Leitsatz (amtlich)
Wenn ein Leiden (zB eine vegetative Dystonie) nach Ansicht der Versorgungsverwaltung oder des Gerichts in einem bindend gewordenen Bescheid zu Recht als Schädigungsfolge im Sinne der Entstehung festgestellt worden ist, so darf bei gleichen Befunden dieser Bescheid nicht mit Rücksicht auf den Zeitablauf von einem späteren Zeitpunkt an nach BVG § 62 Abs 1 deshalb zurückgenommen werden, weil der Leidenszustand nunmehr auf der "Anlage" beruhe; "Anlage" oder "Verschiebung der Wesensgrundlage eines Leidens" bewirkt nicht nachträglich eine "Änderung in den Verhältnissen" im Sinne von BVG § 62 Abs 1.
Normenkette
BVG § 62 Abs. 1 Fassung: 1950-12-20
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 26. November 1959 und der Bescheid des Beklagten vom 3. August 1959 werden aufgehoben. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 30. September 1954 wird zurückgewiesen.
Der Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
I
Der Kläger, geboren 1924, leistete vom Oktober 1942 bis Mai 1945 Wehrdienst und befand sich bis Oktober 1949 in russischer Kriegsgefangenschaft. Er erhielt von Oktober 1949 an Versorgung. Durch Bescheid vom 10. Mai 1952 (Umanerkennung) stellte das Versorgungsamt K im wesentlichen dieselben Leiden wie bisher als Schädigungsfolgen im Sinne des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) fest und gewährte Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE.) um 50 v.H.. Nachdem der Kläger auch Feststellung (Anerkennung) eines Herzleidens als Schädigungsfolge beantragt hatte, erging nach versorgungsärztlicher Begutachtung auf Grund von § 62 Abs. 1 BVG der Bescheid vom 12. September 1952, in dem die Schädigungsfolgen insgesamt mit "leichte Mittelohrschwerhörigkeit links, chronische Bindehautentzündung, Ruhrfolgen, vegetative Dystonie" bezeichnet wurden und weiterhin Rente nach einer MdE. um 50 v.H. gewährt wurde. Der Kläger legte Berufung (alten Rechts) ein und machte weitere Schädigungsfolgen geltend; die Berufung ging als Klage auf das Sozialgericht (SG.) Karlsruhe über; durch Urteil vom 30. September 1954 wies das SG. Karlsruhe die Klage ab. Der Kläger legte Berufung ein. Der Beklagte erließ am 23. März 1955 einen neuen Bescheid, in dem die "vegetative Dystonie" nicht mehr als Schädigungsfolge aufgeführt war und die Rente vom 1. Mai 1955 an entzogen wurde; in einem Bescheid des Landesversorgungsamts vom 10. August 1955 wurde dagegen die "vegetative Dystonie" wieder als Schädigungsfolge festgestellt und vom 1. Mai 1955 an Rente nach einer MdE. um 30 v.H. bewilligt, ebenso in einem Bescheid des Versorgungsamts vom 6. August 1956; nach der Niederschrift über die mündliche Verhandlung vor dem Landessozialgericht (LSG.) am 26. November 1959 "nahm" der Beklagte diese drei Bescheide in der Verhandlung "zurück". Das LSG. erhob weiteren Beweis. Durch Bescheid vom 3. August 1959 stellte das Versorgungsamt als Schädigungsfolgen "leichte Mittelohrschwerhörigkeit links, geringgradige chronische Bindehautentzündung, belanglose Narben am Oberbauch, Salzsäuremangel des Magens" fest, entzog die Rente nach § 62 Abs. 1 BVG mit Ablauf des Monats September 1959 und führte aus, die derzeitige vegetative Dystonie des Klägers sei überwiegend konstitutions- und nicht kriegsbedingt, der kriegsbedingte Anteil sei auf eine nicht mehr meßbare MdE. abgeklungen, die Leidensbezeichnung "vegetative Dystonie" entfalle daher, in den anerkannten Schädigungsfolgen sei sonach eine wesentliche Besserung eingetreten. Das LSG. wies durch Urteil vom 26. November 1959 die Berufung gegen das Urteil des SG. zurück, "die Klage" auf Aufhebung des Bescheides vom 3. August 1959 wies es ab: Die Schädigungsfolgen seien in dem Bescheid vom 12. September 1952 erschöpfend und richtig bezeichnet, die MdE. sei mit 50 v.H. bis zum Zeitpunkt der Entziehung der Rente (30.9.1959) richtig bewertet. Dieser Bescheid sei jedoch durch den Bescheid vom 3. August 1959 zu Recht teilweise "widerrufen" worden. An Stelle der Bezeichnung "Ruhrfolgen" sei zutreffend die Bezeichnung "Salzsäuremangel des Magens" getreten. Der Beklagte habe auch, obwohl eine vegetative Dystonie noch bestehe, zu Recht dieses Leiden nicht mehr als Schädigungsfolge festgestellt. Als eine "Änderung in den Verhältnissen" (§ 62 Abs. 1 BVG) sei nicht nur ein Unterschied in den objektiven Krankheitsbefunden anzusehen, hierzu gehöre auch "die Einwirkung des Zeitablaufs auf den ursächlichen Zusammenhang". Wenn bei gleichbleibenden Befunden die Ursachen der Krankheit sowohl wehrdienstbedingt als auch konstitutionsbedingt sein könnten und nur die geringe zeitliche Entfernung von dem schädigenden Wehrdienstereignis für die Versorgungsbehörde Veranlassung gewesen sei, eine wehrdienstbedingte Verursachung für wahrscheinlich zu halten, so tauche nach geraumer Zeit stets die Frage auf, ob die Wahrscheinlichkeit der wehrdienstbedingten Einwirkung auf den Leidenszustand noch fortbestehe. Eine vegetative Labilität könne in gleicher Weise durch wehrdienstliche und konstitutionsbedingte Einflüsse hervorgerufen werden, nach den Erfahrungen der medizinischen Wissenschaft heilten aber Störungen nach Dystrophie mit der Zeit wieder aus und seien in aller Regel zwei bis drei Jahre nach Rückkehr in die Heimat nicht mehr vorhanden, sofern nicht besondere Umstände vorlägen. Der Kläger habe bei Erlaß des Bescheides vom 12. September 1952 noch unter einer wehrdienstbedingten vegetativen Dystonie gelitten; da er aber keinen außergewöhnlichen Strapazen ausgesetzt gewesen sei und seit seiner Rückkehr rund zehn Jahre vergangen seien, sei es nicht mehr wahrscheinlich, daß die noch vorhandenen vegetativen Beschwerden mit dem Wehrdienst zusammenhingen. Wann sich die Änderung vollzogen habe, könne dahingestellt bleiben; schon in den ärztlichen Gutachten vom 17./18. Februar 1955 sei - ebenso wie in dem Gutachten der Medizinischen Universitätsklinik Heidelberg vom 27. Mai 1959 - jedenfalls ein kausaler Zusammenhang der Dystonie mit dem Wehrdienst verneint worden. Für die Schädigungsfolgen, die in dem Bescheid vom 3. August 1959 noch anerkannt seien, betrage die MdE. nicht wenigstens 25 v.H.. Die Revision ließ das LSG. zu. Das Urteil wurde dem Kläger am 22. Dezember 1959 zugestellt.
Am 11. Januar 1960 legte der Kläger Revision ein, er beantragte,
1. unter Aufhebung des Urteils des LSG. Baden-Württemberg vom 26. November 1959 und des Urteils des SG. Karlsruhe vom 30. September 1954 und in Abänderung der diesem Urteil zugrunde liegenden Vorentscheidungen den Beklagten zu verurteilen, beim Kläger auch über den 30. September 1959 hinaus "vegetative Dystonie" als Schädigungsfolge anzuerkennen und Rente nach einer Gesamt-MdE. um 50 v.H. zu gewähren;
2. hilfsweise, die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. Baden-Württemberg zurückzuverweisen.
Nach Verlängerung der Revisionsbegründungsfrist begründete der Kläger die Revision am 29. Februar 1960: Das LSG. habe die §§ 54, 77, 128 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG), 41 des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VerwVG), 62 Abs. 1 BVG unrichtig angewandt. Der Beklagte sei an die Feststellung (Anerkennung) der vegetativen Dystonie als Schädigungsfolge in dem Bescheid vom 12. September 1952 gebunden; auf § 62 Abs. 1 BVG habe der Beklagte die Rücknahme dieses Bescheides durch den angefochtenen Bescheid vom 3. August 1959 nicht stützen dürfen; das LSG. habe zu Unrecht angenommen, daß trotz unveränderter Befunde und gleicher Diagnose eine wesentliche Änderung in den Verhältnissen (§ 62 Abs. 1 BVG) vorliege, wenn für das Leiden nunmehr eine andere medizinische Grundlage angenommen werde; die Versorgungsverwaltung sei vielmehr, wenn sie den Zusammenhang bindend bejaht habe, hieran so lange gebunden, bis das Leiden entweder abgeheilt sei oder sich in seinem Erscheinungsbild wesentlich verändert habe. Der Bescheid vom 3. August 1959 könne auch nicht auf § 41 VerwVG gestützt werden, der Bescheid vom 12. September 1952 sei im Zeitpunkt seines Erlasses weder tatsächlich noch rechtlich unrichtig gewesen.
Der Beklagte beantragte,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Die Beteiligten erklärten sich mit einem Urteil ohne mündliche Verhandlung (§§ 165, 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 SGG) einverstanden.
II
Die Revision ist zugelassen (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG), der Kläger hat sie auch frist- und formgerecht eingelegt und begründet; sie ist damit zulässig; sie ist auch begründet.
Durch den Bescheid vom 12. September 1952 ist neben anderen, schon bisher "anerkannten" Leiden "vegetative Dystonie" als Schädigungsfolge festgestellt und Rente auch wegen dieses Leidens bewilligt worden. Der Beklagte hat diese Feststellung auch mit den Bescheiden vom 10. August 1955 und vom 6. August 1956 getroffen, auch diese Bescheide sind den Kläger begünstigende Verwaltungsakte gewesen, die der Beklagte nicht ohne weiteres - wie er dies in der mündlichen Verhandlung des LSG. am 26. November 1959 getan hat - hat "zurücknehmen" dürfen; der Kläger kann sich auf diese Bescheide jedoch deshalb nicht berufen, weil er auf die Bindungswirkung dieser Bescheide dadurch verzichtet hat, daß er ihrer Aufhebung nicht widersprochen hat. Das LSG. ist deshalb zu Recht davon ausgegangen, daß es für die Rechtmäßigkeit des Bescheides vom 3. August 1959 nur darauf ankommt, ob mit diesem Bescheid der Bescheid vom 12. September 1952 rechtswirksam zurückgenommen worden ist. Der Bescheid vom 12. September 1952 ist ein den Kläger begünstigender Verwaltungsakt gewesen, er ist für die Beteiligten mit der Bekanntgabe an den Kläger bindend geworden (§ 77 SGG; § 24 VerwVG), der Beklagte hat diesen Bescheid nur zurücknehmen dürfen, wenn er durch Gesetz hierzu ermächtigt gewesen ist. Der Beklagte hat den Bescheid vom 3. August 1959 zu Unrecht auf § 62 Abs. 1 BVG gestützt; er ist ebenso wie das LSG. zu Unrecht davon ausgegangen, daß in den Verhältnissen, die für die Feststellungen in dem Bescheid vom 12. September 1952 maßgeblich gewesen sind, eine wesentliche Änderung eingetreten sei. Diese Annahme steht zunächst im Widerspruch mit der Feststellung im Urteil des LSG., wonach die Bewertung der MdE. mit 50 v.H. "für den gesamten Zeitraum (gemeint ist die Zeit von der Feststellung in dem Bescheid vom 12. September 1952 an) bis zur Entziehung der Rente (30. September 1959)" nicht zu beanstanden sei. Wenn die MdE. bis 30. September 1959 mit 50 v.H. "richtig" bewertet worden ist und wenn vom 1. Oktober 1959 an nach der Überzeugung des LSG. eine MdE. von wenigstens 25 v.H. nicht mehr bestanden hat, hätte eine "Änderung in den Verhältnissen", soweit sie den Grad der MdE. betreffen, am 1. Oktober 1959 eingetreten sein müssen, dies hat das LSG. nicht dargelegt. Aber auch dann, wenn das LSG. nach seinen Ausführungen an anderer Stelle des Urteils in Wirklichkeit hat sagen wollen, der Kläger habe zwar auf Grund des Bescheides vom 12. September 1952 Anspruch auf Rente nach einer MdE. um 50 v.H. bis 30. September 1959 gehabt, es sei aber schon früher eine Änderung in den Verhältnissen eingetreten, die den Beklagten schon von einem früheren Zeitpunkt an zur Rücknahme des Bescheides vom 12. September 1952 berechtigt hätte, hat das LSG. § 62 Abs. 1 BVG auf den Sachverhalt nicht richtig angewandt. Bei der Entscheidung darüber, ob eine "Änderung in den Verhältnissen" seit Erlaß des Bescheides vom 12. September 1952 eingetreten sei, ist, wie auch das LSG. zutreffend angenommen hat, von den Verhältnissen auszugehen, die bei Erlaß des Bescheides in Wirklichkeit (objektiv) vorgelegen haben, es kommt nicht darauf an, von welchen Verhältnissen die Behörde, die den Verwaltungsakt erlassen hat, ausgegangen ist, was also subjektiv für sie bei Erlaß des Verwaltungsakts maßgebend gewesen ist (BSG. 7 S. 8 ff. (12)). Dies bedeutet aber nur, daß ein Bescheid von Anfang an nicht deshalb rechtswidrig gewesen ist, weil die Verwaltung bei seinem Erlaß subjektiv von Verhältnissen ausgegangen ist, die in Wirklichkeit nicht vorgelegen haben, daß also die Verwaltung einen Bescheid nicht nach § 62 Abs. 1 BVG zurücknehmen darf, wenn sie nachträglich erkennt, daß sie die Verhältnisse früher unzutreffend beurteilt hat. Um einen solchen Sachverhalt handelt es sich im vorliegenden Fall jedoch nicht; das LSG. ist davon ausgegangen, daß der Bescheid vom 12. September 1952 bei seinem Erlaß rechtmäßig gewesen ist; es hat festgestellt, daß der Kläger bei Erlaß dieses Bescheides an einer vegetativen Dystonie gelitten habe und daß die Versorgungsverwaltung dieses damals bestehende Leiden zu Recht als Schädigungsfolge festgestellt habe; in dem Fall BSG. 7 S. 8 ff. ist der Bewilligungsbescheid im Zeitpunkt seines Erlasses dagegen objektiv rechtswidrig gewesen. Die Frage ist im vorliegenden Fall allein, ob der Bescheid vom 12. September 1952 in der Zeit bis zum Erlaß des Bescheides vom 3. August 1959 rechtswidrig geworden ist, weil nach Erlaß des Bescheides vom 12. September 1952 objektiv eine Änderung in den Verhältnissen eingetreten ist. Das LSG. ist davon ausgegangen, eine Änderung der objektiven Verhältnisse sei nicht nur bei einem Unterschied zwischen den früher festgestellten und den bei Erlaß des Rücknahmebescheides beobachteten objektiven Krankheitsbefunden anzunehmen, sondern auch dann, wenn der Unterschied sich allein aus der "Einwirkung des Zeitablaufs auf den ursächlichen Zusammenhang" ergebe; das LSG. hat hiermit offenbar sagen wollen, daß es Krankheiten, wie insbesondere die vegetative Dystonie, gebe, in denen "die geringe zeitliche Entfernung" zwischen dem schädigenden Ereignis und dem bestehenden Leiden objektiv zu den Verhältnissen gehöre, die für den Erlaß eines begünstigenden Bescheides maßgebend gewesen seien, daß aber einer dieser für den Erlaß des Bescheides maßgebenden Umstände wegfalle, wenn sich der zeitliche Abstand zwischen dem schädigenden Ereignis und dem Leidenszustand vergrößere und dieser zunehmende zeitliche Abstand es sei, der - bei gleichbleibenden Befunden, wie sie auch das LSG. im vorliegenden Fall bejaht hat - als "Änderung in den Verhältnissen" im Sinne von § 62 Abs. 1 BVG zu beurteilen sei. Hierin kann dem LSG. nicht gefolgt werden. Ist der ursächliche Zusammenhang zwischen einem schädigenden Ereignis und einem bestehenden Leiden im Sinne der Entstehung bejaht worden, so ist damit gesagt, daß nach der Kausalitätsnorm des Rechts der Kriegsopferversorgung das schädigende Ereignis die wesentliche Bedingung für diesen Leidenszustand gewesen ist. An dieser Kausalität kann aber der Zeitablauf nichts ändern. Es ist allerdings möglich, daß bei gleichbleibendem Zustandsbild nach den medizinischen Feststellungen von einem bestimmten Zeitpunkt an nicht mehr der Wehrdienst als wesentliche Bedingung anzusehen ist, sondern eine andere Bedingung, sei es, weil der Leidenszustand, der Folge des Wehrdienstes gewesen ist, nicht mehr besteht (z.B. der Eiweißmangelschaden der Kriegsgefangenschaft, der zunächst eine vegetative Dystonie hervorgerufen hat, abgeklungen ist), sei es, weil, wie im vorliegenden Fall nach dem Gutachten vom 27. Mai 1959 anzunehmen ist, jedenfalls nunmehr die andere, nicht vom Wehrdienst abhängige Bedingung so überwiegt, daß die nicht wehrdienstbedingte Ursache für das Leiden nunmehr als Alleinursache anzusehen ist. Dieser Sachverhalt wird von manchen Ärzten als "Verschiebung der Wesensgrundlage eines Leidens" bezeichnet (vgl. Pollakowski, KOV 1958 S. 98 ff.; Beck a.a.O. S. 114 ff. mit weiteren Nachweisen); hierunter wird der Vorgang verstanden, daß "ein Leidensgrund an die Stelle des anderen tritt, während das Leidensbild nach außen hin unverändert geblieben erscheint ..., ohne daß ein symptomloses Intervall dazwischen zu liegen braucht" (Pollakowski a.a.O.). Es kann dahingestellt bleiben, ob ein solcher Vorgang medizinisch mit dem Begriff der "Verschiebung der Wesensgrundlage eines Leidens" zutreffend erfaßt ist, für die rechtliche Betrachtung indes ist dieser Begriff nicht verwertbar; hier kann es sich nur darum handeln, daß der Bescheid, in dem ein Leiden als Schädigungsfolge im Sinne der Entstehung anerkannt ist, infolge unrichtiger Beurteilung des Leidens von Anfang an rechtswidrig ist oder aber darum, daß er "infolge einer Änderung der Verhältnisse" nachträglich rechtswidrig geworden ist. Es ist zum Beispiel möglich, daß als Folge des Wehrdienstes "Herzbeschwerden" oder ein Magenleiden festgestellt worden sind, daß der Kläger unverändert weiterhin an Herz- oder Magenbeschwerden leidet, daß aber spätere Untersuchungen ergeben, daß eine altersbedingte Coronarsklerose oder ein Magenkrebs besteht und daß jedenfalls die jetzigen Beschwerden auf diese Leiden zurückzuführen sind; ebenso ist es, wie im vorliegenden Fall, denkbar, daß eine vegetative Dystonie als Folge der Gefangenschaft festgestellt worden ist, daß der Betroffene gleichbleibende Beschwerden hat, die auf eine vegetative Dystonie schließen lassen, daß aber eine spätere medizinische Beurteilung ergibt, daß diese Beschwerden auf einem anlagebedingten, durch die Persönlichkeitsstruktur hervorgerufenen Leiden beruhen. In diesen Fällen ist es entweder so, daß die erste Beurteilung unrichtig gewesen ist und daß der Bescheid, in dem das Leiden als Schädigungsfolge im Sinne der Entstehung festgestellt worden ist, deshalb von Anfang an rechtswidrig gewesen ist; dies ist auch dann der Fall, wenn erst nach längerer Zeit medizinisch die richtige Beurteilung überhaupt möglich gewesen ist (vgl. BSG. 10 S. 72 ff. (75, 76)); die Versorgungsverwaltung hat dann zu prüfen, ob der frühere Bescheid nach § 41 VerwVG oder den Vorschriften, die vor Inkrafttreten des VerwVG gegolten haben, zurückgenommen ("berichtigt") werden darf. Oder aber ist es so, daß nach Erlaß des früheren Bescheides neue krankhafte körperliche oder seelische Erscheinungen aufgetreten sind, die mit Wahrscheinlichkeit das unverändert ebenso wie früher vorhandene Leiden hervorrufen. Rechtlich nicht möglich ist es jedoch, daß ein Leiden, das nach der Ansicht der Versorgungsverwaltung oder des Gerichts zu Recht als Schädigungsfolge im Sinne der Entstehung festgestellt worden ist, allein mit Rücksicht auf den Zeitablauf von einem späteren Zeitpunkt an als ein in der "Anlage" bedingtes Leiden bezeichnet und daß der Bescheid, der die Feststellung des Leidens als Schädigungsfolge enthält, allein mit dieser Erwägung nach § 62 Abs. 1 BVG zurückgenommen wird. Die Anlage zu einem Leiden ist kein Umstand, der zu einer "Änderung in den Verhältnissen" im Sinne von § 62 Abs. 1 BVG führen kann, sie ist ein Umstand, der schon bei Erlaß des Bescheides, mit dem das Leiden als Schädigungsfolge anerkannt worden ist, bestanden hat, auch wenn dieser Umstand möglicherweise medizinisch damals noch nicht hat richtig beurteilt werden können; ein Leiden, das Schädigungsfolge sein soll, muß durch den Wehrdienst hervorgerufen oder verschlimmert sein; wenn die Anlage ohne den Wehrdienst nicht zu einem Leiden geführt hätte, ist sie keine wesentliche Bedingung des Leidens; wenn die Anlage bereits Krankheitswert gehabt und der Wehrdienst ein Leiden nur vorzeitig zum Ausbruch gebracht oder den vorgezeichneten Ablauf des Leidens ungünstig beeinflußt hat, handelt es sich um eine Verschlimmerung, in diesem Falle ist es möglich, daß die Verschlimmerung infolge des Wehrdienstes abklingt und daß von einem späteren Zeitpunkt an das Leiden allein oder überwiegend auf die Anlage als die nunmehr allein wesentliche Bedingung zurückzuführen ist; in dem Wegfall des "Verschlimmerungsanteils" liegt dann die Änderung in den Verhältnissen im Sinne des § 62 Abs. 1 BVG. Wenn dagegen, wie im vorliegenden Fall, das Leiden als durch den Wehrdienst "hervorgerufen" festgestellt worden ist, ist entweder diese Feststellung zutreffend gewesen, weil ohne den Wehrdienst die Anlage nicht zu einem Leiden geführt hätte, oder aber ist diese Feststellung von Anfang an unrichtig gewesen, weil in Wirklichkeit von Anfang an ("objektiv") nur eine Verschlimmerung des bereits in der Anlage vorhandenen Leidens durch den Wehrdienst bestanden hat (vgl. BSG. 10 S. 72), oder ist der Bescheid nachträglich unrichtig geworden, weil neue, also nicht etwa schon früher als Anlage vorgegebene Umstände hinzugekommen sind. Solche neu hinzugekommenen Umstände hat das LSG. im vorliegenden Fall nicht festgestellt; es hat nicht nur offengelassen, "wann" solche Umstände später eingetreten seien, sondern es hat seine Entscheidung allein darauf gestützt, daß nach den vorliegenden Gutachten und nach den Erkenntnissen der ärztlichen Wissenschaft über den Verlauf der wehrdienstbedingten vegetativen Dystonie jedenfalls bei Erlaß des Bescheides vom 3. August 1959 die vegetative Dystonie auf andere Umstände als die in der Person des Klägers begründete Anlage zu diesem Leiden mit Wahrscheinlichkeit nicht mehr zurückzuführen sei. Diese "Anlage" ist jedoch, mag sie von Anfang an Krankheitswert gehabt haben oder nicht, jedenfalls kein neu hinzugekommener Umstand, sie hat nicht nachträglich eine "Änderung in den Verhältnissen" bewirkt.
Bei diesem Sachverhalt hat das LSG. den Bescheid vom 3. August 1959, den der Beklagte auf § 62 Abs. 1 BVG gestützt hat, nicht als rechtmäßig ansehen dürfen. Wollte man auch die Anlage als einen die Verhältnisse nachträglich ändernden Umstand ansehen, so würde dies notwendig dazu führen, daß die Bindungswirkung eines Bescheides (§ 77 SGG; § 24 VerwVG) oder die bindende Wirkung der Feststellung des ursächlichen Zusammenhangs in einem vor Inkrafttreten des BVG erlassenen Bescheid (§ 85 BVG) von der Versorgungsverwaltung einseitig beseitigt werden könnte, obwohl der Bescheid bei seinem Erlaß - wie das LSG. festgestellt hat - rechtmäßig gewesen ist und nach seinem Erlaß keine neuen Umstände hinzugekommen sind, durch die der Bescheid rechtswidrig geworden ist. Im vorliegenden Fall legen die ärztlichen Gutachten seit 1950 zwar den Schluß nahe, daß die Feststellung, die vegetative Dystonie sei durch den Wehrdienst hervorgerufen worden, von Anfang an unrichtig gewesen ist; damit ist es aber Sache des Beklagten, zu prüfen, ob der Bescheid vom 12. September 1952 als von Anfang an rechtswidrig nach § 41 VerwVG zurückgenommen werden darf; bisher hat der Beklagte einen solchen Rücknahmebescheid nicht erlassen.
Da das Urteil des LSG. auf der unrichtigen Anwendung von § 62 Abs. 1 BVG beruht, ist es aufzuheben gewesen, das LSG. hat "die Klage" gegen den erst während des Berufungsverfahrens erlassenen Bescheid vom 3. August 1959 zu Unrecht abgewiesen. Der Senat kann auch selbst entscheiden, die tatsächlichen Feststellungen des LSG. sind erschöpfend und mit der Revision nicht angegriffen. Der Bescheid vom 3. August 1959 ist rechtswidrig gewesen, weil er keine gesetzliche Grundlage gehabt hat, er ist daher aufzuheben. Unbegründet ist dagegen die Berufung gegen das Urteil des SG. Karlsruhe, durch das die Klage gegen den Bescheid vom 12. September 1952 abgewiesen worden ist; der Kläger hat im Revisionsverfahren selbst vorgetragen, dieser Bescheid sei im Zeitpunkt des Erlasses weder tatsächlich noch rechtlich unrichtig gewesen, er hat auch nicht dargelegt, daß der Bescheid später unrichtig geworden sei; die Berufung gegen das Urteil des SG. Karlsruhe ist daher zurückzuweisen. Der Beklagte ist damit, solange der Bescheid vom 12. September 1952 nicht rechtswirksam aufgehoben ist, verpflichtet, die Rente des Klägers auch insoweit weiterzugewähren, als der Anspruch mit der vegetativen Dystonie begründet worden ist.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 2000675 |
BSGE, 89 |