Leitsatz (amtlich)
Ist der Versicherungsträger rechtskräftig zur Rentenzahlung verurteilt worden, so darf die Rente nicht nach RVO § 1293 Abs 2 aF in Verbindung mit SVD 3 entzogen werden.
Normenkette
RVO § 1293 Abs. 2 Fassung: 1934-05-17; SVD 3
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 27. September 1956 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
I.
Der 1919 geborene Kläger war von 1934 bis 1940 Molkereigehilfe und entrichtete während dieser Zeit Beiträge zur Invalidenversicherung. 1940 wurde er zum Heeresdienst eingezogen. Er verlor Mitte Mai 1945 durch eine Schußverletzung sein linkes Bein im oberen Drittel des Oberschenkels. Deshalb bezieht er eine Versorgungsrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE.) um 70 v. H. Die Beklagte lehnte seinen 1951 gestellten Antrag auf Gewährung von Invalidenrente durch Bescheid vom 13. Februar 1952 ab, weil der Kläger nicht invalide sei. Auf seine Berufung verurteilte das Oberversicherungsamt (OVA.) S mit Urteil vom 29. Mai 1952 die Beklagte zur Zahlung der Invalidenrente ab 1. Mai 1951, soweit die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen erfüllt seien; über die Höhe der Rente habe die Beklagte durch einen besonderen anfechtbaren Bescheid zu befinden. Zur Begründung führte das OVA. aus, nach den vorliegenden Gutachten und der damit übereinstimmenden Stellungnahme des Gerichtsarztes sei erwiesen, daß der Kläger nicht mehr in der Lage sei, die Hälfte dessen zu verdienen, was gesunde Versicherte zu erwerben pflegten. Er könne nur leichte Arbeiten im Sitzen verrichten, also nur eine typische Invalidenbeschäftigung ausüben; Möglichkeiten für mittelschwere Arbeiten im Sitzen, bei denen der Arbeitgeber das Material anliefere und abhole, seien nicht bekannt. Dieses Urteil ist rechtskräftig geworden.
1952 verzog der Kläger von Reinbek nach Hamburg; dort betreibt er als Selbständiger einen Tabakkiosk. Auf Grund einer Nachuntersuchung vom Oktober 1953 entzog die Beklagte mit Bescheid vom 6. November 1953 dem Kläger die Rente vom 1. Dezember 1953 an: Der Kläger sei nicht mehr invalide, es sei eine Gewöhnung an den Gesundheitszustand eingetreten, er könne nunmehr leichte und mittelschwere Arbeiten im Sitzen fortgesetzt und leichte im Stehen mit Unterbrechungen verrichten; dies beweise auch die ganztägige Beschäftigung in seinem Verkaufsstand. Die Klage gegen diesen Bescheid blieb erfolglos (Urteil des Sozialgerichts - SG. - vom 4.10.1954), desgleichen die Berufung (Urteil des Landessozialgerichts - LSG. - vom 27.9.1956). In seinen Gründen hat das LSG. ausgeführt, die Voraussetzungen des § 1293 Abs. 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) a. F. seien nicht gegeben, weil sich der Gesundheitszustand des Klägers nicht geändert habe und seit der Rentengewährung keine Gewöhnung eingetreten sei. Jedoch sei die Entziehung der Rente nach § 1293 Abs. 2 RVO in Verbindung mit der Sozialversicherungsdirektive (SVD) Nr. 3 zu Recht erfolgt. Diese Vorschrift sei in der ehemaligen britischen Besatzungszone gültiges Recht. Ihrer Anwendung stehe nicht die Rechtskraft des Urteils des OVA. entgegen, da die genannten Vorschriften keine solche Einschränkung enthalte; es sei gerade der Zweck dieser Vorschrift gewesen, materiell-rechtliche Fehlentscheidungen ohne Rücksicht auf eine etwa bestehende Rechtskraft zu beseitigen. Dem Kläger könne zugemutet werden, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt durch eine sitzende oder teils stehende und sitzende Arbeit, etwa als Sortierer, Materialausgeber in der feinmechanischen Industrie, Fahrkartenausgeber die Lohnhälfte zu verdienen. Diese Lohnhälfte sei nach den Einkünften zu bemessen, die er als Molkereigehilfe beziehen würde, nicht aber danach, was er als Molkereiverwalter erwerben könnte. Für die Entscheidung sei es ohne Bedeutung, daß die Beklagte den Bescheid zunächst auf § 1293 Abs. 1 RVO a. F. gestützt habe, da sie berechtigt sei, auch im Berufungsverfahren ihrem Verwaltungsakt eine andere Begründung zu geben; ein Vorverfahren sei nicht notwendig gewesen. Das LSG. hat die Revision zugelassen.
Gegen das am 27. Oktober 1956 zugestellte Urteil hat der Kläger am 16. November 1956 Revision eingelegt und sie am 11. Dezember 1956 begründet. Er trägt vor: Die Anwendung des § 1293 Abs. 2 RVO a. F. und der SVD Nr. 3 verstoße gegen den Gleichheitsgrundsatz, da auf diese Weise die in der früheren britischen Besatzungszone lebenden Angehörigen der Bundesrepublik gegenüber den Versicherten in anderen Zonen benachteiligt würden. Die Vorschrift dürfe als früheres Besatzungsrecht nicht mehr angewandt werden. Da die Beklagte ihren Bescheid ursprünglich auf § 1293 Abs. 1 RVO a. F. gestützt habe, dürfe sie ihn nicht nachträglich auf Abs. 2 dieser Vorschrift gründen; sie habe vielmehr einen neuen Bescheid erlassen müssen, bei dem ein Vorverfahren notwendig gewesen sei. Schließlich stehe auch einer Entziehung der Rente ohne das Vorliegen einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse die Rechtskraft des Urteils des OVA. S entgegen.
Der Kläger beantragt,
die Urteile des LSG. Hamburg vom 27. September 1956 und des SG. Hamburg vom 4. Oktober 1954 sowie den Bescheid der Beklagten vom 6. November 1953 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, die Invalidenrente auch über den 30. November 1953 hinaus zu zahlen, hilfsweise, die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
II.
Die durch die Zulassung statthafte, auch form- und fristgerecht eingelegte Revision ist begründet.
Das LSG. hat die Entziehung der durch das Urteil des OVA. zugebilligten Rente nach § 1293 Abs. 2 RVO a. F. in Verbindung mit der SVD Nr. 3 für zulässig angesehen, ohne daß es eine wesentliche Änderung in den Verhältnissen festgestellt hätte. Dieser Auffassung vermag sich der Senat nicht anzuschließen. Nach der genannten Vorschrift ist die Entziehung einer Invalidenrente auch ohne Feststellung einer wesentlichen Änderung in den Verhältnissen des Berechtigten zulässig, wenn eine erneute Prüfung ergibt, daß er nicht invalide ist. Diese Vorschrift war durch die Verordnung (VO) vom 17. Mai 1934 (RGBl. I S. 419) mit Wirkung vom 1. Januar 1934 an eingeführt und bis zum 31. Dezember 1937 befristet gewesen. Die Einführung dieser Vorschrift im Jahre 1934 war eine ausgesprochene Notmaßnahme, die sich über die Rechtskraft von Bescheiden hinwegsetzte (vgl. hierzu die Amtl. Begr. bei Eckert-Hoffmeister-Dobbernack, Erl. zur VO vom 17.5.1934 S. 203; ferner Reichsversicherungsamt - RVA. - in der Grunds. Entsch. Nr. 5126; Theilen, ZfS. 1951 S. 182 und Caesar, SozVers. 1952 S. 78). Es sollten Fehlbescheide, auch wenn sie rechtskräftig waren, beseitigt werden können, weil das Interesse aller Versicherten an einer rechtmäßigen Rentengewährung über dem Interesse an der Rechtskraft des Bescheides stehen müßte. Es sollte eine Nachprüfung der Bescheide ermöglicht werden, ein bindender Verwaltungsakt, wie ihn die Rentenbewilligung darstellt, sollte zurückgenommen werden können, wenn er zu Unrecht ergangen war. Dieser Gesichtspunkt scheidet aber aus, wenn ein Versicherungsträger in einem Urteil zu einer Leistung verurteilt worden ist, der Verwaltungsakt also entgegen seinem Willen erlassen werden mußte. Dies läßt sich schon aus dem Wortlaut der Vorschrift entnehmen. Wenn es darin heißt "eine erneute Prüfung ergibt", so kann es sich nur um die Überprüfung des eigenen Bescheides durch den Versicherungsträger handeln, aber nicht um die Überprüfung eines Urteils. Dieses ist durch seine Rechtskraft die bindende Grundlage für die Rentenzahlung geworden und kann von dem Versicherungsträger als einer Partei des betreffenden Rechtsstreits nicht auf seine Richtigkeit überprüft werden. Gegen rechtskräftige Urteile gibt es nur eine Wiederaufnahme des Verfahrens unter den im Gesetz vorgesehenen Voraussetzungen. Weiter sprechen auch die sich aus der Rechtskraft eines Urteils allgemein ergebenden Folgen gegen eine Anwendung des § 1293 Abs. 2 RVO a. F. auf Renten, die auf Grund eines Urteils bewilligt worden sind. Ist nämlich durch ein Urteil eine Rente zugesprochen, so muß dies - gleichgültig, ob sie zu Recht oder zu Unrecht gewährt worden ist - im Interesse der Rechtssicherheit von beiden Parteien hingenommen werden. Der Streit der Parteien ging ja gerade darum, ob ein Rentenanspruch besteht oder nicht; wenn dann das Gericht, u. U. nach einer Beweisaufnahme, die Rente zugesprochen hat, so kann der dadurch entschiedene Streit nicht von neuem in der Form wieder aufgerollt werden, daß der Versicherungsträger das Recht haben soll, die Rente wieder zu entziehen, ohne daß sich an dem Sachverhalt, wie er damals dem Gericht vorlag, etwas geändert hätte.
Auch aus Art. IV § 5 der VO vom 17. Mai 1934 ist nichts Gegenteiliges zu entnehmen. Wenn es hier heißt, die Entziehung einer Rente könne in einem anhängigen Rechtsmittelverfahren auch dann ausgesprochen werden, wenn die Voraussetzungen des § 1293 Abs. 2 RVO vorlägen, so bedeutet dies nur, daß in einem anhängigen Rechtsmittelverfahren zu prüfen war, ob die vom Versicherungsträger ausgesprochene Rentenentziehung etwa nach Abs. 2 berechtigt ist, aber nicht, daß eine durch ein rechtskräftiges Urteil zugesprochene Rente entzogen werden darf, ohne daß eine wesentliche Änderung in den Verhältnissen vorläge.
Diese schon für die ursprüngliche Geltungszeit des § 1293 Abs. 2 RVO a. F. (1.1.1934 bis 31.12.1937) maßgebenden Erwägungen müssen erst recht für die Zeit gelten, für die seit 1945 durch SVD Nr. 3 für das Gebiet, der britischen Zone diese Vorschrift ohne ausdrückliche zeitliche Beschränkung wieder eingeführt worden ist. Im Jahre 1934 handelte es sich nur darum, die vor 1933 erfolgten Rentenbewilligungen in einem begrenzten Zeitabschnitt zu überprüfen. Selbst wenn man für diese ausgesprochene Notmaßnahme unter Berücksichtigung der damals herrschenden Rechtsanschauungen ausnahmsweise eine Durchbrechung des Grundsatzes der Rechtskraft für zulässig halten wollte, so würde dies nicht mehr für eine Vorschrift gelten, die erst 1945 eingeführt worden ist. Denn man kann nicht annehmen, daß der Gesetzgeber damit ohne bestimmte zeitliche Begrenzung eine Aufhebung der Rechtskraft von Urteilen einführen wollte; wenn die Absicht bestanden hätte, § 1293 Abs. 2 RVO a. F. auch auf rechtskräftige Urteile auszudehnen, so hätte dies in irgendeiner Form klar ausgedrückt werden müssen. Da dies aber nicht geschehen ist, kann diese Vorschrift nicht die Bedeutung haben, daß die Rechtskraft der Urteile der Oberversicherungsämter und der Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit von den verurteilten Versicherungsträgern aufgehoben werden kann.
Für eine derartige Auslegung würden für die Zeit nach Errichtung der Bundesrepublik auch verfassungsmäßige Bedenken bestehen. Denn es wäre mit dem Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit, insbesondere mit der in Art. 20 des Grundgesetzes (GG) bestimmten Trennung von Justiz und Verwaltung nicht vereinbar, wenn eine Verwaltungsbehörde ein für sie ungünstiges Urteil nicht zu beachten brauchte und es letztlich durch einen neuen Verwaltungsakt ersetzen könnte, ohne daß sich eine Änderung gegenüber den Verhältnissen ergeben hätte, die die Grundlage dieses Urteils darstellen. Die Entziehung der Rente nach § 1293 Abs. 2 RVO a. F. in Verbindung mit der SVD Nr. 3 ist somit nicht zulässig, wenn die Rentenleistung des Versicherungsträgers auf einer rechtskräftigen Verurteilung beruht.
Die Beklagte könnte daher die Rente nur dann entziehen, wenn der Kläger infolge einer wesentlichen Änderung in seinen Verhältnissen nicht mehr invalide wäre (§ 1293 Abs. 1 RVO a. F.). Hierzu hat das LSG. festgestellt, eine Änderung im Gesundheitszustand des Klägers sei nicht eingetreten, dieser habe sich sogar im Gegenteil noch etwas verschlimmert; die Änderung der Verhältnisse könne auch nicht in einer Gewöhnung und Anpassung liegen, weil diese schon vor der Rentenbewilligung im Jahre 1951 eingetreten sei. An diese durch die Revision nicht angegriffenen tatsächlichen Feststellungen ist der Senat nach § 163 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) gebunden. Diese Feststellungen des LSG. schließen aber nicht das Vorliegen einer wesentlichen Änderung in den Verhältnissen des Klägers aus. Wenn auch bei § 1293 Abs. 1 RVO a. F. in erster Linie an eine Änderung in den gesundheitlichen Verhältnissen des Versicherten gedacht ist, so können auch andere Änderungen von Bedeutung sein, wenn sie die Erwerbsfähigkeit des Versicherten erhöhen. Eine solche wesentliche Änderung der Verhältnisse ist u. U. dann gegeben, wenn ein Rentner aus einem kleineren Ort mit nur wenigen Arbeitsplätzen in eine Großstadt verzieht, in der ihm ein größeres Arbeitsfeld zur Verfügung steht (vgl. BSG. 7 S. 215). Dies könnte bei dem Kläger zutreffen, weil er zur Zeit der Rentenbewilligung in Reinbek gewohnt hat und später nach H verzogen ist. Hierzu fehlen die notwendigen Feststellungen. Da somit der Rechtsstreit noch nicht zur abschließenden Entscheidung reif ist, war das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).
Das LSG. wird nunmehr zu prüfen haben, ob die Wohnsitzverlegung des Klägers von R nach H eine wesentliche Änderung in den Verhältnissen darstellt. Dabei kann es von Bedeutung sein, ob schon zur Zeit der Rentenbewilligung dem Kläger zuzumuten war, täglich von R aus nach H oder dergl. zu fahren, um dort eine Arbeit anzunehmen. Wenn dies zu verneinen wäre, müßte geklärt werden, ob dem Kläger nach dem Umzug in H in ausreichendem Maße Arbeitsplätze zur Verfügung stehen, die er bei seinem Gesundheitszustand ausfüllen kann und ob er dann die gesetzliche Lohnhälfte verdienen könnte. Ab 1. Januar 1957 müßte dann noch geprüft werden, ob ihm nach den Bestimmungen des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes die Rente zusteht.
Die Kostenentscheidung bleibt dem LSG. überlassen.
Fundstellen
Haufe-Index 2391749 |
BSGE, 231 |
NJW 1960, 935 |