Leitsatz (amtlich)
Das Gericht verstößt gegen die Verfahrensvorschriften der SGG §§ 103, 128 und gegen den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme (SGG § 117), wenn es Tatsachen, die in einem schriftlichen ärztlichen Gutachten erwähnt sind, die sich aber weder bei der ärztlichen Untersuchung noch bei der Auswertung medizinischer Unterlagen ergeben haben ("nichtmedizinische Tatsachen"), ohne weiteres als festgestellt ansieht, obwohl der Kläger diese Tatsachen bestreitet und dem Gericht Beweismittel zur Verfügung stehen, die zur Aufklärung des Sachverhalts geeignet sind.
Normenkette
SGG § 103 Fassung: 1953-09-03, § 117 Fassung: 1953-09-03, § 128 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 24. September 1959 wird aufgehoben; die Sache wird zu neuer Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
I
Das Versorgungsamt (VersorgA.) M bewilligte dem Kläger mit Bescheid vom 22. Februar 1952 wegen "1. Verletzung des rechten Stirnbeins nach frontaler Impression, Gehirnstecksplitter, 2. Bruststeckschußverletzung, 3. praktischer Blindheit" als Schädigungsfolgen eine Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE.) von 100 v.H. und eine Pflegezulage von monatlich 100.- DM (Stufe III). Diesem Bescheid lag ein Gutachten des Augenarztes Dr. Sch zugrunde, in dem es heißt, der Kläger sei "praktisch blind" im versorgungsrechtlichen Sinne, er sei nicht in der Lage, sich in einer ihm nicht vertrauten Umwelt ohne fremde Hilfe zurecht zu finden. Durch Bescheid vom 26. Januar 1954 wurde die Pflegezulage auf 125.- DM erhöht und dem Kläger auch eine Führerhundezulage von monatlich 25.- DM sowie ein Pauschalbetrag für Mehrverschleiß an Kleidung und Wäsche von monatlich 5.- DM gewährt.
Vom 23. August bis 20. September 1954 war der Kläger zur Kur im Kurheim für nervliche Erkrankungen in W. In dem ärztlichen Schlußzeugnis des Kurarztes, des Facharztes für Nervenkrankheiten Dr. M, vom 20. September 1954 heißt es u.a.: "Eine praktische Blindheit ist nicht vorhanden, sondern simuliert. Bei der Aufnahmeuntersuchung gab der Patient an, in ein Meter Entfernung vor dem Auge die Finger nicht mehr richtig erkennen zu können. Aber dann fiel es auf z.B., daß er in seiner "zackig devoten" Art schon auf weite Entfernung grüßt, daß er einen Fußball auf zehn Meter Entfernung ansteuert und gut nach dem Ziel schießt, daß er ins Kino geht und daß er (wie wir auf Befragen eines ins Vertrauen gezogenen Mitpatienten erfuhren) Karten spielte".
Das VersorgA. holte ein Gutachten der Universitäts-Augenklinik in H ein. In diesem Gutachten führten die Ärzte Prof. Dr. E und Dr. D aus, der Kläger erwecke den Anschein, als könne er im Raum mehr erkennen als er zugebe, er gehe um Gegenstände herum, die ihm im Wege stehen, er stoße nirgends an; das rechte Auge des Klägers sei blind; die Sehkraft des linken Auges betrage etwa 1/4 des Normalen, nicht 1/10 wie früher angenommen worden sei; der Unterschied beruhe darauf, daß der Kläger früher versucht habe, zu simulieren; bei der Beurteilung des Sehvermögens des praktisch letzten linken Auges müsse jedoch die starke Einschränkung des Gesichtsfeldes in Betracht gezogen werden; die Angaben des Klägers bezüglich der Sehkraft und der Gesichtsfeldprüfung seien glaubhaft; es bestehe eine durchaus glaubwürdige Erschwerung der Orientierung, obwohl sie vom Patienten seiner Umwelt gegenüber überbetont werde. Abschließend heißt es dann, "der Kläger kann sich in ihm nicht vertrauter Umwelt allein, wenn auch recht erschwert, zurechtfinden; das verbliebene Sehvermögen kann wirtschaftlich nicht mehr verwertet werden, die durch die Kriegsverletzung bedingte MdE. von Seiten der Augen beträgt mindestens 80 v.H.".
Das VersorgA. erließ darauf mit Zustimmung des Landesversorgungsamts (LVersorgA.) am 4. August 1955 einen neuen Bescheid (Berichtigungsbescheid nach § 41 Verwaltungsverfahrensgesetz - VerwVG -); es ersetzte darin die Bezeichnung der Schädigungsfolge "praktische Blindheit" durch die Bezeichnung "Blindheit des rechten Auges und Herabsetzung der Sehkraft des linken Auges"; es führte dazu aus, der Kläger könne wesentlich besser sehen als bei der ersten Begutachtung angenommen worden sei; er könne sich in nicht vertrauter Umgebung ohne besondere Hilfe ausreichend bewegen; die Voraussetzungen für die Gewährung einer Pflegezulage von 125.- DM, für die Führerhundezulage und für den Pauschalbetrag seien nicht erfüllt, diese Bezüge entfielen ab 1. Oktober 1955. Das VersorgA. bewilligte dem Kläger - neben seiner Rente nach einer MdE. von 100 v.H. - nur noch eine Pflegezulage von monatlich 60.- DM.
Den Widerspruch wies das LVersorgA. mit Bescheid vom 4. Oktober 1955 zurück.
Mit der Klage legte der Kläger ein neues Gutachten des Augenarztes Dr. Sch vor; in diesem Gutachten vertrat Dr. Sch die Ansicht, es liege ein Grenzfall zwischen "praktischer Blindheit" und hoher Sehschwäche vor. Die Augenärztin Dr. M teilte in einem Schreiben vom 25. Oktober 1955 mit, auf dem linken Auge des Klägers bestehe nur noch eine Sehschärfe von 4/35 bis 4/25 zum Teil; sie fügte hinzu, sie habe nicht den Eindruck, daß der Kläger aggraviere, im Gegenteil, sie wundere sich darüber, daß der Kläger die geringe Sehkraft noch angebe.
Das Sozialgericht (SG.) hörte Zeugen. Diese Zeugen bekundeten, sie hätten den Kläger niemals im Kino, beim Kartenspiel oder beim Fußball gesehen; der Kläger gehe sehr vorsichtig und langsam.
Das SG. Speyer - Zweigstelle Mainz - hob mit Urteil vom 28. November 1958 den Bescheid des Beklagten vom 4. August 1955 und den Widerspruchsbescheid vom 4. Oktober 1955 auf. Es führte aus, die Voraussetzungen für einen Berichtigungsbescheid nach § 41 VerwVG seien nicht erfüllt. Es sei nicht dargetan, daß die "Anerkennung einer praktischen Blindheit" zweifelsfrei unrichtig gewesen sei.
Der Beklagte Legte Berufung ein. Das Landessozialgericht (LSG.) Rheinland-Pfalz hob mit Urteil vom 24. September 1959 das Urteil des SG. Speyer auf und wies die Klage ab. Das LSG. führte aus, die "Anerkennung der praktischen Blindheit" in dem Bescheid vom 22. Februar 1952 sei zweifelsfrei unrichtig. Dies habe sich aus den "tatsächlichen Feststellungen" über das Verhalten des Klägers in der Umwelt, wie es von den Ärzten beobachtet und in Gutachten mitgeteilt worden sei, ergeben. Die Feststellungen über das tatsächliche Verhalten des Klägers seien den gutachtlichen Befundergebnissen vorzuziehen; das Sehvermögen des Klägers sei keineswegs so gering, daß er sich allein und ohne fremde Hilfe nicht zurechtfinden könne.
Das Urteil des LSG. wurde dem Kläger am 14. Oktober 1959 zugestellt. Der Kläger legte am 13. November 1959 Revision ein und beantragte,
das Urteil des LSG. Rheinland-Pfalz vom 24. September 1959 aufzuheben und die Sache zu neuer Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen.
Der Kläger begründete die Revision - nach Verlängerung der Revisionsbegründungsfrist - am 25. Januar 1960. Er führte aus, das LSG. habe seine Feststellungen über das Sehvermögen des Klägers im wesentlichen auf die Beobachtungen gestützt, die in dem Gutachten der Universitäts-Augenklinik H und in dem Schlußzeugnis des Kurarztes in W. mitgeteilt worden seien. Aus der Tatsache, daß sich der Kläger in einem ärztlichen Untersuchungsraum ohne fremde Hilfe einigermaßen sicher habe bewegen können, ergebe sich noch nicht, daß der Kläger auch sonst in einer ihm nicht vertrauten Umgebung, etwa im Straßenverkehr, sich allein und ohne fremde Hilfe zurechtfinden könne. Bei den Beobachtungen, die in dem ärztlichen Schlußzeugnis des Kurheims W. wiedergegeben seien - auf die das LSG. besonderes Gewicht gelegt habe -, habe es sich offensichtlich nicht um eigene Beobachtungen des Kurarztes gehandelt, sondern um Mitteilungen von Gewährsleuten. Das LSG. habe diese Angaben nicht ungeprüft hinnehmen dürfen; es habe den Kurarzt darüber hören müssen, worauf seine "Feststellungen" beruhten, und es habe gegebenenfalls die Gewährspersonen des Kurheims als Zeugen über ihre Beobachtungen hören müssen. Das LSG. habe auch zu Unrecht die in dem ärztlichen Gutachten dargelegten medizinischen Befunde nicht ausgewertet. Das LSG. habe danach die Verfahrensvorschriften der §§ 103 und 128 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) verletzt.
Der Beklagte beantragte,
die Revision als unzulässig zu verwerfen.
II
Die Revision ist nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft; der Kläger rügt zu Recht, das Verfahren des LSG. leide an wesentlichen Mängeln.
Streitig ist, ob der Bescheid des Beklagten vom 4. August 1955 ("Berichtigungsbescheid") rechtmäßig ist. Durch diesen Bescheid hat der Beklagte die früheren Bescheide, soweit er darin festgestellt hat, der Kläger sei "praktisch blind" und soweit er darin dem Kläger die Pflegezulage und andere Versorgungsbezüge, die einem Blinden zustehen (§ 35 Abs. 1 Satz 2, § 13 Abs. 3 und 4 BVG a.F.) bewilligt hat, als (von Anfang an) rechtswidrig zurückgenommen. Er hat aber die früheren Bescheide, in denen begünstigende Verwaltungsakte zu erblicken sind, nach § 41 VerwVG nur zurücknehmen dürfen, wenn die tatsächliche und rechtliche Unrichtigkeit dieser Bescheide im Zeitpunkt ihres Erlasses "außer Zweifel" gestanden hat.
Das LSG. hat den Rücknahmebescheid vom 4. August 1955 für rechtmäßig gehalten; die Annahme, der Kläger sei "praktisch blind", die den früheren Bescheiden des Beklagten zugrunde gelegen habe, sei "zweifelsfrei" unrichtig gewesen. Das LSG. hat indes die Rechtmäßigkeit des Rücknahmebescheides nach § 41 VerwVG nur bejahen dürfen, wenn es sich von der tatsächlichen und der hieraus zwangsläufig folgenden rechtlichen Unrichtigkeit der früheren Bescheide soweit überzeugt hat, daß es jede - auch fernliegende - Möglichkeit, es könne anders sein, als ausgeschlossen angesehen hat (vgl. BSG. 6 S. 106; Urteil des BSG. vom 15.1.1960 - 11 RV 432/58 -). Der Kläger rügt zu Recht, das LSG. habe sich diese Überzeugung auf Grund der Beweisunterlagen, die es ausgewertet hat, nicht bilden dürfen. Das LSG. hat seine Feststellungen über das Sehvermögen des Klägers nicht auf die in den ärztlichen Gutachten dargelegten medizinischen Befunde gestützt, es hat vielmehr allein auf das Verhalten des Klägers, "wie es in der Umwelt zum Ausdruck gekommen ist", abgestellt; es hat die ärztlichen Gutachten und Zeugnisse nur insoweit ausgewertet, als sie Angaben über das Verhalten des Klägers über "nichtmedizinische" Tatsachen also, enthalten haben; es hat aus diesen Angaben geschlossen, die Sehkraft des Klägers sei keineswegs so gering, daß er sich in einer fremden Umgebung nicht ohne fremde Hilfe zurechtfinden könne. Wenn das LSG. aus dem Verhalten des Klägers "in der Umwelt" auf sein Sehvermögen hat schließen wollen, so hat es zunächst die medizinischen Tatsachen, die für die Beurteilung des Sehvermögens des Klägers bedeutsam gewesen sind, verfahrensrechtlich einwandfrei feststellen müssen; das hat das LSG. aber nicht getan. Das LSG. hat festgestellt, der Kläger habe während seines Kuraufenthalts in W. Bekannte schon auf weite Entfernung gegrüßt, er habe einen Fußball mit Anlauf von zehn Metern angesteuert und gut ins Ziel geschossen, er sei ins Kino gegangen und er habe mit anderen Kurgästen Karten gespielt. Das LSG. hat diese "Feststellungen" aus dem Schlußzeugnis des Kurarztes in W. vom 20. September 1954 "entnommen". Das LSG. hat aber die Angaben des Kurarztes über das "auffällige Verhalten" des Klägers nicht ohne weiteres als feststehende Tatsachen ansehen dürfen, zumal nicht erkennbar gewesen ist, inwieweit es sich hierbei um eigene Wahrnehmungen des Kurarztes oder um Wahrnehmungen anderer Personen gehandelt hat. Das LSG. hat nicht beachtet, daß der Kurarzt hier tatsächlich Vorgänge geschildert hat, die sich weder bei der ärztlichen Untersuchung noch bei der Auswertung medizinischer Unterlagen ergeben haben; diese "nichtmedizinischen" Tatsachen, die der Kurarzt, wenn auch zur Vorbereitung seines Gutachtens, selbst "ermittelt" hat, hat das LSG. nur berücksichtigen dürfen, wenn es sie prozeßordnungsgemäß festgestellt hat. Das LSG. hat die geschilderten Vorgänge nicht schon deshalb als festgestellt ansehen dürfen, weil sie in einem ärztlichen Gutachten erwähnt sind; die angegebenen Tatsachen haben vielmehr, da sie von dem Kläger bestritten worden sind, noch des Beweises bedurft, und zwar des Beweises durch Anhörung der Personen, die sie wahrgenommen haben. Das Gericht darf sich jedenfalls dann nicht auf Zeugen vom "Hörensagen" stützen, wenn es die Möglichkeit hat, Zeugen "aus eigener Wahrnehmung" zu ermitteln und zu hören (vgl. auch Urteil des BSG. vom 31.8.1956, SozR. Nr. 7 zu § 128 SGG). Das LSG. hat daher ermitteln müssen, ob der Kurarzt selbst die von ihm geschilderten Auffälligkeiten im Verhalten des Klägers wahrgenommen hat oder ob sie ihm von anderen Personen mitgeteilt worden sind und es hat sodann den Kurarzt oder die anderen Personen als Zeugen hierüber hören müssen; erst dann hat das LSG. Feststellungen über das Verhalten des Klägers in W. treffen dürfen.
Das LSG. hat, wenn es seine Entscheidung zum wesentlichen Teil auf Tatsachen gestützt hat, die es nicht prozeßordnungsgemäß festgestellt hat, die Grenzen seines Rechts, über das Gesamtergebnis des Verfahrens frei zu entscheiden, überschritten, es hat damit § 128 SGG verletzt; es hat auch seine Pflicht, den Sachverhalt von Amts wegen aufzuklären, nicht erfüllt und damit gegen § 103 SGG verstoßen; es hat schließlich auch den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme (§ 117 SGG) nicht beachtet, wenn es den schriftlichen Erklärungen der Kurärzte über "ihre Feststellung" von "nichtmedizinischen" Tatsachen Beweiswert zugemessen hat, obgleich "bessere" Beweismittel für die richterliche Überzeugung zur Verfügung gestanden haben (vgl. auch Urteil des BVerwG. vom 25.5.1960, DVBl. 1960 S. 731; Haueisen, Die Ortskrankenkasse 1957, S. 175).
Das LSG. hat sich aber auch nicht allein auf die Beobachtungen der Ärzte stützen dürfen, ohne die medizinische Auswertung dieser Beobachtungen, die die Ärzte selbst in den Gutachten vorgenommen haben, zu würdigen. Das LSG. hat auch insoweit nicht das Gesamtergebnis des Verfahrens gewürdigt und damit § 128 SGG verletzt.
Der Kläger hat den Verstoß gegen die §§ 103, 117 und 128 SGG gerügt. Die Revision ist auch frist- und formgerecht eingelegt, sie ist daher zulässig.
Die Revision ist auch begründet. Es ist möglich, daß das LSG., wenn es die Verfahrensvorschriften richtig anwendet, zu einem anderen Ergebnis kommt. Das Urteil ist daher aufzuheben. Der Senat kann nicht selbst entscheiden, da hierzu noch tatsächliche Feststellungen erforderlich sind.
Die Sache ist daher zu neuer Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen