Leitsatz (amtlich)
Es gibt keinen allgemeinen Erfahrungssatz, daß jeder, der infolge einer Kriegsbeschädigung an dem Gebrauch des linken Armes erheblich gehindert ist, ohne weiteres fahrlässig handelt, wenn er - im Besitz des Führerscheins - ein Leichtmotorrad im Straßenverkehr steuert. Eine Teilnahme am Straßenverkehr allein unterbricht daher auch nicht einen etwaigen Ursachenzusammenhang zwischen der Kriegsbeschädigung und den Folgen eines Verkehrsunfalls.
Normenkette
SGG § 162 Abs. 1 Nr. 3 Fassung: 1953-09-03; BVG § 1 Abs. 3 Fassung: 1950-12-20
Tenor
Die Revision gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 8. Oktober 1954 wird als unzulässig verworfen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
Die 1912 geborene Klägerin begehrt Hinterbliebenenrente mit der Begründung, der Tod ihres am 6. Mai 1950 mit seinem Leichtmotorrad "NSU/Quick" verunglückten und am 8. Mai 1950 verstorbenen Ehemannes sei die mittelbare Folge der bei ihm mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE.) von 70 v. H. anerkannt gewesenen Wehrdienstbeschädigung (völlige Gebrauchsunfähigkeit des linken Armes).
Die Landesversicherungsanstalt (LVA.) Württemberg hat den Antrag nach dem Württembergischen Gesetz über Leistungen an Körperbeschädigte (KBLG) vom 21. Januar 1947 (RegBl. Nr. 2 S. 7) abgelehnt. Der Unfall des Verstorbenen sei darauf zurückzuführen, daß er ein Kind angefahren habe, dabei zu Fall gekommen und auf die Fahrbahn geschleudert worden sei, es handele sich um einen reinen Verkehrsunfall. Bei der Schwere und der Wucht, mit der der Sturz auf die Straße erfolgte, sei es ohne Belang, daß der Verunglückte durch seinen beschädigten Arm behindert gewesen sei. Die hiergegen eingelegte Berufung hat das Württembergische Oberversicherungsamt (OVA.) mit Urteil vom 5. Oktober 1953 als unbegründet zurückgewiesen.
Die Klägerin hat gegen dieses Urteil Rekurs beim Landesversicherungsamt Württemberg-Baden eingelegt, der gemäß § 215 Abs. 3 mit § 29 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) als Berufung auf das Landessozialgericht (LSG.) Baden-Württemberg übergegangen ist. Das LSG. hat die Berufung der Klägerin mit Urteil vom 8. Oktober 1954 als unbegründet zurückgewiesen. Es hat ausgeführt, in Übereinstimmung mit dem kraftfahrzeugtechnischen Sachverständigen Dipl. Ing. S. und den beiden ärztlichen Gutachtern Dr. K. und Prof. Dr. K. sei nicht anzuerkennen, daß der als Folge des Unfalls vom 6. Mai 1950 eingetretene Tod des Ehemannes der Klägerin ursächlich auf die anerkannte Kriegsbeschädigung zurückzuführen sei. Der Unfall sei vielmehr eine Folge neuer schicksalhafter Umstände, die unabhängig von der Wehrdienstbeschädigung des Verstorbenen von so überragender Bedeutung für seinen Ablauf waren, daß sie als die wesentliche Bedingung und damit als die Ursache im Rechtssinne für den Unfall anzusehen seien. Hilfsweise hat das LSG. den Ursachenzusammenhang zwischen der anerkannten Wehrdienstbeschädigung und dem Unfall auch deshalb verneint, weil der Verunglückte als Schwerbeschädigter durch Benutzung des Leichtmotorrades fahrlässig gehandelt habe. Dieses Verhalten habe einen etwaigen Ursachenzusammenhang zwischen der Wehrdienstbeschädigung und dem Tod jedenfalls unterbrochen.
Mit der Revision hat die Klägerin beantragt,
1. unter Aufhebung des Urteils des LSG. Baden-Württemberg vom 8. Oktober 1954 und des Urteils des OVA. Stuttgart vom 5. Oktober 1953 sowie des Bescheides vom 14. November 1950 den Beklagten zu verurteilen, den Tod des Ehemannes der Klägerin als mittelbare Folge seiner Wehrdienstbeschädigung anzuerkennen und der Klägerin ab 1. November 1950 Hinterbliebenenrente in gesetzlicher Höhe zu gewähren;
2. hilfsweise, die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. Baden-Württemberg zurückzuverweisen;
3. den Beklagten ferner zu verurteilen, der Klägerin auch die außergerichtlichen Kosten des Klage-, Berufungs- und Revisionsverfahrens zu erstatten.
Die Revision rügt, das angefochtene Urteil habe § 1 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) (§ 1 und 2 KBLG) unrichtig angewendet. Die schwere Verletzung des linken Armes und der Hand ihres verstorbenen Mannes sei als wesentliche Bedingung und damit als Teilursache des Unfalls anzusehen. Es entspreche den Erfahrungen des täglichen Lebens und sei auch durch den gerichtlich vereidigten Sachverständigen H. in seinem Gutachten vom 15. April 1953 festgestellt worden, daß während eines Sturzes normalerweise die Arme und Hände zur Abwehr etwaiger Sturzfolgen entweder bewußt oder instinktiv benutzt würden. Wenn ihr Ehemann daran durch seine Kriegsverletzung nicht gehindert gewesen wäre, hätte der verhältnismäßig leichte Sturz erheblich gemildert werden können und jedenfalls mit Wahrscheinlichkeit nicht zu dem eingetretenen Erfolg geführt. Auch die von dem Berufungsgericht vorgenommene Beweiswürdigung sei fehlerhaft. Der Verstorbene habe sich entgegen der in dem angefochtenen Urteil vertretenen Ansicht nicht fahrlässig verhalten. Deshalb sei der Kausalzusammenhang zwischen der Kriegsbeschädigung und dem Tod auch nicht durch sein eigenes Verhalten unterbrochen. Das LSG. habe schließlich das Gutachten des Sachverständigen H. nicht genügend gewürdigt. Es treffe vor allem nicht zu, daß dieser Sachverständige sein Urteil nur auf den Verlauf von vier Unfällen gestützt habe, in denen Kraftfahrer und Fußgänger beteiligt gewesen seien. Er habe lediglich beispielsweise für seine Erfahrung vier Fälle angeführt.
Der Beklagte beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Er führt aus, das angefochtene Urteil habe die Sach- und Rechtslage ohne Rechtsirrtum erschöpfend gewürdigt.
Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden. Das LSG. hat die Revision nicht zugelassen. Sie ist deshalb nur zulässig, wenn ein wesentlicher Mangel des Verfahrens gerügt wird, der vorliegt, oder wenn bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs des Todes mit einer Schädigung im Sinne des BVG das Gesetz verletzt ist (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 und 3 SGG, BSG. 1, 150 und 254).
Diese Voraussetzungen liegen nicht vor. Die Revision rügt zunächst, das angefochtene Urteil sei zu Unrecht davon ausgegangen, daß der Tod des Ehemannes der Klägerin nicht wesentlich mittelbar auf die anerkannte Wehrdienstschädigung zurückzuführen sei. Damit ist eine Rüge aus § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG erhoben (BSG. 7, 288). Nach dieser Bestimmung findet die Revision dann statt, wenn bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs des Todes mit einer Schädigung im Sinne des BVG, bzw. der vor dem BVG gültig gewesenen Versorgungsgesetze (BSG. 1, 41 (43)) das Gesetz verletzt ist. Das Urteil läßt keinen Verstoß dieser Art erkennen. Nach der insoweit bereits als feststehend zu bezeichnenden Rechtsprechung des BSG. (BSG. 1, 72, 150 und 268) ist auf dem Gebiet der Kriegsopferversorgung (KOV) ein ursächlicher Zusammenhang zwischen einer als Wehrdienstschädigung anerkannten Gesundheitsstörung und dem eingetretenen Tod nur dann gegeben, wenn die Wehrdienstschädigung im Verhältnis zu anderen Einzelbedingungen wegen ihrer besonderen Beziehung zum erfolgten Tod wesentlich mitgewirkt hat. Daraus folgt, daß, wenn mehrere Umstände zum Tod des Wehrdienstbeschädigten beigetragen haben, sie nur dann nebeneinanderstehend Mitursachen sein können, wenn sie für den Tod etwa gleichwertige Ursachen gewesen sind. Wenn dagegen einem der Umstände gegenüber den anderen eine überragende Bedeutung zukommt, ist dieser Umstand die wesentliche und damit allein die Ursache im Sinne der für die KOV geltenden Kausalitätsnorm. Welche von mehreren Ursachen im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinne als wesentlich im Sinne der KOV anzusehen ist, richtet sich nach der Auffassung des praktischen Lebens und ist nach Erfahrungssätzen zu entscheiden (BSG. 1, 72 (76)).
In dem angefochtenen Urteil ist eine Verletzung der Kausalitätsnorm der KOV (BSG. 1 S. 268) insbesondere bei der Feststellung der wesentlichen Ursache nicht zu erkennen. Das LSG. hat in Übereinstimmung mit den technischen und ärztlichen Sachverständigen festgestellt, daß es sich um einen neuen selbständigen Unfallvorgang gehandelt hat und daß sich darüber, ob der Fahrer die tödlichen Folgen durch eigene Schutzmaßnahmen hätte vermeiden können, wenn er nicht die anerkannte Wehrdienstschädigung gehabt hätte, hier nichts aussagen lasse. Diese Feststellungen rechtfertigen die Annahme des LSG., daß nur verkehrstypische Umstände wesentlich beim Zustandekommen des Unfalls zusammengewirkt haben. Diese Auffassung entspricht der aus der verkehrstechnischen und medizinischen Überprüfung unzähliger Fälle gewonnenen Erfahrung über den Ablauf derartiger Zusammenstöße im Straßenverkehr.
Das LSG. hat somit ohne Gesetzesverletzung angenommen, daß die bei dem Unfall zusammen wirkenden Umstände die typischen, schicksalshaften eines heutigen Verkehrsunfalls waren und so überragende Bedeutung und Tragweite hatten, daß sie allein als Ursache des Todes im Rechtssinn anzusehen sind. Das LSG. hat nach den tatsächlichen Feststellungen ohne Rechtsirrtum in der Wehrdienstschädigung keine wesentliche Ursache des tödlichen Unfalls gesehen. Eine Verletzung des Gesetzes bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs zwischen Wehrdienstschädigung und Tod nach § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG liegt somit nicht vor. Die Revision ist daher nach dieser Vorschrift nicht statthaft (BSG. 1 S. 254).
Für die hier zu treffende Entscheidung kommt es nach alledem nicht mehr darauf an, ob der Verunglückte etwa durch ein fahrlässiges Verhalten seinerseits einen weiteren außerhalb der anerkannten Wehrdienstschädigung wesentlich mitwirkenden Umstand gesetzt hat. Im Gegensatz zu den vom LSG. hilfsweise hierzu angestellten Erwägungen ist der Senat in Übereinstimmung mit dem Vortrag der Revision allerdings der Ansicht, daß einer generellen Feststellung nicht beizutreten ist, wonach allein schon die Benutzung eines Leichtmotorrades im Straßenverkehr durch einen im Gebrauch des linken Armes erheblich behinderten Schwerbeschädigten, wenn er im Besitz des Führerscheines ist, stets fahrlässig sei und daß diese Teilnahme am Straßenverkehr daher in jedem Falle den Ursachenzusammenhang zwischen der Wehrdienstschädigung und den Folgen eines Verkehrsunfalles unterbreche. Diese Auffassung würde praktisch darauf hinauslaufen, daß der Schwerbeschädigte vom Straßenverkehr ausgeschlossen würde, was weder zu billigen noch mit den vom Staat, von den Organisationen und der Industrie getroffenen Maßnahmen zu vereinbaren wäre, die darauf hinauslaufen, gerade dem Schwerbeschädigten auch mit motorisierten Fahrzeugen die Teilnahme am Straßenverkehr zu ermöglichen.
Schließlich kann auch die von der Revision erhobene Rüge eines Verstoßes gegen § 128 Abs. 1 SGG die Revision nicht statthaft machen. Nach dieser Bestimmung entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung und hat im Urteil die Gründe anzugeben, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind. Eine unrichtige oder nicht erschöpfende Beweiswürdigung, wie sie die Klägerin mit ihrem Vortrag, das angefochtene Urteil habe das Gutachten des Sachverständigen H. nicht genügend gewürdigt, rügt, betrifft danach nicht den Gang des Verfahrens, sondern den sachlichen Inhalt der Entscheidung (BSG. 2, 236). Ein Mangel des Verfahrens läge nur dann vor, wenn das Berufungsgericht die gesetzlichen Grenzen seines Rechts der freien Beweiswürdigung überschritten, etwa bei der Tatsachenfeststellung gegen Erfahrungssätze des täglichen Lebens oder gegen Denkgesetze verstoßen hätte. Insoweit ist ein Mangel des Urteils nicht erkennbar. Im Verwaltungsverfahren und im sozialgerichtlichen Verfahren sind eingehende ärztliche Gutachten von Dr. K. und Prof. Dr. K. eingeholt worden; es sind weiter die Krankenakten des Städtischen Krankenhauses Ulm beigezogen worden, in das der Verunglückte nach dem Unfall eingeliefert und in dem nach seinem Tode eine Schädelsektion vorgenommen wurde. Schließlich ist der amtlich anerkannte Sachverständige der Technischen Prüfstelle in Stuttgart, Dipl. Ing. S. gutachtlich gehört worden. Das LSG. hat bei seiner Überzeugungsbildung diese Unterlagen, insbesondere die erstatteten Gutachten, frei gewürdigt und eingehend gegenüber der in der Schlußfolgerung abweichenden Stellungnahme des Sachverständigen H. abgewogen. Das Ergebnis dieser Würdigung ist ausführlich und widerspruchsfrei in den Gründen des Urteils dargelegt. Ein wesentlicher Verfahrensmangel des LSG. durch Verstoß gegen § 128 Abs. 1 SGG ist somit nicht zu erkennen. Die Revision ist daher auch nicht nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft (BSG. 1 S. 150).
Da sonach keiner der aus § 162 Abs. 1 Nr. 2 und 3 SGG erhobenen Revisionsrügen durchgreift, war die Revision als unzulässig zu verwerfen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen