Leitsatz (redaktionell)
1. Kriegsverletzung (Verlust der rechten Hand) als wesentliche Bedingung eines tödlichen Verkehrsunfalls.
2. Als Gesetz iS des SGG § 162 Abs 1 Nr 3 ist die Rechtsnorm zu verstehen, die bestimmt, wann 2 Tatsachen rechtlich zueinander im Verhältnis von Ursache und Wirkung stehen. Als Rechtsnorm kommt nur die für das Recht der Kriegsopferversorgung geltende Kausalitätsnorm in Betracht.
Normenkette
BVG § 1 Fassung: 1950-12-20, § 38 Fassung: 1950-12-20; SGG § 162 Abs. 1 Nr. 3 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Auf die Revision der Klägerinnen wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 25. März 1960 aufgehoben. Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 9. Oktober 1956 wird zurückgewiesen.
Der Beklagte hat den Klägerinnen die außergerichtlichen Kosten des Berufungs- und Revisionsverfahrens zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
Der Ehemann bzw. Vater der Klägerinnen erhielt wegen der Schädigungsfolgen "Verlust der rechten Hand, geringe Bewegungseinschränkung des linken Ellbogengelenks nach Schußbruch der linken Elle" Versorgung nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 70 v. H. Am 8. Mai 1954 verunglückte er als Mitfahrer auf dem Soziussitz eines Motorrades infolge einer Reifenpanne tödlich, während der Motorradfahrer selbst mit Hautabschürfungen davonkam. Das Versorgungsamt lehnte den Antrag der Klägerinnen auf Hinterbliebenenversorgung ab, weil ein Zusammenhang zwischen den anerkannten Schädigungsfolgen und dem Unfalltod nicht bestehe. Der Widerspruch blieb erfolglos. Auf die Klage verurteilte das Sozialgericht (SG) mit Urteil vom 9. Oktober 1956 den Beklagten, den Klägerinnen ab 1. Mai 1954 Hinterbliebenenrente nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) zu gewähren. Der Beschädigte habe wegen der Schädigungsfolgen nur eine Hand zum Festhalten am Soziussitz verwenden können; dadurch sei er so benachteiligt gewesen, daß er den tödlichen Sturz nicht habe vermeiden können. Das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen änderte auf die Berufung des Beklagten mit Urteil vom 25. März 1960 das Urteil des SG dahin ab, daß die Klage abgewiesen wurde. Infolge einer Panne am Hinterradreifen sei der Beschädigte etwa 6 m durch die Luft auf den Gehsteig geflogen und mit dem Schädel auf die Straßendecke gestürzt, so daß er an den Folgen verstarb. Nach dem Gutachten des technischen Sachverständigen Dr. L... sei es nicht außergewöhnlich, daß bei Motorradpannen der Soziusfahrer durch die Luft geschleudert werde und köpflings aufschlage. Der Griff am Soziussitz sei beim plötzlichen Abbremsen nicht geeignet, einen vorwärtsstrebenden Körper hinreichenden Halt zu geben, mögen die Hände auch in der Gebrauchsfähigkeit nicht behindert sein. Der Beschädigte habe sich zwar während der Fahrt am Griff des Soziussitzes festgehalten. Er hätte beim Festhalten mit beiden Händen eine größere Haltekraft ausüben können; das Festhalten mit einer Hand habe den Körper asymmetrisch gehalten, so daß sich dessen Beharrungsvermögen einseitig zur Körperlängsachse ausgewirkt habe. Trotz der Steigung der Straße und der mäßigen Geschwindigkeit von 40 - 50 km/st sei der Beschädigte auf die Straße geschleudert worden. Da aus vielen Unfällen bekannt sei, daß auch Nichtbeschädigte bei einem derartigen Unfall ähnlich schwere Verletzungen davontragen, komme den typischen schicksalhaften Umständen des Verkehrsunfalles gegenüber der Körperbeschädigung des Verstorbenen überragende Bedeutung als Ursache für den tödlichen Ablauf zu.
Mit der nicht zugelassenen Revision rügen die Klägerinnen in erster Linie, das LSG habe bei Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs das Gesetz verletzt (§ 162 Abs. 1 Nr. 3 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -). Obgleich der medizinische Sachverständige Dr. K... erklärt habe, die bei dem Verstorbenen anerkannten Schädigungsfolgen (Fehlen der rechten Hand und Bewegungsbehinderung im linken Ellenbogengelenk) hätten zu dem unglücklichen Sturz und damit zum Tode geführt, und obwohl der technische Sachverständige eine "gewisse Wahrscheinlichkeit" dafür eingeräumt habe, daß das Versorgungsleiden wesentliche Mitursache des tödlichen Sturzes gewesen sei, habe das LSG auf Grund des von ihm angewandten Erfahrungssatzes, auch Nichtbeschädigte könnten beim Sturz vom Soziussitz eines Motorrades tödliche Verletzungen erleiden, allein die typischen Gefahren eines Verkehrsunfalles als Ursache des Todes im Rechtssinne angesehen. Abgesehen davon, daß eine derartige Verallgemeinerung bei Prüfung der Kausalität nicht zulässig sei, werde die Beurteilung des LSG auch dadurch widerlegt, daß der nicht versehrte Fahrer des Motorrades bei dem Sturz nur leichte Verletzungen erlitten habe. Bei zutreffender Beurteilung des Zusammenhangs hätte das LSG die anerkannten Schädigungsfolgen als wesentliche Mitursache für den tödlichen Sturz ansehen müssen. Als wesentlichen Verfahrensmangel - Verstoß gegen § 128 SGG - rügt die Revision, das LSG habe sich auf Grund des von ihm angewandten - zu allgemeinen - Erfahrungssatzes zu Unrecht über die Gutachten der Sachverständigen hinweggesetzt, insbesondere die von dem technischen Sachverständigen eingeräumte "gewisse Wahrscheinlichkeit" in eine bloße "Möglichkeit" umgedeutet. Die Klägerinnen beantragen, unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des SG Dortmund vom 9. Oktober 1956 zurückzuweisen; hilfsweise, die Sache unter Aufhebung des angefochtenen Urteils an das LSG zurückzuverweisen.
Der Beklagte hält das angefochtene Urteil für zutreffend und beantragt, die Revision als unzulässig zu verwerfen; hilfsweise, sie als unbegründet zurückzuweisen.
Die Revision ist zulässig, denn sie ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§§ 164, 166 SGG) und erweist sich nach § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG auch als statthaft, weil die gerügte Gesetzesverletzung bei Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs vorliegt.
Als Gesetz im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG ist die Rechtsnorm zu verstehen, die bestimmt, wann zwei Tatsachen rechtlich zueinander im Verhältnis von Ursache und Wirkung stehen. Als Rechtsnorm in diesem Sinne kommt nur die für das Recht der Kriegsopferversorgung geltende Kausalitätsnorm in Frage, die nicht ausdrücklich in einer gesetzlichen Vorschrift niedergelegt, sondern von Rechtslehre und Rechtsprechung entwickelt ist. Danach ist nicht jede Bedingung, die nicht hinweggedacht werden kann, ohne daß der Erfolg entfiele, als ursächlich anzusehen, sondern nur diejenige, die im Verhältnis zu anderen Einzelbedingungen wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt hat (BSG 1, 76, 151, 270). Der Ursachenbegriff in § 38 Abs. 1 Satz 1 BVG ist kein anderer, als der, der sonst im Versorgungsrecht gilt, denn aus dem Wortlaut dieser Vorschrift ist nicht erkennbar, daß die Worte "an den Folgen einer Schädigung gestorben" hier etwas anderes bedeuten als etwa die Formulierungen, die in den §§ 1, 10, 25 Abs. 1, 29 Abs. 1, 32 Abs. 1, 49 Abs. 1 BVG auf die Notwendigkeit des Ursachenzusammenhangs hinweisen (vgl. SozR BVG § 35 Bl. Ca 4 Nr. 9). SozR SGG § 162 Bl. Da 23 Nr. 87 steht nicht entgegen, da sich die dort veröffentlichte Entscheidung nur auf § 38 Abs. 1 Satz 2 BVG bezieht. Unter diese Kausalitätsnorm hat das LSG den von ihm zu beurteilenden Sachverhalt subsumiert, als es prüfte, ob die als Versorgungsleiden anerkannten Gesundheitsschädigungen des Verstorbenen im Verhältnis zu den übrigen den Sturz auslösenden Einzelbedingungen wesentlich zum schädlichen Erfolg, d.h. zur tödlichen Verletzung mitwirkten. Diese Subsumtion des LSG ist unzutreffend, denn die Frage, ob eine Bedingung im Sinne der Kausalitätsnorm des Rechts der Kriegsopferversorgung neben anderen Bedingungen "wesentliche" Bedingung gewesen ist, kann nicht danach beurteilt werden, ob die Bedingung "erfahrungsgemäß", im allgemeinen, unter gleichen Umständen bei anderen Personen den gleichen Erfolg herbeigeführt hätte (vgl. BSG 11, 50). Vielmehr ist entscheidend auf die besonderen Umstände des Falles abzustellen. Es ist zu prüfen, ob die Unfallfolgen mit Wahrscheinlichkeit auch dann in gleicher Schwere eingetreten wären, wenn der Verunglückte nicht durch seine Versorgungsleiden erheblich behindert gewesen wäre. Dementsprechend hat das Bundessozialgericht (BSG) auch bereits in einem etwas anders gelagerten Fall entschieden, es komme nicht darauf an, ob die versorgungsrechtlich erheblichen Ereignisse sich im Rahmen "durchschnittlicher, gewöhnlicher" Anforderungen gehalten haben, sondern auf die besondere individuelle Belastung und Belastbarkeit des Betroffenen (BSG 11, 50; vgl. auch Haueisen in JZ 1961, 9, 11).
Dies hat das LSG im vorliegenden Fall verkannt, wenn es den als Schädigungsfolgen anerkannten Gesundheitsstörungen des Verstorbenen zwar einen Einfluß auf Zeitpunkt und Geschwindigkeit der Sturzbewegung zugeschrieben, sie aber deshalb nicht als wesentliche Mitursache für den tödlichen Erfolg angesehen hat, weil allgemein aus unzähligen Unfallgeschehen bekannt sei, daß auch Nichtbeschädigte bei einem derartigen Unfall ähnlich schwere Verletzungen davontragen. Erfahrungsgemäß trägt zwar der Beifahrer auf dem Soziussitz eine Motorrades beim Brems- oder Blockierungssturz schwerere Verletzungen, insbesondere Schädelverletzungen, davon als der Fahrer des Motorrades, so daß für ihn der Sturz schon tödliche Folgen haben kann, wenn der Fahrer noch mit leichten Verletzungen davonkommt. Der vom LSG seinem Urteil zugrunde gelegte unfallstatistische Erfahrungssatz "regelmäßig schwererer Verletzungen des Beifahrers als des Motorradfahrers bei Brems- oder Blockierungsstürzen" rechtfertigt aber weder den Schluß, jeder Beifahrer müsse bei einem derartigen Sturz zu Tode kommen, noch kann daraus abgeleitet werden, die gefährliche Position auf dem Soziussitz überwiege bei solchen Stürzen als Ursache für den tödlichen Verlauf jede andere denkbare Ursache. Nur unter diesen Voraussetzungen hätte sich aber das LSG bei Anwendung der für die Kriegsopferversorgung geltenden Kausalitätsnorm auf den von ihm angeführten Erfahrungssatz beschränken und von der Abwägung aller im vorliegenden Fall gegebenen Einzelbedingungen absehen dürfen. Es hat somit bei Anwendung der für die Kriegsopferversorgung geltenden Kausalitätsnorm zu Unrecht die besonderen Umstände des Einzelfalles sowie die individuelle Behinderung des Betroffenen nicht gebührend berücksichtigt und damit die Kausalitätsnorm verletzt.
Die Revision ist auch begründet, denn das angefochtene Urteil beruht auf dieser Rechtsverletzung (§ 162 Abs. 2 SGG). Es unterliegt daher der Aufhebung.
Die vom LSG getroffenen Feststellungen reichen nach Auffassung des erkennenden Senats für eine Entscheidung in der Sache selbst aus. Die weitere Rüge der Revision, das LSG habe zu Unrecht die von dem technischen Sachverständigen eingeräumte "gewisse Wahrscheinlichkeit" des Ursachenzusammenhangs zwischen den anerkannten Schädigungsfolgen des Verstorbenen und seinem tödlichen Sturz in eine bloße "Möglichkeit" verkehrt, steht dem nicht entgegen, denn die vom LSG über die Bekundungen beider Sachverständiger durch vollinhaltliche Bezugnahmen getroffenen Feststellungen selbst werden mit dieser Rüge nicht angegriffen und sind deshalb gemäß § 163 SGG für das Revisionsgericht bindend. Der medizinische Sachverständige hat ausgeführt, der Unfall wäre für den Soziusfahrer wahrscheinlich nicht tödlich verlaufen, wenn er in der Lage gewesen wäre, den dabei auftretenden Schleuder- und Fliehkräften größeren Widerstand entgegenzusetzen. Das Fehlen der rechten Hand und die Bewegungsbehinderung im linken Ellenbogengelenk hätten daher zu den sonst wohl nicht tödlichen Verletzungen geführt. Der technische Sachverständige hat sich dem in eingeschränkter Form angeschlossen. Zwar hat er ganz allgemein ausgeführt, es könne nicht mit genügender Sicherheit bewiesen werden, daß ein im Gebrauch der Hände nicht benachteiligter Soziusfahrer nicht auch die gleichen tödlichen Verletzungen hätte erleiden können. Unter Würdigung der Besonderheit des vorliegenden Falles kam er jedoch zum Ergebnis, daß eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür spreche, daß die körperliche Beeinträchtigung für die Schwere des Sturzes ursächlich gewesen ist. Ohne jede Einschränkung stellte er fest, daß der Soziusfahrer im vorliegenden Fall durch seine Kriegsbeschädigung in seiner normalen körperlichen Abwehrfähigkeit gegen die beim Sturz aufgetretene Gefahrenlage und die auf ihn einwirkenden Massenkräfte wesentlich, und zwar hinsichtlich des Festhaltens am Handgriff einseitig asymmetrisch beeinträchtigt war. Damit hat er den Auswirkungen der Kriegsbeschädigung die Bedeutung einer wesentlichen Mitursache zugesprochen. Nach der übereinstimmenden Feststellung beider Sachverständiger war der Soziusfahrer sonach durch seine Kriegsbeschädigung wesentlich gehindert, den Sturz abzuschwächen. Dadurch haben nach der Darlegung des medizinischen Sachverständigen die Verletzungen ein tödliches Ausmaß erreicht, während sie bei einem durch unbehindertes Festhaltevermögen abgeschwächten Sturz wahrscheinlich nicht tödlich gewesen wären. Diese Beurteilung hat der technische Sachverständige nicht in Zweifel gezogen. Nach dieser im wesentlichen übereinstimmenden Würdigung des Unfallherganges durch zwei Sachverständige, die alle Umstände des Einzelfalls, insbesondere Sturzgeschwindigkeit, Flugzeit und Flugstrecke sowie Ablauf der Schleuderbewegung und Lage des Verunglückten, sachkundig in Betracht gezogen haben, ist es nach der mit den Sachverständigen übereinstimmenden Auffassung des erkennenden Senats wahrscheinlich, daß die Verletzungen, zu denen der Sturz auch bei einem körperlich nicht behinderten Soziusfahrer geführt hätte, gerade wegen der durch die Kriegsbeschädigungen des Verstorbenen an beiden Armen erheblich verminderten Fähigkeit, sich am Handgriff des Soziussitzes festzuhalten, ein tödliches Ausmaß erreichten. Somit sind die bei dem Verstorbenen anerkannten Schädigungsfolgen wesentliche Mitursache seines Todes gewesen; er ist daher "an den Folgen einer Schädigung" im Sinne des § 38 Abs. 1 Satz 1 BVG gestorben und der Versorgungsanspruch seiner Hinterbliebenen erweist sich als begründet. Dem steht die Entscheidung des erkennenden Senats vom 26. Februar 1959 - 9 RV 96/55 - nicht entgegen, denn in dieser Streitsache hatten - anders als im vorliegenden Falle - die technischen und ärztlichen Sachverständigen und mit ihnen übereinstimmend die Vorinstanzen festgestellt, daß sich darüber, ob der verunglückte Fahrer die tödlichen Folgen durch eigene Schutzmaßnahmen hätte vermeiden können, wenn er nicht die anerkannte Wehrdienstbeschädigung gehabt hätte, nichts aussagen lasse. Im Gegensatz zum vorliegenden Fall war es dort also nicht wahrscheinlich, daß das Versorgungsleiden eine wesentliche Bedingung für den tödlichen Ausgang des Unfalls war.
Demgemäß war die Berufung des Beklagten gegen das erstinstanzliche Urteil zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen