Verfahrensgang
LSG Berlin (Urteil vom 14.02.1997) |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 14. Februar 1997 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Die Kostenentscheidung bleibt der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Tatbestand
I
Streitig ist, ob der Kläger Anspruch auf Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit hat.
Der 1946 in der Türkei geborene Kläger hat keine Berufsausbildung mit formalem Abschluß absolviert. Er lebt seit 1969 in Deutschland und war hier seitdem versicherungspflichtig als Bauarbeiter (Baufachwerker) beschäftigt. Am 7. Mai 1990 erlitt er bei einem Arbeitsunfall eine Verletzung des linken Auges. Wegen der Unfallfolgen bezieht er von der Bau-Berufsgenossenschaft Hannover ab 1. Januar 1994 eine Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 20 vH. Am 25. Juli 1991 erlitt er einen weiteren Arbeitsunfall und war wegen orthopädischer Beschwerden bis 15. Dezember 1992 arbeitsunfähig. Ab 19. Januar 1993 wurde erneut Arbeitsunfähigkeit festgestellt.
Am 16. Februar 1993 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Gewährung einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit, was er vor allem mit der Augenverletzung und Beschwerden an der Lendenwirbelsäule begründete. Ein von der Beklagten veranlaßtes medizinisches Gutachten kam zu dem Ergebnis, daß er nur noch mittelschwere Arbeiten mit näher beschriebenen Einschränkungen vollschichtig verrichten könne. Daraufhin lehnte die Beklagte den Rentenantrag des Klägers ab (Bescheid vom 14. September 1993; Widerspruchsbescheid vom 7. Dezember 1993).
Mit der beim SG Berlin erhobenen Klage hat der Kläger sein Rentenbegehren weiterverfolgt. Nach ergänzender Sachaufklärung hat das SG Berlin durch Urteil vom 10. Januar 1995 die Beklagte unter Aufhebung ihrer Verwaltungsentscheidung verurteilt, dem Kläger Rente wegen Erwerbsunfähigkeit ab 1. März 1993 zu gewähren. In den Entscheidungsgründen ist im wesentlichen ausgeführt worden: Beim Kläger seien die versicherungsrechtlichen und gesundheitlichen Voraussetzungen für die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsunfähigkeit nach § 44 SGB VI gegeben. Nach dem Ergebnis der medizinischen Beweisaufnahme könne er nur noch leichte bis mittelschwere Arbeiten vollschichtig verrichten, wobei eine Reihe von Einschränkungen zu beachten seien. Dabei handele es sich um eine „Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen”. Wegen dieser ungewöhnlichen Beeinträchtigung des Leistungsvermögens sei der allgemeine Arbeitsmarkt für den Kläger verschlossen. Verweisungstätigkeiten, die der Leistungsfähigkeit des Klägers entsprächen, habe die Beklagte nicht genannt, sie seien von der Kammer auch nach berufskundlichen Auskünften nicht gefunden worden.
Hiergegen hat die Beklagte beim LSG Berlin Berufung eingelegt und geltend gemacht, die vom SG zum Leistungsvermögen des Klägers vertretene Auffassung finde in dem von ihm eingeholten fachorthopädischen Gutachten keine Stütze. Die dort angeführten qualitativen Einschränkungen seien teilweise nicht durch Untersuchungsbefunde begründet. Die Leiden rechtfertigten in ihrer Auswirkung auf das Leistungsvermögen nicht die Annahme einer ungewöhnlichen Summierung von qualitativen Einschränkungen. Nach Einholung eines weiteren orthopädischen Sachverständigengutachtens hat das LSG durch Urteil vom 14. Februar 1997 die Berufung der Beklagten zurückgewiesen und im wesentlichen ausgeführt: Das SG habe zutreffend entschieden, daß dem Kläger ab 1. März 1993 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zustehe. Er sei grundsätzlich auf alle Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes verweisbar, ohne daß es der Benennung einer konkreten Verweisungstätigkeit bedürfe. Ausnahmsweise sei jedoch auch für einen auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verweisbaren Versicherten, der wie der Kläger nur noch körperlich leichte Arbeiten verrichten könne, die Benennung einer spezifischen Verweisungstätigkeit erforderlich, wenn seine Erwerbsfähigkeit durch mehrere schwerwiegende gesundheitliche Einschränkungen oder eine besonders einschneidende Behinderung gemindert sei, weil dann ernste Zweifel aufkommen müßten, ob der Versicherte überhaupt noch in einem Betrieb einsetzbar sei. Darüber hinaus sei die Einsatzfähigkeit eines Versicherten auf dem sog allgemeinen Arbeitsmarkt auch dann zu verneinen, wenn er nur noch Tätigkeiten verrichten könne, die in dieser Weise in der Arbeitswelt typischerweise als Erwerbsmöglichkeiten nicht vorhanden seien, oder wenn er nur noch Vollzeittätigkeiten auszuüben vermöchte, bei denen wegen ihrer Seltenheit zumindest die erhebliche Gefahr einer „Verschlossenheit des Arbeitsmarktes” bestehe. Von einem solchen Ausnahmefall, der die Benennung einer dem Kläger zumutbaren Verweisungstätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt erfordere, sei hier unter Berücksichtigung der eingeholten medizinischen Sachverständigengutachten und des sonstigen medizinischen Akteninhalts auszugehen. Danach könne der Kläger vollschichtig nur noch körperlich leichte Arbeiten mit einer Reihe von Einschränkungen ausüben. Die eingeschränkte Leistungsfähigkeit des Klägers begründe ernste Zweifel, ob er überhaupt noch in einem Betrieb einsetzbar sei. Er sei den von der Rechtsprechung entwickelten sog Seltenheits- oder Katalogfällen zuzuordnen, weil er nur noch unter Arbeitsbedingungen tätig sein könne, die bei Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes unüblich seien. Ein Arbeitsplatz, auf dem ein ungelernter oder einfach angelernter Arbeiter in dem vom medizinischen Sachverständigen geforderten Wechsel der drei Haltungsarten Gehen, Stehen und Sitzen tätig sei und nach freiem Entschluß die Haltungsart selbst jederzeit bestimmen könne, sei auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt unüblich. Dem Kläger müsse deshalb ein konkreter, in der Arbeitswelt tatsächlich existierender Verweisungsberuf – also kein Phantasieberuf oder nur einzelne Verrichtungen – benannt werden, der ihm gesundheitlich zumutbar sei. Einen solchen Beruf habe weder die Beklagte benannt, noch sehe sich der erkennende Senat zu einer Benennung in der Lage. Für eine weitere Sachaufklärung in dieser Hinsicht bestehe kein Anlaß. Nach alledem sei davon auszugehen, daß dem Kläger der allgemeine Arbeitsmarkt wegen der bei ihm bestehenden besonderen qualitativen Leistungseinschränkungen verschlossen sei, so daß er als erwerbsunfähig beurteilt werden müsse.
Mit der vom Senat zugelassenen Revision rügt die Beklagte die Verletzung formellen und materiellen Rechts (§§ 62, 103, 128 SGG; § 44 SGB VI) und trägt vor: Die vom LSG festgestellten Leistungseinschränkungen reichten nicht aus, um den Kläger den von der Rechtsprechung entwickelten sog Seltenheits- oder Katalogfällen zuzuordnen. Da das LSG zu Recht von einer Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen nicht ausgegangen sei und auch nicht etwa eine schwere spezifische Leistungsbehinderung vorliege, sei dem Kläger keine konkrete Verweisungstätigkeit zu benennen, so daß die Voraussetzungen für die Gewährung einer Erwerbsunfähigkeitsrente nicht erfüllt seien. Jedenfalls habe das LSG im Rahmen seiner Amtsaufklärungspflicht den von ihm herangezogenen orthopädischen Sachverständigen durch gezieltes Nachfragen um Klarstellung seiner Aussage zur Frage des Haltungswechsels bitten müssen. Diese Frage habe nicht durch freie Beweiswürdigung oder Auslegung des Gutachtens beantwortet werden dürfen. Schließlich habe das LSG den Anspruch der Beklagten auf rechtliches Gehör verletzt. Ihr sei keine Möglichkeit gegeben worden, zu den überraschenden Feststellungen im Urteil Stellung zu nehmen, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gebe es keine den Leistungseinschränkungen des Klägers angepaßte Tätigkeiten.
Die Beklagte beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts Berlin vom 14. Februar 1997 und des Sozialgerichts Berlin vom 10. Januar 1995 aufzuheben und die Klage abzuweisen,
hilfsweise,
die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht Berlin zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
II
Die zulässige Revision ist in dem Sinne begründet, daß das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist. Der Senat ist nicht in der Lage, aufgrund der vom LSG getroffenen Feststellungen die Frage zu beantworten, ob der Kläger einen Anspruch auf Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit hat. Das LSG wird dazu weitere Ermittlungen anzustellen haben, die sich im einzelnen aus den nachstehenden Ausführungen ergeben.
Daß der Kläger die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für eine Rentengewährung ab 1. März 1993 erfüllt, ist nicht zweifelhaft. Darüber hinaus müssen jedoch für eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit auch die Voraussetzungen von § 44 Abs 2 SGB VI erfüllt sein.
Nach dieser Vorschrift sind erwerbsunfähig Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit auszuüben oder Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen zu erzielen, das ein Siebtel der monatlichen Bezugsgröße übersteigt. Hiervon ausgehend beurteilt sich die Erwerbsfähigkeit eines Versicherten nicht allein nach der Fähigkeit, Arbeiten zu verrichten, sondern auch danach, ob er durch eine Tätigkeit Einkünfte in einer bestimmten Größenordnung erzielen kann. Daher fehlt auch bei vollschichtigem Leistungsvermögen eines Versicherten für ihn die Fähigkeit, eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit auszuüben oder mehr als geringfügige Einkünfte durch Erwerbstätigkeit zu erzielen, wenn er nur noch Vollzeitarbeitsplätze ausfüllen kann, die in dieser Weise in der Arbeitswelt als Erwerbsmöglichkeiten nicht oder nicht mehr vorhanden sind. Vor der Frage, ob beim Kläger eine „Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen” (vgl dazu BSG Urteile vom 1. März 1984 – 4 RJ 43/83 – SozR 2200 § 1246 Nr 117, vom 6. Juni 1986 – 5b RJ 42/85 – SozR 2200 § 1246 Nr 136, vom 28. August 1991 – 13/5 RJ 47/90 – SozR 3-2200 § 1247 Nr 8, vom 14. September 1995 – 5 RJ 50/94 – SozR 3-2200 § 1246 Nr 50 und vom 19. August 1997 – 13 RJ 1/94 –) vorliegt, und somit die Pflicht zur spezifischen Benennung einer Tätigkeit bestand, war deshalb nach der gesetzlichen Vorgabe in § 44 Abs 2 SGB VI zunächst zu prüfen, ob es in der Arbeitswelt typischerweise eine bzw keine Tätigkeit gibt, die dem Leistungsvermögen des Klägers entspricht, und welche Einkünfte ggf aus dieser Tätigkeit erzielt werden können (vgl Großer Senat des BSG Beschluß vom 11. Dezember 1969 – GS 2/68 – BSGE 30, 192, 199, 203 = SozR Nr 20 zu § 1247 RVO). Eine solche Prüfungspflicht mag zwar nicht immer bestehen; sie ist aber jedenfalls dann zu bejahen, wenn – wie hier – aufgrund des gesundheitlichen Leistungsbildes ein deutlicher Hinweis auf das Fehlen von Tätigkeitstypen (meist anders ausgedrückt: Verschlossenheit des Arbeitsmarktes) vorliegt und somit ein Anlaß zu Ermittlungen gegeben ist.
Das LSG hat im Rahmen der Subsumtion unter § 44 Abs 2 SGB VI zwar festgestellt, daß der Kläger seit Februar 1993 noch körperlich leichte Arbeiten mit näher beschriebenen Einschränkungen verrichten kann. Das LSG hätte aber, was die Beklagte zu Recht gerügt hat, das Restleistungsvermögen des Klägers umfassend ermitteln und insbesondere die vom orthopädischen Sachverständigen nicht eindeutig nachvollziehbar begründete und ungewöhnliche Anforderung einer jederzeit nach freiem Entschluß häufig wechselnden Körperhaltung zB durch Nachfrage bei diesem Sachverständigen weiter aufklären müssen (§ 103 SGG).
Selbst wenn die weitere Sachaufklärung das bisherige Ergebnis hinsichtlich der qualitativen Leistungseinschränkungen bestätigt, fehlen ausreichende Feststellungen, daß der Kläger gleichwohl erwerbsunfähig iS von § 44 Abs 2 SGB VI ist. Das LSG hat insoweit allerdings geäußert, die eingeschränkte Leistungsfähigkeit des Klägers begründe „ernste Zweifel, ob er überhaupt noch in einem Betrieb einsetzbar” sei (S 10 der Urteilsgründe). An anderer Stelle (S 13 der Urteilsgründe) ist angegeben, es sei „davon auszugehen, daß dem Kläger der allgemeine Arbeitsmarkt wegen der bei ihm bestehenden besonderen qualitativen Leistungseinschränkungen verschlossen” sei, so daß er „als erwerbsunfähig beurteilt” werden müsse. Diese Ausführungen sind jedoch keine Tatsachenfeststellung, sondern geben lediglich eine Rechtsauffassung wieder, die als Schlußfolgerung nach der Prüfung eines Seltenheits- oder Katalogfalles gezogen wird. Es mangelt deshalb an der Feststellung von Tatsachen zur gesetzlichen Vorgabe in § 44 Abs 2 SGB VI, ob es in der Arbeitswelt eine bzw keine Tätigkeit gibt, die dem Leistungsvermögen des Klägers entspricht, und welche Einkünfte ggf aus dieser Tätigkeit erzielt werden können (vgl Großer Senat des BSG, aaO). Dies hätte das LSG – zB durch Einholung eines berufskundlichen Sachverständigengutachtens oder berufskundlicher Auskünfte – von Amts wegen (§ 103 SGG) aufklären müssen. Hierzu bestand insbesondere deshalb Anlaß, nachdem das SG festgestellt hatte, daß es für den Kläger auf dem Arbeitsmarkt keine seinem Leistungsvermögen entsprechende Tätigkeit ihrem Typ nach gebe, und die Beklagte andererseits im Berufungsverfahren geltend gemacht hatte, daß der Kläger auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch vollschichtig einsatzfähig sei. Wenn das LSG aufgrund der nachzuholenden Sachaufklärung die beschriebenen Tatsachen feststellt, wird sich voraussichtlich bereits die Frage der Erwerbsfähigkeit mit positivem oder negativem Ergebnis beantworten lassen. Dann dürfte es auf die weitere Frage nicht mehr ankommen, ob beim Kläger ein sog Seltenheits- oder Katalogfall, eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder eine schwere spezifische Leistungsbehinderung vorliegt und aus einem dieser Gründe eine namentlich zu benennende Tätigkeit zu ermitteln ist.
Da der Kläger im Rahmen eines Anspruchs auf Rente wegen Berufsunfähigkeit nach seinem bisherigen Beruf auf alle Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes in gleicher Weise wie beim Anspruch auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit verweisbar ist, kommt bei ihm eine Rente wegen Berufsunfähigkeit nicht in Betracht. Wenn die Voraussetzungen einer Rente wegen Erwerbsunfähigkeit fehlen, sind auch die Voraussetzungen einer Rente wegen Berufsunfähigkeit nicht gegeben. Sofern die Voraussetzungen einer Rente wegen Erwerbsunfähigkeit vorliegen, scheidet die geringere Rente wegen Berufsunfähigkeit aus.
Das angefochtene Urteil kann auf der gerügten fehlerhaften Rechtsanwendung und der infolgedessen unterbliebenen weiteren Sachaufklärung beruhen, denn bei weiteren Ermittlungen wäre ein Anspruch des Klägers auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit möglicherweise anders beurteilt worden.
Fundstellen