Entscheidungsstichwort (Thema)
Unechte notwendige Beiladung bei einer Berufskrankheit unterschiedlicher Verursachung. Berufskrankheit durch Asbesteinwirkung. Umfang der Sachermittlungen
Orientierungssatz
1. Beim Streit über die Anerkennung eines Bronchialcarcinoms als Berufskrankheit ist die Beiladung der für eine behauptete Asbesttätigkeit zuständigen Berufsgenossenschaft nicht etwa deswegen entbehrlich, weil nach der Meinung des Berufungsgerichts eine Entschädigung wegen Asbesteinwirkung nicht zu gewähren ist. Die Beiladung gemäß § 75 Abs 2 SGG ist nicht davon abhängig, wie die zu treffende Entscheidung ausfällt; sie ist bereits in einem Zeitpunkt anzuordnen, in dem prozeßrechtlich noch nicht feststeht, wie das Gericht entscheiden wird. Der noch Beizuladende soll die Möglichkeit haben, auf die Entscheidung Einfluß zu nehmen (vgl BSG 31.8.1983 2 RU 65/82 = SozR 1500 § 75 Nr 49).
2. Zum Umfang der gerichtlichen Sachaufklärungspflicht beim Streit über die Anerkennung eines angeblich durch Asbeststaub verursachten Bronchialcarcinoms als Berufskrankheit.
3. Für die Prüfung des Anspruchs auf Entschädigung "wie eine Berufskrankheit" gemäß § 551 Abs 2 RVO kommt es darauf an, alle möglichen tatsächlichen und sachverständigen Auskünfte darüber einzuholen, ob der Versicherte so stark Asbeststaub ausgesetzt war, daß seine spätere Erkrankung - trotz Fehlens einer Asbestose - darauf zurückzuführen ist. Etwa der Hinweis des Gerichts, ein dahingehender Antrag des Versicherten komme einem "Forschungsauftrag" gleich, verstößt gegen das Gebot der Aufklärungspflicht.
4. Wenn typische Krankheitserscheinungen fehlen, die nach § 551 Abs 1 RVO iVm der Anlage 1 zur BKVO Voraussetzung für eine Anerkennung als Berufskrankheit sind, kommt möglicherweise eine Entschädigung nach § 551 Abs 2 RVO in Betracht.
5. Im Einzelfall sollen nach § 551 Abs 2 RVO Krankheiten, auch wenn sie nicht in der BKVO bezeichnet sind oder die dort bestimmten Voraussetzungen nicht vorliegen, wie eine Berufskrankheit entschädigt werden, sofern nach neuen Erkenntnissen die übrigen Voraussetzungen des § 551 Abs 1 RVO erfüllt sind.
6. Der Unfallversicherungsträger hat mit seinem technischen Aufsichtsdienst ein Instrumentarium zur Hand, schädigende Einwirkungen innerhalb eines Betriebes zu ermitteln.
Normenkette
BKVO Anl 1 Nr 4104; RVO § 551 Abs 2; SGG § 75 Abs 2 Alt 2, § 103; RVO § 551 Abs 1
Verfahrensgang
LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 27.06.1984; Aktenzeichen L 3 U 15/83) |
SG Koblenz (Entscheidung vom 14.12.1982; Aktenzeichen S 6 U 371/81) |
Tatbestand
Der Kläger begehrt, das bei ihm aufgetretene Krebsleiden als Berufskrankheit zu entschädigen.
Der im Jahre 1923 geborene Kläger war nach zunächst selbständiger Tätigkeit als Schmiedemeister jeweils ca zwei Jahre in einer Firma für Bremsenherstellung (Fa. G. B. = G.) als Kontrolleur (1968 bis 1969) und sodann als Betriebsschlosser (1969 bis 1972) bei der Fa. S. K. GmbH (= S.) beschäftigt. Anschließend arbeitete er bei der Firma R.-H.-GmbH - einem Mitgliedsunternehmen der Beklagten - zunächst als Betriebsmeister auf dem Holzplatz und danach für die Dauer von drei Jahren als Meister in der mechanischen Fertigung von Spanplatten.
Im Jahre 1979 trat ein Bronchialcarcinom auf, das die operative Entfernung des linken Lungenflügels notwendig machte.
Die Beklagte lehnte die Entschädigung der Krebserkrankung als Berufskrankheit ab (Bescheid vom 10. Dezember 1981). Klage und Berufung blieben ohne Erfolg (Urteil des Sozialgerichts -SG- vom 14. Dezember 1982; Urteil des Landessozialgerichts -LSG- vom 27. Juni 1984). Das LSG hat im wesentlichen zur Begründung ausgeführt:
Eine Berufskrankheit sei nicht zu entschädigen, weil ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Bronchialcarcinom und einer berufsbedingten Reizung der Atemwege durch Formaldehyd nicht festzustellen sei. Eine Berufskrankheit nach der Ziffer 4302 der Anlage zur Berufskrankheitenverordnung (BKVO) sei zu verneinen, weil der Kläger nach ärztlicher Feststellung nicht an einer obstruktiven Atemwegserkrankung leide. Überdies sei die krebserzeugende Wirkung von Formaldehyd medizinisch-wissenschaftlich nicht nachgewiesen. Eine Berufskrankheit nach der Ziffer 4104 der Anlage zur BKVO (Asbeststaublungenerkrankung in Verbindung mit Lungenkrebs) scheitere bereits daran, daß die berufliche Einwirkung von Asbest während der Kontrolltätigkeit des Klägers bei der Bremsenherstellung fraglich sei. Auch fehle die für diese Berufskrankheit typische Asbestose; histologisch und röntgenologisch seien Asbeststaubeinlagerungen beim Kläger nicht gefunden worden. Den Beweisanträgen des Klägers, die Schadstoffbelastungen am früheren Arbeitsplatz aufzuklären und ein Gutachten gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) einzuholen, sei nicht zu folgen, weil Umfang und Auswirkungen der Schadstoffe nicht aufzuklären seien. Der Antrag des Klägers komme einem Forschungsauftrag gleich.
Mit der - vom Senat zugelassenen - Revision rügt der Kläger die Verletzung materiellen und formellen Rechts. Das Berufungsgericht habe rechtsfehlerhaft den geltend gemachten Entschädigungsanspruch des Klägers nicht in vollem Umfange überprüft. Es komme nicht nur eine Entschädigung nach § 551 Abs 1 Reichsversicherungsordnung (RVO) in Verbindung mit der BKVO, sondern auch ein Anspruch nach § 551 Abs 2 RVO wegen einer durch Asbest verursachten Lungenkrebserkrankung in Betracht. Insoweit laste die Entschädigungspflicht nicht auf der Beklagten. Vielmehr sei, da die asbestgefährdete Arbeit in einem Mitgliedsunternehmen der Maschinenbau- und Kleineisenindustrie-Berufsgenossenschaft Düsseldorf verrichtet worden sei, diese Berufsgenossenschaft (BG) zuständig. Das LSG hätte diese BG notwendig beiladen müssen. Im übrigen könne ein durch Asbeststaub verursachtes Bronchialcarcinom auch ohne Vorliegen einer Asbestose entschädigt werden. Das sei dem "Erfahrungsbericht über die Anwendung von § 551 Abs 2 RVO bei beruflichen Erkrankungen", herausgegeben vom Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften, zu entnehmen. Neue Erkenntnisse in der medizinischen Wissenschaft zeigten, daß für das Auftreten eines Bronchialcarcinoms nicht mehr das Vorliegen einer Asbestose (Lungenvernarbung) gefordert werden könne. Dementsprechend habe die Internationale Arbeitskonferenz ihre Liste der Berufskrankheiten im Übereinkommen über Leistungen bei Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten durch Aufnahme der Nr 28 "Lungenkrebs oder Mesothelium, verursacht durch Asbest" ergänzt. Dieses Abkommen habe die Bundesrepublik Deutschland anerkannt. Das Berufungsgericht habe die schädigenden Einwirkungen auf den Kläger während dessen Tätigkeit als Kontrolleur bei den Firmen G. und S. entgegen seiner Sachermittlungspflicht nicht aufgeklärt.
Der Kläger beantragt,
die Urteile des LSG sowie des SG und den angefochtenen Bescheid aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, die beim Kläger bestehende Lungenkrebserkrankung als Berufskrankheit im Sinne von § 551 Abs 1 oder Abs 2 RVO zu entschädigen; hilfsweise, das angefochtene Urteil des LSG aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt sinngemäß,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist im Sinne des Hilfsantrages begründet.
Das LSG hat die Beiladung des möglicherweise leistungspflichtigen Unfallversicherungsträgers unterlassen (§ 75 Abs 2 2. Alternative SGG).
Das LSG hat zwar entschieden, daß die Lungenerkrankung des Klägers nicht auf die Berührung mit krebsverursachenden Stoffen - Formaldehyd - während der zuletzt ausgeübten Beschäftigung in der Holzindustrie im Sinne einer Berufskrankheit zurückzuführen sei. Nach dem Vortrag des Klägers vor dem LSG kommt aber auch eine Verursachung des Krebsleidens durch Einwirkungen anderer krebsverursachender Stoffe - Asbest - in Betracht, mit denen der Kläger angeblich bei früheren Beschäftigungen in Berührung gekommen ist. Da dieser Vortrag nicht ohne Beweiserhebung zu widerlegen ist, hätte die BG beigeladen werden müssen, die für die Unternehmen zuständig ist, in denen der Kläger früher beschäftigt war.
Dem Verfahren des Berufungsgerichts stand allerdings nicht von vornherein entgegen, daß die für die Holzindustrie zuständige BG als Beklagte in Anspruch genommen wurde. Denn leistungspflichtig gegenüber einem Unfallgeschädigten ist immer nur ein einziger Versicherungsträger, auch wenn die zum Unfall führende Tätigkeit mehreren Unternehmen zuzurechnen ist, die mehreren Berufsgenossenschaften angehören (BSGE 5, 168, 175; 12, 65, 68 ff; 24, 216, 218; 27, 233, 236). Mithin wäre die beklagte BG allein zuständig geblieben, wenn sich ergeben hätte, daß die Krankheit, deren Entschädigungspflicht streitig ist, möglicherweise auch auf die Beschäftigungen bei den Firmen G. und S. wegen Asbesteinwirkung zurückzuführen wäre. Dann stünde nicht entgegen, daß die für die Firmen G. und S. zuständige BG nicht am Verfahren beteiligt wäre. Dementsprechend ist nach § 4 Abs 1 der zwischen den gewerblichen Berufsgenossenschaften getroffenen Vereinbarungen vom 8. und 9. Februar 1973 idF von 1984 (zitiert nach Lauterbach, Komm zur gesetzlichen Unfallversicherung, 3. Aufl, Stand 1. Juli 1986, Anhang Nr 3) "die Berufsgenossenschaft, auf die die letzte gefährdende Beschäftigung im Sinne des Rechts der Berufskrankheiten entfällt, für die Feststellung und Entschädigung der Berufskrankheit zuständig."
Anders ist jedoch zu verfahren, wenn nach Auffassung des Tatsachengerichtes feststeht, daß nicht die zunächst als Beklagte angegangene BG, sondern, wenn überhaupt, nur eine bestimmte andere BG entschädigungspflichtig sein kann. Darauf weist auch § 3 der o. a. Vereinbarung hin. Danach trifft zwar die BG, der eine Berufskrankheit gemeldet wird, zunächst die notwendigen Maßnahmen und prüft unverzüglich, ob der Versicherte in ihrem Bereich eine gefährdende Beschäftigung ausgeübt hat oder ausübt. War der Versicherte aber im Bereich der danach zuständigen BG keiner gefährdenden Beschäftigung ausgesetzt, gibt diese den Fall unverzüglich an diejenige BG ab, unter deren Versicherungsschutz der Versicherte eine gefährdende Beschäftigung ausgeübt hat. Dieser als leistungspflichtig in Betracht kommende Unfallversicherungsträger - hier die für die Unternehmen G. und S. zuständige Maschinenbau- und Kleineisenindustrie-BG mit Sitz in Düsseldorf (§ 646 Abs 1 RVO iVm Anl 1 hierzu) - ist zum Streitverfahren notwendig beizuladen (§ 75 Abs 2 2. Alternative SGG). Denn diese BG kann - obwohl nur Beigeladene - zur Entschädigung verurteilt werden (§ 75 Abs 5 SGG). Die unechte notwendige Beiladung ist im Revisionsverfahren zwar nicht von Amts wegen zu beachten (BSG SozR 1500 § 75 Nr 47; Urteil des erkennenden Senats vom 29. Januar 1986 - 9b RU 68/84 -). Der Kläger hat jedoch seine Revision ausdrücklich auf diesen Verfahrensmangel gestützt (§ 164 Abs 2 Satz 3 SGG).
Nach der zutreffenden Rüge des Klägers hat das Berufungsgericht ungeprüft gelassen, ob seine Erkrankung ursächlich auf frühere berufsbedingte schädigende Einwirkungen zurückzuführen ist. Hierzu hätte Anlaß bestanden, da der Kläger während seiner Tätigkeit in Unternehmen zur Bremsenherstellung und Kleinmotorenteile unter Asbeststaubeinwirkung gearbeitet haben soll. Dies könnte geeignet sein, das Bronchialcarcinomleiden des Klägers zu verursachen. Infolgedessen hätte das LSG daraus die notwendigen verfahrensrechtlichen Konsequenzen ziehen und den zuständigen Unfallversicherungsträger beiladen müssen.
Diese Beiladung ist nicht etwa deswegen entbehrlich, weil nach der Meinung des Berufungsgerichts eine Entschädigung wegen Asbesteinwirkung nicht zu gewähren ist. Die Beiladung gemäß § 75 Abs 2 SGG ist nicht davon abhängig, wie die zu treffende Entscheidung ausfällt; sie ist bereits in einem Zeitpunkt anzuordnen, in dem prozeßrechtlich noch nicht feststeht, wie das Gericht entscheiden wird. Der noch Beizuladende soll die Möglichkeit haben, auf die Entscheidung Einfluß zu nehmen (BSG SozR 1500 § 75 Nr 49). Eine Ausnahme, in der feststeht, daß die Klage in jedem Fall abgewiesen werden muß (vgl Hinweis bei Meyer-Ladewig, SGG, 3. Aufl, § 75 Anm 43) liegt nicht vor.
Denn die Ausführungen des LSG, soweit sie den Entschädigungsanspruch des Klägers wegen Asbestgefährdung betreffen, sind nicht überzeugend. Die Tätigkeit als Kontrolleur läßt nicht absolut auf einen fehlenden Kontakt mit Asbest schließen. Nach dem Vortrag des Klägers hatte er seine Kontrolltätigkeit in unmittelbarer Nähe der Produktionsstätte verrichtet. Aufgrund dessen sind entsprechende Feststellungen nicht entbehrlich, vielmehr gerade geboten.
Auch kann sich das LSG auf das Fehlen einer Asbestose, die nach der Ziffer 4104 der Anlage zur BKVO vorausgesetzt wird, jedenfalls zum derzeitigen Zeitpunkt nicht berufen. Diesbezüglich hat eine medizinische Überprüfung, auf die das Berufungsgericht die entsprechenden Feststellungen hätte stützen können, noch nicht stattgefunden. Außerdem kommt ein Entschädigungsanspruch auch nach § 551 Abs 2 RVO in Betracht. Nach dieser Vorschrift sollen im Einzelfall Krankheiten, auch wenn sie nicht in der BKVO bezeichnet sind oder die dort bestimmten Voraussetzungen nicht vorliegen, wie eine Berufskrankheit entschädigt werden, sofern nach neuen Erkenntnissen die übrigen Voraussetzungen des Abs 1 erfüllt sind. Darauf läßt sich möglicherweise eine Entschädigung des Bronchialcarcinoms stützen. Zur Beurteilung dessen fehlt dem LSG die eigene Sachkunde; das Berufungsgericht hat sie jedenfalls nicht dargetan. Ermittlungen in bezug auf die berufsbedingte schädigende Belastung und deren ursächliche Bedeutung sind entgegen der Meinung des LSG nicht von vornherein aussichtlos. Auch kommt der Antrag des Klägers nicht einem Forschungsauftrag gleich. Die Ermittlungen sind eine unentbehrliche Grundlage, um abschließend über den Anspruch des Klägers zu entscheiden. Im übrigen fördert die Beiladung gerade die Aufklärung des Sachverhalts. Dem beizuladenden Unfallversicherungsträger ist mit dem technischen Aufsichtsdienst ein Instrumentarium in die Hand gegeben, schädigende Einwirkungen innerhalb eines Betriebes zu ermitteln. Dies dient nicht nur zur Einstufung in bestimmte Gefahrenklassen (§§ 730 ff RVO), sondern und gerade auch der vorbeugenden Unfallverhütung (§ 537 Nr 1 RVO). Die Berufsgenossenschaft ist aufgrund eigener Sachkenntnis in der Lage, über die Mitgliedsunternehmen fundierte Auskünfte zu erteilen. Sie kann infolge gleichgelagerter oder vergleichbarer Fälle bereits Erkenntnisse über das Belastungsausmaß wie auch über deren ursächliche Bedeutung im Hinblick auf das Bronchialcarcinomleiden besitzen.
Das LSG wird nach Beiladung der zuständigen BG die weiteren Sachermittlungen durchzuführen haben.
Das Berufungsgericht hat auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden.
Fundstellen