Entscheidungsstichwort (Thema)
Witwenrente aus der Unfallversicherung. Kausalzusammenhang zwischen Todesursache und Berufskrankheit
Orientierungssatz
Der nach § 589 Abs 2 S 1 RVO vermutete Ursachenzusammenhang zwischen einer entschädigungspflichtigen Silikose (mit einer MdE um mindestens 50 %) und dem Tod des Versicherten liegt dann im Sinne des § 589 Abs 2 S 2 RVO offenkundig nicht vor, wenn die Silikose mit einer jeden ernsthaften Zweifel ausschließenden Wahrscheinlichkeit nicht rechtlich wesentliche Ursache des Todes des Versicherten ist.
Normenkette
RVO § 589 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 Sätze 1-2
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 31.08.1972) |
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 31. August 1972 wird zurückgewiesen.
Die Beteiligten haben einander außergerichtliche Kosten nicht zu erstatten.
Gründe
I
Die Klägerin begehrt von der Beklagten die Witwenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung ihres verstorbenen Ehemannes.
Der Ehemann der Klägerin bezog von der Beklagten zu seinen Lebzeiten zunächst wegen Siliko-Tuberkulose und später wegen Silikose und ihrer Folgen die Vollrente. Er starb am 28. September 1965. Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 3. Dezember 1965 die Gewährung der Witwenrente ab, weil es nach dem Obduktionsgutachten offenkundig sei, daß der Ehemann der Klägerin allein an einem ausgedehnten Krebsleiden gestorben sei und die Berufskrankheit mit dem Tode weder in unmittelbarem noch in mittelbarem Zusammenhang gestanden habe.
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage mit Urteil vom 5. November 1968 abgewiesen, nachdem es medizinische Gutachten des Prof. Dr. W vom 8. März 1966, des Prof. Dr. B vom 20. April 1967 und des Prof. Dr. G vom 20. März 1968 eingeholt und die Beklagte eine gutachtliche Stellungnahme des Prof. Dr. W vom 20. November 1967 eingereicht hatte. Das Landessozialgericht (LSG) zog die in einem anderen Rechtsstreit erstattete gutachtliche Stellungnahme des Prof. Dr. Sch vom 11. September 1970 bei und hörte im Termin vom 31. August 1972 als Sachverständigen den Facharzt für Lungenkrankheiten Dr. W. Das ISG hat mit Urteil vom 31. August 1972 das Urteil des SG abgeändert und die Beklagte verurteilt, der Klägerin Hinterbliebenenrente nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren. Zur Begründung hat das LSG im wesentlichen ausgeführt, die Erwerbsfähigkeit des Ehemannes der Klägerin sei zu seinen Lebzeiten durch eine Quarzstaublungenerkrankung (Silikose) um mindestens 50 v. H. gemindert gewesen. Nach § 589 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) werde daher der ursächliche Zusammenhang zwischen der Berufskrankheit und dem Tod vermutet. Diese Vermutung sei nur dann widerlegt, wenn das Fehlen des Kausalzusammenhangs offenkundig sei, wenn also die Möglichkeit einer Mitwirkung der Silikose am Tode ohne jeden ernsthaften Zweifel ausscheide. Das treffe nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung dann zu, wenn lediglich eine ganz entfernte und rein theoretische Möglichkeit des Kausalzusammenhangs bestehe. Im vorliegenden Fall sei das Fehlen des Kausalzusammenhangs aber nicht offenkundig, denn nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme beständen zahlreiche konkrete Anhaltspunkte für Zusammenhangsbeziehungen zwischen der Silikose und dem Krebstod. Bei einem Nachweis der unmittelbaren örtlichen Beziehung zwischen Silikose und Lungenkrebs sei bereits die Wahrscheinlichkeit eines ursächlichen Zusammenhangs zu bejahen. Könne der Nachweis der Lokalisationsidentität nicht geführt werden, so sei der ursächliche Zusammenhang zwar nicht wahrscheinlich, es bleibe aber die naheliegende Möglichkeit der Kausalität bestehen, weil die Silikose zu einem sogenannten Reizkrebs geführt haben könne. Hinzu komme die Möglichkeit, daß krebsbegünstigende Gewebezerfallsprodukte mit ihren toxischen Auswirkungen den Weg auch in andere Bereiche genommen haben. Eine weitere Möglichkeit des ursächlichen Zusammenhangs bestehe darin, daß die silikotischen Staubeinlagerungen in der Lunge geeignet seien, den Abbau kanzerogener Stoffe aus der Atemluft in der Lunge zu vermindern oder zu hemmen. Darüber hinaus würden in vielen Fällen die frühzeitige Erkennung und operative Behandlung des Lungenkrebses durch die Silikose verhindert. Zwar hätten einige der gehörten Sachverständigen die Formulierung gewählt, es bestehe kein ernstlicher Zweifel daran, daß die Berufskrankheit den Tod nicht nicht erheblich mitverursacht habe. Den Gutachten lasse sich aber entnehmen, daß die Sachverständigen andere Beweismaßstäbe angelegt und insbesondere dem Umstand nicht genügend Bedeutung beigemessen hätten, daß sich wegen der gesetzlichen Vermutung die noch bestehenden Ungewißheiten der Krebsentstehung zu einem wesentlichen Teil zugunsten der Versicherten auswirken.
Die Beklagte hat dieses Urteil mit der - vom LSG zugelassenen - Revision angefochten. Sie trägt vor, das LSG hätte den Gutachten nicht entnehmen dürfen, daß im vorliegenden Fall konkrete und ernsthafte Möglichkeiten des Kausalzusammenhangs beständen. Das gelte insbesondere für das Gutachten des Dr. W, auf das sich das LSG hauptsächlich stütze. Dieser Sachverständige habe ausgeführt, daß noch keine gesicherten Erkenntnisse darüber vorhanden seien, ob und wie die Silikose als mitverursachender Faktor für einen Lungenkrebs in Betracht komme. Deshalb könne es sich bei den vom Sachverständigen aufgezeigten Möglichkeiten des Kausalzusammenhangs nicht um konkrete und ernsthafte, sondern lediglich um entfernte und rein theoretische Möglichkeiten handeln. Die Annahme, ein frühzeitig erkannter Krebs sei ohne die funktionellen Folgen der Siliko-Tuberzulose einer operativen Behandlung zugänglich gewesen, beruhe zu einem großen Teil auf fiktiven Geschehensabläufen, die sich in das Kausaldenken nicht einordnen ließen. Es sei unaufklärbar, wie der Versicherte sich ohne Silikose beim ersten Auftreten krebsbedingter Beschwerden verhalten hätte, ob dann ein Krebsleiden ärztlicherseits auch tatsächlich erkannt worden wäre, wann die Frage einer Operation medizinisch erstmals akut geworden wäre und in welchem Stadium sich das Krebsleiden zu diesem Zeitpunkt befunden hätte, ob dann eine Operation noch indiziert gewesen wäre und ob der Versicherte zu einer solchen sein Einverständnis erklärt hätte. Offen sei schließlich auch die Frage, ob der Versicherte die Operation überstanden und den für den Fall der Nichtoperation zu erwartenden Todeszeitpunkt um mindestens ein Jahr überlebt hätte.
Die Beklagte beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil im Ergebnis und in der Begründung für richtig und ist der Ansicht, die Revision der Beklagten sei unbegründet.
II
Die zulässige Revision der Beklagten hat keinen Erfolg.
Das LSG hat die Beklagte mit Recht zur Gewährung der Hinterbliebenenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung verurteilt.
Der Klägerin steht nach § 589 Abs. 1 Nr. 3 RVO die Hinterbliebenenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung zu, denn es ist davon auszugehen, daß der Tod ihres Ehemanns wesentlich durch die nach § 551 RVO einem Arbeitsunfall gleichstehende Berufskrankheit verursacht worden ist. Zwar hat das LSG den ursächlichen Zusammenhang zwischen Silikose und Tod nicht für so wahrscheinlich gehalten, daß es sich davon hätte überzeugen können. Das ist indessen auch nicht erforderlich, denn nach § 589 Abs. 2 Satz 1 RVO wird der Kausalzusammenhang vermutet, weil die Erwerbsfähigkeit des Ehemanns der Klägerin zu seinen Lebzeiten durch die Silikose um mindestens 50 v. H. gemindert war. Nach § 589 Abs. 1 Satz 2 RVO gilt diese Vermutung nur dann, nicht, wenn offenkundig ist, daß der Tod mit der Berufskrankheit nicht in ursächlichem Zusammenhang steht. Das trifft jedoch nicht zu. Das LSG hat insbesondere nicht den Begriff der Offenkundigkeit verkannt, sondern hat ihn in Übereinstimmung mit der ständigen Rechtsprechung des erkennenden Senats dahin verstanden, daß das Fehlen des Kausalzusammenhangs nur dann offenkundig ist, wenn entweder keine oder lediglich eine entfernt liegende und rein theoretische Möglichkeit des Zusammenhangs besteht. Das LSG hat also den § 589 Abs. 2 RVO nicht verletzt, wenn es bei Bestehen einer konkreten und ernsthaften Möglichkeit des Kausalzusammenhangs die Vermutung als nicht widerlegt angesehen hat.
Die Entscheidung der Frage, ob im Einzelfall eine konkrete und ernsthafte oder nur eine weit entfernt liegende und theoretische Möglichkeit des Kausalzusammenhangs besteht, läßt sich nicht durch Subsumtion von Tatsachen unter eine Rechtsnorm gewinnen, sondern vollzieht sich in dem den Tatsachengerichten vorbehaltenen Raum der freien richterlichen Beweiswürdigung (vgl. Urteile des erkennenden Senats vom 29. Januar 1970 - 5 RKnU 6/68 - und vom 19. März 1970 - 5 RKnU 10/68 -). Das Revisionsgericht ist daher nach § 163 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) nur dann nicht an die Feststellung des LSG gebunden, es bestehe im Einzelfall eine konkrete und ernsthafte Möglichkeit des Kausalzusammenhangs, wenn diese Feststellung mit einer begründeten Verfahrensrüge angegriffen ist. Selbst wenn man in dem Vorbringen der Beklagten eine hinreichend substantiierte Rüge sieht, das LSG habe gegen den § 128 SGG verstoßen und die Grenzen der freien richterlichen Beweiswürdigung überschritten, so ist diese Rüge jedoch unbegründet. Bei Vorliegen verschiedener, voneinander abweichender Gutachten steht es dem Tatsachengericht frei, sich dem Gutachten anzuschließen, das nach seiner Ansicht die größte Überzeugungskraft hat. Das LSG durfte daher insbesondere dem Gutachten des Dr. W entnehmen, daß die Silikose an der Entstehung eines sogenannten Reizkrebses mitgewirkt haben kann, zumal auch die übrigen Gutachten - worauf das LSG mit Recht hingewiesen hat - beim Zusammentreffen von Silikose und Lungenkrebs im Falle einer Lokalisationsidentität den Kausalzusammenhang nicht verneinen. Bei der Anwendung des § 589 Abs. 2 RVO kann man aber nicht die Wahrscheinlichkeit der von der Vermutung umfaßten Lokalisationsidentität fordern, denn das würde bedeuten, daß eines der von der Vermutung umfaßten Glieder der Kausalkette nachgewiesen werden müßte. Zwar hat Dr. W eingeräumt, daß die Medizin noch nicht über gesicherte Erkenntnisse darüber verfüge, ob und wie die Silikose als mitverursachender Faktor bei der Entstehung eines Lungenkrebses in Betracht komme. Gleichwohl brauchte das LSG nicht anzunehmen, es handele sich lediglich um eine entfernt liegende und rein theoretische Möglichkeit der Verursachung. Da die medizinische Lehre trotz Fehlens gesicherter Erkenntnisse über die Entstehung des Krebses und seiner Beeinflussung durch die Silikose die Möglichkeit des ursächlichen Zusammenhangs, insbesondere bei Lokalisationsidentität, bejaht, ist das Tatsachengericht berechtigt, im Einzelfall eine konkrete und ernsthafte Möglichkeit anzunehmen, wenn die Lokalisationsidentität nicht verneint werden kann. Diese konkrete und ernsthafte Möglichkeit des Kausalzusammenhangs zwischen Silikose und Krebs und damit zwischen Silikose und Tod genügt, um das Fehlen des Kausalzusammenhangs nicht als offenkundig erscheinen zu lassen. Daher kommt es nicht darauf an, ob die weiteren vom LSG aufgezeigten Möglichkeiten ebenfalls bestehen.
Der Senat hat die danach unbegründete Revision der Beklagten zurückgewiesen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen