Entscheidungsstichwort (Thema)
Grenzen und Auswirkungen des Verbots der fachfremden Betätigung für Fachärzte
Leitsatz (redaktionell)
1. Ist auf lebenswichtigen Gebieten ein Rechtszustand eingetreten, der nach neueren Erkenntnissen des BVerfG mit dem GG nicht voll vereinbar ist, so muß er für eine Übergangszeit als rechtswirksam hingenommen werden, bis der Gesetzgeber die aus gewandelter Sicht erkannte Regelungslücke verfassungsgemäß geschlossen hat; dies hat aus Gründen des Gemeinwohls auch für formell-rechtlich fehlerhafte Bestimmungen der Berufsordnungen der Ärzte zu gelten, da ohne sie eine Gefährdung der ärztlichen Versorgung der Bevölkerung eintreten könnte.
2. Die den Fachärzten in einer Berufsordnung auferlegte Pflicht, ihre Tätigkeit auf das jeweilige Fachgebiet zu beschränken, ist bei Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes mit GG Art 12 Abs 1 S 1 materiell-rechtlich vereinbar, wie auch gegen die Umschreibung des Fachgebietes des Radiologen als "Anwendung ionisierender Strahlen einschließlich derjenigen von radioaktiven Stoffen zu diagnostischen und therapeutischen Zwecken" keine inhaltlichen Bedenken bestehen; aus dem Fehlen einer derartigen Beschreibung in früheren Fassungen der Berufsordnung folgt nicht, daß das Fachgebiet damals einen anderen Umfang gehabt hätte.
3. Die Ärzte können die Ausführung und Auswertung von Elektrokardiogrammen nur in dem Umfange als kassenärztliche oder vertragsärztliche Leistungen abrechnen, in dem sie zur Ausübung dieser Leistungen nach ärztlichem Berufsrecht berechtigt sind; da bei einem Radiologen elektrokardiographische Leistungen nicht in das ärztliche Fachgebiet gehören und er sie folglich nicht fortdauernd und systematisch ausführen darf, kann der Radiologe für sie eine Vergütung nur insoweit verlangen, als er die Elektrokardiogramme zur medizinisch sachgemäßen Ausführung von Röntgenleistungen benötigt.
Normenkette
GG Art. 12 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1968-06-24; ÄBerufsO NR § 31 Abs. 1 Nr. 19 Fassung: 1971-11-06, § 37 Abs. 1 Fassung: 1971-11-06, § 32 Abs. 5 Fassung: 1971-11-06
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 24. Mai 1972 wird zurückgewiesen.
Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger, der seit dem 25. April 1966 als Facharzt für Röntgenologie und Strahlenheilkunde an der kassen- bzw. vertragsärztlichen Versorgung teilnimmt, elektrokardiographische (EKG-) Leistungen von der beklagten Kassenärztlichen Vereinigung (KÄV) uneingeschränkt zu honorieren sind.
Der Vorstand der Beklagten beschloß am 30. März 1966, Fachärzten für Röntgenologie und Strahlenheilkunde EKG-Leistungen künftig nicht mehr zu vergüten. Für Ärzte, die im ersten Quartal 1966 EKG-Leistungen ausgeführt und kassen- bzw. vertragsärztlich abgerechnet hatten, sollte diese Regelung zunächst vom 1. Januar 1970 an gelten; später wurde die Übergangsfrist bis zum 31. Dezember 1972 verlängert.
Der Kläger berief sich darauf, bereits am 11. Februar 1966 ein EKG-Gerät gekauft zu haben, und beantragte am 3. Juli 1966, ihm bis zum Ablauf der Übergangsfrist die Abrechnung von EKG-Leistungen zu gestatten. Die Beklagte lehnte dies ab (Bescheid vom 16. September 1966 idF des Widerspruchsbescheides vom 11. November 1966). Mit seiner Klage hat der Kläger die Vergütung von EKG-Leistungen zeitlich unbeschränkt verlangt, ist vor dem Sozialgericht (SG) Düsseldorf jedoch ohne Erfolg geblieben (Urteil vom 8. Dezember 1967).
Seine Berufung vom 6. März 1968 hat das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen zurückgewiesen (Urteil vom 24. Mai 1972): Nach ärztlichem Berufsrecht nicht erlaubte EKG-Leistungen brauche die Beklagte dem Kläger nicht zu honorieren. Die Elektrokardiographie gehöre nicht in sein Fachgebiet, auf das er sich nach der Berufsordnung für Ärzte in Nordrhein (BO NR) grundsätzlich zu beschränken habe. Zu EKG-Leistungen und ihrer Abrechnung sei der Kläger nur in Ausnahmefällen berechtigt, und zwar dann, wenn er zur sachgemäßen Ausführung seiner röntgenologischen Leistung des EKGs bedürfe. Auf die bis 1972 befristete Übergangsregelung könne sich der Kläger nicht berufen, sie gelte nur zugunsten der Röntgenologen, die - anders als der Kläger - bereits vor dem Beschluß des Vorstandes der Beklagten vom 30. März 1966 EKG-Leistungen bei der Beklagten abgerechnet hätten und deswegen auf den Fortbestand dieser Abrechnungspraxis hätten vertrauen können. Selbst wenn der Kläger bereits vor dem 30. März 1966 sein EKG-Gerät angeschafft hätte, ändere das nichts, denn er habe zum Zeitpunkt des Vorstandsbeschlusses an der kassen- bzw. vertragsärztlichen Versorgung noch nicht mitgewirkt. Überdies sei auch im Februar 1966 schon erkennbar gewesen, daß Röntgenologen zu EKG-Leistungen nicht berechtigt seien.
Gegen das Urteil hat der Kläger die zugelassene Revision eingelegt: Zu Unrecht sehe das LSG EKG-Leistungen beim Röntgenologen als fachfremd an. Das EKG zu Diagnosezwecken sei für keine Facharzttätigkeit außerhalb der Radiologie fachspezifisch. Die Umschreibung des Fachgebietes in § 32 Abs. 5 Nr. 19 BO NR könne nicht als erschöpfende Aufzählung des selbstverständlichen ärztlichen Rüstzeugs angesehen werden. Hierzu gehöre auch die Elektrokardiographie, denn der Röntgenologe müsse für seine diagnostische Tätigkeit alle Informations- und Erkenntnisquellen einsetzen. Abgesehen davon seien die Vorschriften der Berufsordnung über die zugelassenen Facharztrichtungen und die Beschränkung der Fachärzte auf ihr Fachgebiet nicht anwendbar, da es sich hierbei um Normen handele, die nach dem Beschluß des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 9. Mai 1972 dem Gesetzgeber vorbehalten seien. Schließlich verletze der Ausschluß des Klägers von der Übergangsregelung den Gleichheitsgrundsatz; auch er habe bereits vor dem Beschluß des Vorstands im Vertrauen auf das frühere Abrechnungsverfahren der Beklagten ein EKG-Gerät gekauft.
Der Kläger beantragt,
unter Aufhebung der Urteile des LSG Nordrhein-Westfalen vom 24. Mai 1972 und des SG Düsseldorf vom 8. Dezember 1967 sowie des Bescheides vom 16. September 1966 idF des Widerspruchsbescheides vom 11. November 1966 die Beklagte "für verpflichtet zu erklären, dem Kläger die Erlaubnis zu erteilen, EKG-Leistungen abzurechnen,
hilfsweise,
ihn für die Dauer der vom Vorstand der Beklagten beschlossenen Übergangsregelung zur Abrechnung von EKG-Leistungen zuzulassen".
Die Beigeladenen zu 1) und 3) beantragen,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beklagte wendet sich gegen die Anwendung der Übergangsregelung auf den Kläger. Weitere Anträge haben sie und die übrigen Beigeladenen nicht gestellt.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
II
Die Revision ist nicht begründet. Der Kläger hat keinen Anspruch gegen die Beklagte auf Vergütung von gesonderten EKG-Leistungen.
Zutreffend ist das Berufungsgericht davon ausgegangen, daß die Beklagte die Anfertigung und Auswertung von Elektrokardiogrammen als kassen- bzw. vertragsgemäße Leistung nur in dem Umfang zu vergüten hat, in dem der Kläger diese Leistungen nach ärztlichem Berufsrecht ausüben darf (BSG 23, 97 f, 103; 2, 201, 215). Im Ergebnis ist auch der von der Revision angegriffenen Auffassung des LSG zu folgen, der Kläger dürfe nach § 39 Abs. 1, 2 BO NR vom 29. Dezember 1956 (MBl NW 1957, 726 ff - BO NR 1956 -) bzw. § 37 Abs. 1 der Berufsordnung idF der Weiterbildungsordnung vom 14. Februar 1970, zuletzt geändert am 6. November 1971 (MBl NW 1970, 1839 ff bzw. 1971, 2173 - BO NR -), grundsätzlich nur in seinem Fachgebiet Röntgenologie und Strahlenheilkunde (jetzt: Radiologie, § 31 Abs. 1 Nr. 19 BO NR, vgl. § 31 Abs. 1 Nr. 13 BO NR 1956 i. V. m. § 38 Abs. 1 BO NR) tätig werden; EKG-Leistungen gehörten nicht in dieses, nunmehr in § 32 Abs. 5 Nr. 19 BO NR definierte Gebiet und der Kläger sei demzufolge berufsrechtlich nicht befugt, sie fortdauernd und systematisch auszuführen.
Entgegen der Auffassung der Revision sind die genannten Satzungsvorschriften auch noch derzeit anwendbar. Der Senat hat im Anschluß an die Rechtsprechung des BVerfG zur ärztlich-berufsständischen Satzungsautonomie und deren Grenzen (Beschluß vom 9. Mai 1972, BVerfGE 33, 125, 160 ff) abweichend von seiner im Urteil vom 28. Mai 1965 (BSG 23, 97 ff) vertretenen Auffassung entschieden (Urteil vom 18. September 1973 zum Az. 6 RKa 14/72), daß die in §§ 31 Abs. 1, 32 Abs. 5 und 37 Abs. 1 BO NR enthaltenen Regelungen wegen ihrer Bedeutung für die betroffenen Ärzte und die Gesundheitspflege der Bevölkerung gemäß Art. 12 Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes (GG) einer Normsetzung durch den von der Allgemeinheit legitimierten Gesetzgeber bedürfen. An dieser fehlt es noch. Genügen demnach die §§ 31, 32 Abs. 5, 37 Abs. 1 BO NR sowie die entsprechenden Vorschriften der BO NR 1956 zwar als Satzungsrecht auch nicht den Anforderungen des Art. 12 Abs. 1 Satz 2 GG, so müssen sie, wie der Senat in dem Urteil dargelegt hat, gleichwohl für eine zur notwendigen gesetzlichen (Neu-) Regelung des Facharztwesens ausreichende Übergangszeit formellrechtlich noch hingenommen werden. Ohne sie wäre ein für die Gesundheitspflege wichtiger Bereich - das Facharztwesen - im wesentlichen ungeregelt; ein solcher regelloser, die ärztliche Versorgung der Bevölkerung gefährdender Zustand stünde der verfassungsgemäßen Ordnung noch ferner als der jetzt satzungsrechtlich normierte (vgl. BVerfGE 33, 1, 13; 303, 347 f; BVerfG, Sammlung Buchholz, Nr. 20 zu 418.00 - Ärzte -, S. 44).
Die den Fachärzten auferlegte Pflicht, grundsätzlich nur in ihrem Fachgebiet tätig zu werden, ist bei Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes mit Art. 12 Abs. 1 GG materiell-rechtlich vereinbar (BVerfGE 33, 167 f; BSG 23, 97, 99 f, 102). Gegen die Einteilung der Fachgebiete in § 31 Abs. 1 BO NR und die Umschreibung des Fachgebiets des Radiologen als "Anwendung ionisierender Strahlen einschließlich derjenigen von radioaktiven Stoffen zu diagnostischen und therapeutischen Zwecken" in § 32 Abs. 5 Nr. 19 BO NR bestehen ebenfalls keine inhaltlichen Bedenken (vgl. BVerfG aaO), Wenn die BO NR 1956 auch keine derartige Beschreibung des Fachgebiets enthielt, so folgt daraus nicht, daß es zu dieser Zeit einen anderen Umfang gehabt hätte. Die Ansicht des LSG, die Elektrokardiographie gehöre nach dieser Fachgebietsbeschreibung nicht in das Fachgebiet des Radiologen, stimmt mit der im Urteil des erkennenden Senats vom 28. Mai 1965 ausführlich begründeten Auffassung des Senats überein (BSG 23, 97, 101 f). Der Senat sieht - unabhängig davon, daß nach der vom Kläger angezweifelten Stellungnahme der Bundesärztekammer vom 28. Mai 1973 inzwischen auch die Deutsche Röntgengesellschaft die Anfertigung und Auswertung von Elektrokardiogrammen nicht zum Fachgebiet des Radiologen zählt - unter Berücksichtigung der vom Kläger erhobenen Einwände keinen Grund, von seiner Auffassung abzugehen.
Zu Unrecht meint der Kläger, EKG-Leistungen könnten für den Radiologen schon deshalb nicht fachfremd sein, weil das EKG zu Diagnosezwecken keinem anderen Fachbereich zuzuordnen sei. Als diagnostische Methode zur Aufzeichnung der Aktionsströme des Herzens dient die Elektrokardiographie der Erkennung von Herzkrankheiten; sie gehört deshalb in das Fachgebiet des Internisten (vgl. § 32 Abs. 5 Nr. 8 BO NR).
Der Kläger verkennt auch, daß es dem Röntgenologen nach der Fachgebietsbestimmung des LSG und des Senats durchaus nicht verwehrt ist, bei seiner röntgendiagnostischen Tätigkeit die Elektrokardiographie als zusätzliche Informations- und Erkenntnisquelle einzusetzen: Erfordern bestimmte Untersuchungen medizinisch-diagnostisch eine Verbindung röntgenologischer und elektrokardiographischer Mittel, so darf der Radiologe EKG-Leistungen als Ausnahme von der allgemeinen Richtlinie des § 37 Abs. 1 BO NR (früher: § 39 Abs. 1, 2 BO NR 1956) ausführen (vgl. schon BSG 23, 97, 102 aE). Die Befürchtung des Klägers, er könne durch die Begrenzung seines Fachgebietes zum eigenen wirtschaftlichen Schaden und zum Nachteil der Patienten gezwungen sein, im Rahmen seiner Fachtätigkeit auf eine notwendige diagnostische Klärung zu verzichten, ist somit nicht begründet. Auch die beklagte KÄV hat - in anderen, vom Senat entschiedenen Streitfällen (vgl. Urteile vom 18. September 1973 zu den Az. 6 RKa 14/72 und 16/72) - ausdrücklich zugestanden, daß EKG-Leistungen dann als vertrags- bzw. kassenärztliche Leistungen zu honorieren sind. Die im Bedarfsfall gebotene Verbindung der Untersuchungsmethoden stellt jedoch keinen Grund dar, EKG-Leistungen generell zum Fachgebiet der Radiologen zu zählen und Ärzte dieser Fachrichtung zu berechtigen, sie unbeschränkt auszuführen. Daß Radiologen die Grenzen ihres Fachbereiches nicht deshalb überschreiten dürfen, weil andere Fachärzte (Internisten, Chirurgen) röntgenologisch tätig sein dürfen (vgl. § 32 Abs. 5 Nrn. 4 und 8 BO NR), hat der Senat ebenfalls bereits ausgesprochen (Urteil vom 18. September 1973, Az. 6 RKa 14/72).
Schließlich hat das Berufungsgericht zutreffend dem Kläger die Anwendung der Übergangsregelung versagt. Der Gleichheitsgrundsatz (Art. 3 Abs. 1 GG) ist dadurch nicht verletzt. Die Beklagte hat - anders als den begünstigten Ärzten gegenüber - dem Kläger weder vor dem Beginn seiner kassen- und vertragsärztlichen Tätigkeit am 25. April 1966 noch danach durch ihr Verhalten Anlaß zu der Annahme gegeben, sie werde ihm EKG-Leistungen honorieren. Es ist deshalb nicht willkürlich, sondern berücksichtigt "das dem Gleichheitssatz immanente Gebot, Ungleiches seiner Ungleichheit verschieden zu behandeln" (BVerfGE 16, 6, 24 f), wenn der Kläger in die Ausnahmeregelung nicht einbezogen wird. Unzumutbar ist dies für ihn schon deswegen nicht, weil er auf Grund der Entscheidung des erkennenden Senats vom 28. Mai 1965 damit rechnen konnte und mußte, daß es zu der seinen wirtschaftlichen Interessen günstigen Abrechnung von EKG-Leistungen durch die Beklagte nicht kommen werde (vgl. BSG 23, 97, 104 f).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs. 1 und 4 SGG.
Fundstellen