in seinen Entscheidungsgründen einerseits im Rahmen der rechtlichen Subsumtion des Falles unter dem von der Rechtsprechung entwickelten und hier unerheblichen Gesichtspunkt einer „Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen” erörtert hat (vgl S 8 bis 11 der Urteilsgründe), andererseits jedoch offensichtlich ebenfalls – wie der erkennende Senat, siehe oben – davon ausgegangen ist, daß der Kläger aufgrund seines Gesundheitszustandes von vornherein (ohne „Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen”) auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt keine Erwerbstätigkeit mehr verrichten kann (vgl S 9 und 12 der Urteilsgründe). Zwar mag das LSG insoweit in den Entscheidungsgründen teilweise die Rechtslage verkannt haben. Gemäß § 170 Abs 1 Satz 2 SGG konnte der Senat aber gleichwohl in der Sache entscheiden. Die Entscheidung hat sich – wie bereits dargelegt – nach der Auffassung des Senats aus anderen Gründen als richtig erwiesen. Bei dieser Sachentscheidung konnte er in zulässiger Weise auf alle Tatsachen zurückgreifen, die sich aus dem angefochtenen Urteil ergeben (Meyer-Ladewig, SGG-Komm, 6. Aufl 1998, § 170 RdNrn 5 und 6b mwN), so daß der Tenor des Berufungsurteils im Ergebnis richtig ist.
Da der Kläger bereits hiernach erwerbsunfähig iS von § 44 Abs 2 SGB VI ist, brauchte der Senat nicht auf das Vorbringen der Revisionsklägerin einzugehen, daß die beim Kläger festgestellten Leistungseinschränkungen entgegen der Auffassung des LSG nicht unter den von der Rechtsprechung gebildeten Begriff der „Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen” zu fassen seien und sich der Kläger deshalb auf Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes ohne spezifische Benennung eines Tätigkeitstyps hätte verweisen lassen müssen. Auf diese Frage kommt es nicht mehr an, wenn bereits feststeht, daß es in der Arbeitswelt keinen Tätigkeitstyp gibt, bei dem ein Versicherter – wie hier – sein Restleistungsvermögen noch zu Erwerbszwecken einsetzen kann.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 SGG.
Fundstellen