Orientierungssatz
Die den Anspruch ausschließende Vorschrift des RVO § 594 ist nicht verfassungswidrig und verstößt insbesondere nicht gegen GG Art 1, 3 und 6 Abs 1 (Festhaltung an BSG 1973-03-28 5 RKnU 11/71 = BSGE 35, 272).
Normenkette
RVO § 594 Fassung: 1963-04-30; GG Art. 1, 3, 6 Abs. 1
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 16. Januar 1973 wird zurückgewiesen.
Die Beteiligten haben einander außergerichtliche Kosten nicht zu erstatten.
Gründe
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Klägerin gegen die Beklagte einen Anspruch auf Witwenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung hat.
Der am 18. Juli 1899 geborene Ehemann der Klägerin bezog von der Beklagten seit dem 2. Juni 1952 wegen einer schweren Staublungenerkrankung (Silikose) eine Verletztenrente, die seit dem 25. Februar 1963 als Vollrente wegen einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 100 v. H. gewährt wurde. Er heiratete am 21. September 1970 die am 17. November 1908 geborene Klägerin, die seit April 1962 in seinem Haushalt lebte. Der Ehemann der Klägerin starb am 10. März 1971. Die Beklagte, die davon ausging, daß der Tod des Versicherten wesentlich auf die Silikose zurückzuführen sei, lehnte die Hinterbliebenenrente mit Bescheid vom 16. September 1971 unter Hinweis auf § 594 der Reichsversicherungsordnung (RVO) ab, weil der Tod des Versicherten innerhalb des ersten Ehejahres eingetreten sei und besondere Umstände, die für die Gewährung einer Hinterbliebenenrente sprächen, nicht vorlägen.
Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte am 12. Januar 1972 unter Aufhebung ihres Bescheides verurteilt, an die Klägerin Hinterbliebenenleistungen nach näherer gesetzlicher Maßgabe zu gewähren. Das Landessozialgericht (LSG) hat mit Urteil vom 16. Januar 1973 das Urteil des SG geändert und die Klage abgewiesen. Es hat angenommen, die Klägerin habe nach § 594 RVO keinen Anspruch auf die Witwenrente, denn die in dieser Vorschrift enthaltene und den Anspruch ausschließende Vermutung, daß es der alleinige oder überwiegende Zweck der Heirat gewesen sei, der Witwe eine Versorgung zu verschaffen, sei nach den besonderen Umständen des Falles nicht widerlegt. Dabei hat das LSG außer dem bereits geschilderten Sachverhalt berücksichtigt, daß die Klägerin sich durch die Eheschließung wirtschaftlich verbessert habe, denn einerseits habe sie anstelle der bis dahin gewährten Renten von monatlich insgesamt 580,90 DM Abfindungen von insgesamt 31.254,- DM erhalten, andererseits habe sie eine höhere als die bis dahin bezogene Witwenrente aus der knappschaftlichen Rentenversicherung ihres Ehemannes und zusätzlich die Witwenrente aus der Unfallversicherung zu erwarten gehabt. Zwar habe sie die Abfindung teilweise dazu benutzt, das ihrem Ehemann gehörende Haus zu renovieren und darauf ruhende Hypotheken abzulösen; das habe sie jedoch erst getan, nachdem sich die Eheleute durch gemeinschaftliches Testament - unter Ausschluß der noch lebenden Geschwister des Ehemannes und unter Einsetzung der Kinder der Klägerin als Nacherben - gegenseitig als Erben eingesetzt hatten. Der den Anspruch auf Hinterbliebenenrente ausschließende § 594 RVO sei nicht verfassungswidrig und verstoße insbesondere nicht gegen die Art. 1, 3 und 6 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG).
Die Klägerin hat dieses Urteil mit der - vom LSG zugelassenen - Revision angefochten. Sie ist der Ansicht, § 594 RVO sei verfassungswidrig und verstoße insbesondere gegen Art. 1 GG, weil die Vorschrift die Würde der davon betroffenen Menschen verletze. Der nach § 594 RVO zu führende Entlastungsbeweis bedeute einen unerträglichen und unzumutbaren Eingriff in die Intimsphäre. Deshalb müsse verlangt werden, daß der Versicherungsträger den Beweis für seine Behauptung erbringe, die Ehe sei nur zum Zweck der Versorgung geschlossen worden. Im übrigen habe nicht nur sie, sondern auch ihr Ehemann durch die Ehe finanzielle Vorteile erlangt. Er habe insbesondere durch Ablösung der auf seinem Hausgrundstück lastenden Hypotheken an den Vorteilen der Witwenrentenabfindung teilgehabt. Im übrigen sei es möglicherweise auch seine Absicht gewesen, sich durch die Ehe die notwendige Pflege und Betreuung zu sichern.
Die Klägerin beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Beklagten zurückzuweisen; hilfsweise, das angefochtene Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil im Ergebnis und in der Begründung für richtig und ist der Ansicht, die Revision der Klägerin sei unbegründet.
II
Die zulässige Revision der Klägerin hat keinen Erfolg, denn das LSG hat die Klage mit Recht abgewiesen. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf die begehrte Witwenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung.
Der erkennende Senat hat bereits in seinem Urteil vom 28. März 1973 (BSG 35, 272 = SozR Nr. 2 zu § 594 RVO) dargelegt, daß § 594 RVO nicht verfassungswidrig ist und insbesondere nicht gegen die Art. 1, 3 und 6 Abs. 1 GG verstößt (vgl. hierzu auch die zustimmende Anmerkung von Beitzke in SGb 1973, 519). An dieser Ansicht hält der erkennende Senat fest. Zusätzlich sei noch darauf hingewiesen, daß die durch das Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetz (UVNG) eingeführte Widerlegbarkeit der Vermutung eine für die Witwe gegenüber dem früheren Recht günstigere Regelung enthält. Bis zum Inkrafttreten des UVNG war nach § 590 RVO aF der Anspruch stets ausgeschlossen, wenn der Tod innerhalb des ersten Jahres der Ehe eingetreten war. Die Versorgungsabsicht wurde also unwiderlegbar vermutet. Die Berufsgenossenschaft konnte lediglich unter besonderen Umständen eine Rente gewähren. Die zugunsten der Hinterbliebenen durch das UVNG eingeführte Widerlegbarkeit der Vermutung und die dadurch geschaffene günstigere Rechtslage kann nicht aus der bis dahin verfassungsmäßigen ungünstigeren eine verfassungswidrige günstigere Norm gemacht haben. Das UVNG hat durch die Neufassung des § 594 RVO den Hinterbliebenen lediglich die für sie günstigere Möglichkeit gegeben, die Vermutung zu widerlegen und die Rente zu erhalten. Diese Möglichkeit enthält keinen unzulässigen Eingriff in die Intimsphäre (aA lediglich Gesamtkomm. zur RVO Anm. 1 zu § 594 RVO). Der Witwe steht es frei, die für die Eheschließung maßgebenden Motive dem Versicherungsträger und den Gerichten vorzuenthalten. Allerdings bleibt es dann bei der Vermutung des Gesetzes und dem Ausschluß der Witwenrente.
Da der Ehemann der Klägerin vor Ablauf eines Jahres nach der Eheschließung gestorben ist, wird nach § 594 RVO vermutet, daß es der alleinige oder überwiegende Zweck der Heirat war, der Klägerin eine Versorgung zu verschaffen, mit der Folge, daß der Anspruch auf Hinterbliebenenrente auch dann nicht besteht, wenn der Tod wesentlich durch die Berufskrankheit verursacht war. Diese Vermutung ist allerdings widerlegbar. Der erkennende Senat hat in der bereits zitierten Entscheidung ausgeführt, daß die Vermutung nur dann widerlegt ist, wenn die Abwägung aller zur Eheschließung führenden Motive beider Ehegatten ergibt, daß es insgesamt nicht der alleinige oder überwiegende Zweck der Heirat war, der Witwe eine Versorgung zu verschaffen. Im vorliegenden Fall sind - wie das LSG zutreffend angenommen hat - keine Umstände erkennbar, die bei der Klägerin oder bei ihrem Ehegatten auf ein anderes Motiv für die Heirat schließen lassen als die Versorgungsabsicht für den Fall des Todes des Ehemannes. Wenn auch in vielen Fällen die Versorgungsabsicht hinter dem legitimen Anliegen des Versicherten zurücktreten mag, durch die Eheschließung die notwendige Betreuung und Pflege sicherzustellen, so trifft das im vorliegenden Fall doch nicht zu. Aus dem Umstand, daß die Klägerin im Zeitpunkt der Eheschließung bereits seit mehr als 8 Jahren den Haushalt des Versicherten führte, hat das LSG mit Recht entnommen, daß seine Betreuung und Pflege nicht erst durch die Eheschließung sichergestellt werden sollte, sondern bereits vorher sichergestellt war. Es mag zwar im Einzelfall auch ein von der Versorgungsabsicht verschiedenes Motiv für die Eheschließung sein können, wenn der Versicherte durch die Heirat eine bereits bestehende Lebensgemeinschaft legitimieren will (vgl. hierzu BVerwG 25, 221). Es ist im vorliegenden Fall aber weder vom LSG festgestellt noch von der Klägerin vorgetragen worden, daß für sie oder für ihren Ehemann ein solches Motiv bestimmend gewesen sei. Wenn die Klägerin mit der Revision vorträgt, ihr Ehemann habe sich möglicherweise auch deshalb zur Ehe entschlossen, weil er an den nicht unerheblichen Witwenrentenabfindungen teilhaben wollte, so ist dieser Vortrag nicht geeignet, das Überwiegen der Versorgungsabsicht beider Ehegatten zu widerlegen. Das LSG hat zutreffend darauf hingewiesen, daß die Klägerin aus ihren Abfindungen erst dann die Hypotheken auf dem Hausgrundstück des Ehemannes abgelöst hat, nachdem sie in einem gemeinschaftlichen Testament unter Ausschluß der noch lebenden fünf Geschwister ihres Ehegatten und unter Einsetzung ihrer Kinder als Nacherben als alleinige Erbin des Ehemannes eingesetzt war. Die Ablösung der auf dem Hausgrundstück ihres Ehemannes ruhenden Hypotheken brachte also - unter Berücksichtigung der Überlebensaussichten - weniger dem Ehemann als vielmehr der Klägerin wirtschaftliche Vorteile. Gegen die Versorgungsabsicht könnte zwar sprechen, daß die Klägerin bereits vor der Eheschließung ein eigenes Renteneinkommen von insgesamt monatlich 580,90 DM hatte. Ist die Witwe vor der Eheschließung bereits ausreichend versorgt gewesen, so spricht vieles gegen die Annahme, daß die Versorgung erst durch die Eheschließung hergestellt werden soll. Im vorliegenden Fall jedoch hat die Klägerin mit der Eheschließung die vorher bestehende Versorgung zugunsten einer Aussicht auf höhere Witwenrenten aus den Versicherungen ihres Ehemannes aufgegeben. Das Vorhandensein eines eigenen Einkommens vor der Eheschließung spricht daher nicht gegen die Absicht der Klägerin und ihres Ehemannes, ihr mit der Heirat die Aussicht auf eine bessere Versorgung zu verschaffen.
Die vom LSG festgestellten Umstände sprechen eher für als gegen die Versorgungsabsicht beider Ehegatten. Jedenfalls sind sie nicht geeignet, die Vermutung der Versorgungsabsicht zu widerlegen. Da keine weiteren Umstände erkennbar und von der Klägerin auch nicht vorgetragen worden sind, hat die Klägerin keinen Anspruch auf die begehrte Witwenrente.
Der Senat hat die danach unbegründete Revision der Klägerin zurückgewiesen. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen