Entscheidungsstichwort (Thema)
Anerkennung einer Berufskrankheit. neuer Erkenntnisse. Ladung des Sachverständigen zwecks Ergänzung seines Gutachtens
Orientierungssatz
1. Zur Frage der Anerkennung einer Berufskrankheit nach § 551 Abs 2 RVO bei Durchblutungsstörungen in großen Gefäßen durch Einwirkung von Secale-Alkaloiden bei Tätigkeit in der pharmazeutischen Industrie.
2. Hat der Kläger rechtzeitig und genügend ausführlich auf neue Erkenntnisse über eine ursächliche Beeinflussung auch von Durchblutungsstörungen in großen Gefäßen durch den Umgang mit speziellen chemischen Stoffen hingewiesen (hier: aufgrund einer bedeutsamen Veröffentlichung), muß sich das Gericht gedrängt sehen, den Sachverständigen ergänzend zu befragen, ob und warum er trotz dieser Erkenntnisquelle an seiner Beurteilung festhalte.
Normenkette
SGG § § 103, 106 Abs 3 Nr 4, § 106 Abs 3 Nr 5, § 106 Abs 4, § 118 Abs 1 S 1, § 128 Abs 1 S 1; ZPO § 411 Abs 3; RVO § 551 Abs 2
Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Entscheidung vom 25.01.1985; Aktenzeichen L 3 U 203/83) |
SG Regensburg (Entscheidung vom 07.07.1983; Aktenzeichen S 4 U 170/82) |
Tatbestand
Der Kläger begehrt Entschädigung aus der Unfallversicherung wegen einer Berufskrankheit auf Grund neuer wissenschaftlicher Erkennt- nisse nach § 551 Abs 2 Reichsversicherungsordnung (RVO). Er führt Durchblutungsstörungen in Becken- und Beingefäßen auf den Umgang mit gefährlichen Stoffen, besonders mit Secale-Alkaloiden, ua mit Secale cornutum, während seiner Tätigkeit in der pharmazeutischen Industrie 1970/71 zurück. Nach wiederholten Ablehnungen prüfte die Beklagte auf Grund eines Vergleiches erneut die Sache und lehnte eine Entschädigung nach § 551 Abs 2 RVO ab, weil keine neuen Erkenntnisse über einen Ursachenzusammenhang zwischen der bezeichneten Tätigkeit und der Erkrankung des Klägers bekannt seien (Bescheid vom 24. Februar 1982, Widerspruchsbescheid vom 12. Mai 1982). Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 7. Juli 1983), das Landessozialgericht (LSG) die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 29. Januar 1985): Die beim Kläger erstmals Ende 1971 bemerkte arterielle Verschlußkrankheit in den großen Becken- und Beingefäßen sei nicht nach neueren Erkenntnissen durch den beruflichen Umgang mit Secale cornutum verursacht worden. Dieser Stoff könne lediglich kleine und mittlere Arterien vorübergehend schädigen. Das Gericht stütze sich vor allem auf das von der Beklagten eingeholte Gutachten der Oberärzte Dr. N und Dr. D sowie auf bestätigende gutachtliche Stellungnahmen des Landesarbeitsmediziners Dr. Raschke, der Ärztin für Berufskrankheiten Dr. S und des Arbeits- und Sozialmediziners Prof. Dr. V.
Der Kläger rügt mit der - vom Bundessozialgericht (BSG) zugelassenen - Revision eine Verletzung des § 116 Sozialgerichtsgesetz (SGG) sowie der §§ 103 und 118 SGG iVm § 411 Abs 3 Zivilprozeßordnung (ZPO). Das LSG hätte antragsgemäß ein Gutachten von Dr. S über neueste einschlägige wissenschaftliche Erkenntnisse, nach denen Secale-Alkaloide auch arterielle Durchblutungsstörungen in den großen Gefäßen im Beckenbereich verursachen, einholen und Dr. D sowie Prof. Dr. V zur mündlichen Verhandlung laden müssen, um diese Ärzte ergänzend zu der genannten Frage zu hören. Schließlich hätte das Gericht durch eine unmittelbare Beweisaufnahme klären müssen, ob der Kläger entgegen seiner Behauptung Nikotinabusus betrieben habe.
Der Kläger beantragt, das Urteil des LSG aufzuheben und die Sache an das Gericht zurückzuverweisen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist erfolgreich. Das angefochtene Urteil muß aufgehoben, der Rechtsstreit muß an das LSG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen werden.
Für die Entscheidung über den Klageanspruch fehlen ausreichende Tatsachenfeststellungen. Das Berufungsurteil beruht auf dem formgerecht gerügten Verfahrensfehler, daß der Sachverständige Prof. Dr. V ergänzend zu seinen knappen schriftlichen Stellungnahmen antragsgemäß hätte gehört werden müssen (§§ 162, 164 SGG). Die umstrittene Entschädigung wegen einer Berufskrankheit hängt nach der maßgebenden Rechtsauffassung des LSG davon ab, daß die arteriellen Durchblutungsstörungen in den großen Becken- und Beingefäßen beim Kläger, eine nicht durch eine Rechtsverordnung erfaßte Krankheit, nach neueren wissenschaftlichen Erkenntnissen durch besondere Einwirkungen verursacht wurden, denen der Kläger durch seine Beschäftigung in der pharmazeutischen Industrie in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung ausgesetzt war (§§ 547, 539 Abs 1 Nr 1, § 551 Abs 2 iVm Abs 1 RVO; dazu BVerfGE 58, 369 ff = SozR 2200 § 551 Nr 19; BSGE 59, 295 = SozR 2200 § 551 Nr 27). Das LSG hat zwar über entsprechende neue pharmakologische und angiologische Erkenntnisse Prof. Dr. V schriftlich gehört. Der Kläger hat aber im Berufungsverfahren die schriftlichen Stellungnahmen dieses Sachverständigen vom 13. September 1984 und vom 22. November 1984 für unzureichend erklärt und eine ergänzende Befragung des Sachverständigen beantragt. Dazu hat er hinreichende Gründe dargetan und auch die zu stellende Frage genügend bezeichnet. Der Senat kann dahingestellt sein lassen, ob dem Kläger auf Grund dessen nach §§ 62 und 116 Satz 2 SGG hätte Gelegenheit gegeben werden müssen, sachdienliche Fragen an den Sachverständigen richten zu lassen (entsprechend § 402 iVm § 397 ZPO; BSG 27. August 1974 - 9 RV 66/74 -; BSG 26. Oktober 1983 - 9b RU 18/83 -; BSG 27. Juni 1984 - 9b RU 48/83 -; BSG 26. Juni 1985 - 9a RV 56/83 -; BSG SozR 1750 § 411 Nr 2; Schur, SGb 1985, 529). Jedenfalls hätte sich dem LSG diese ergänzende Sachaufklärung als solche von Amts wegen auf Grund der schriftlichen Anregung des Klägers aufdrängen müssen (§§ 103, 106 Abs 3 Nrn 4 und 5, Abs 4, § 118 Abs 1 Satz 1 SGG iVm § 411 Abs 3 ZPO). Falls der Sachverständige sich zu entsprechenden gerichtlichen Fragen hinreichend erschöpfend schriftlich geäußert hätte (§ 118 Abs 1 Satz 1 SGG iVm § 411 Abs 1 ZPO), uU auf eine erneute Nachfrage, hätte sich eine Ladung zur mündlichen Verhandlung und zur Erläuterung des schriftlichen Gutachtens erübrigen können. Das war hier aber bis zum Ende des Berufungsverfahrens nicht der Fall.
Der Kläger hat rechtzeitig und genügend ausführlich auf neue Erkenntnisse über eine ursächliche Beeinflussung auch von Durchblutungsstörungen in großen Gefäßen durch den Umgang mit speziellen chemischen Stoffen hingewiesen (Heinrich/Karja in: Robert Heintz -Hg-, Erkrankungen durch Arzneimittel, 2. Aufl 1978, S 216). Auf Grund dessen hätte sich dem LSG aufdrängen müssen, den Sachverständigen ergänzend zu befragen, ob und warum er trotz dieser Erkenntnisquelle an seiner Beurteilung festhalte. Zu der bedeutsamen Veröffentlichung hatten sich die Ärzte, die vor dem Berufungsverfahren gehört worden waren, noch nicht äußern können. Prof. Dr. V hat auf den Gutachtenauftrag außergewöhnlich knapp und summarisch geantwortet, er trete der Beurteilung durch Dr. N und Dr. D vom 19. August 1976 bei. Dabei ist er auf das vom Kläger zuletzt angeschnittene Problem nicht substantiiert eingegangen, sondern hat die "Behauptungen" des Klägers als "spekulativ" abgetan. In seiner weiteren Äußerung auf eine ergänzende gezielte Anfrage des Gerichts hat Prof. Dr. V lediglich mitgeteilt, das bezeichnete Buch befinde sich in seiner Bibliothek und die darin enthaltenen Ausführungen habe er berücksichtigt. Damit fehlt es weiterhin an einer sachgerechten Auseinandersetzung mit dem entscheidungserheblichen Vorbringen des Klägers im einzelnen, soweit es sich auf eine einschlägig erscheinende wissenschaftliche Abhandlung stützte. Unter diesen Umständen hätte das LSG dem schriftlichen Begehren, Prof. Dr. V aufzufordern, seine Stellungnahme "zu rechtfertigen oder zu widerrufen", entsprechen müssen. Im Ergebnis hat das Gericht ein angebotenes Beweismittel nicht ausgeschöpft und damit die Sachaufklärung unzulässigerweise eingeschränkt (§ 128 Abs 1 Satz 1 SGG).
Das Berufungsgericht hat nun die notwendigen Beweiserhebungen nachzuholen. In erster Linie hat es zu entscheiden, ob es ergänzend eine gründliche und erschöpfende Stellungnahme von Prof. Dr. V oder ein Gutachten von einem anderen Sachverständigen einholen will.
Das LSG hat auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden.
Fundstellen