Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 29.11.1984) |
Tenor
Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 29. November 1984 wird zurückgewiesen.
Der Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kasten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
I
Bei dem 1934 geborenen Kläger wurde durch Bescheid vom 27. August 1980 eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 80 vH und eine erhebliche Beeinträchtigung seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr festgestellt. Mit Bescheid vom 3. Januar 1984 stellte das Versorgungsamt fest, daß der Kläger in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr nicht erheblich beeinträchtigt sei, und hob mit Ablauf des 31. März 1984 die Feststellung des Merkzeichens „G” in Bescheid und Ausweis auf. Begründet wurde dies mit der Neuregelung der persönlichen Voraussetzungen des Rechts zur unentgeltlichen Beförderung Behinderter im Nahverkehr bzw zur Inanspruchnahme steuerrechtlicher Vergünstigungen nach dem Kraftfahrzeugsteuergesetz mit Wirkung ab 1. April 1984. Der Kläger wurde vor der Erteilung dieses Bescheides nicht angehört.
Das Sozialgericht (SG) hob den Bescheid mit der Begründung auf, es hätten keine den Beklagten berechtigenden Gründe vorgelegen, von der nach § 24 Sozialgesetzbuch – Verwaltungsverfahren – (SGB X) gebotenen Anhörung des Klägers abzusehen (Urteil vom 13. April 1984). Ohne daß es einer sachlichen Überprüfung des Bescheides bedurft hätte, sei der Bescheid schon aus diesem Grunde nach § 42 Satz 2 SGB X aufzuheben gewesen. Das SG ließ die Berufung entgegen dem Antrag des Beklagten nicht zu. Diese Entscheidung stützte es darauf, daß eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache iS des § 150 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) „nicht gesehen” werden könne, sondern auf Grund der großen Zahl der gegen den Beklagten erhobenen, anhängigen Klagen allenfalls ein Individualinteresse des Beklagten vorliege, das jedoch zur Zulassung der Berufung nicht ausreiche. Mit der von dem Beklagten dennoch eingelegten Berufung hat dieser beanstandet, daß trotz des in § 3 Abs. 6 Satz 4 Schwerbehindertengesetz (SchwbG) vorgesehenen grundsätzlichen Ausschlusses der Berufung diese vorliegend statthaft sei, da das SG sie unter Verstoß gegen Art. 3 des Grundgesetzes (GG) in offensichtlich gesetzwidriger und willkürlicher Weise nicht zugelassen habe. Eine Zulassung hätte wegen der offenkundigen grundsätzlichen Bedeutung erfolgen müssen. Außerdem sei die dem Beklagten gewährte Einlassungsfrist zu kurz bemessen gewesen. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung als unzulässig verworfen (Urteil vom 29. November 1984). Es hat dies damit begründet, daß die vom Beklagten behauptete fehlerhafte Nichtzulassung der Berufung keinen Verfahrensmangel darstelle, denn die Frage, ob eine entschiedene Rechtssache grundsätzliche Bedeutung habe, betreffe nicht das Verfahren vor dem SG, sondern nur den Inhalt der getroffenen Entscheidung. Selbst wenn man dem SG aber eine willkürliche Nichtzulassung der Berufung und damit einen Verstoß sowohl gegen Art. 3 GG als auch gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG unterstelle, sei das LSG weiterhin nach dem SGG nicht befugt, die Berufung nachträglich zuzulassen. Diese Kompetenz habe § 150 Nr. 1 SGG ausschließlich den SGen übertragen, an deren Entscheidung die LSGe gebunden seien. Dem Grundsatz des rechtlichen Gehörs sei schon dadurch genügt, daß der Beklagte in der mündlichen Verhandlung Gelegenheit gehabt habe, sich zu äußern und seine Rechtsauffassung vorzutragen.
Der Beklagte hat die zugelassene Revision eingelegt. Er meint, das SG habe sich bei seiner Entscheidung über die Nichtzulassung der Berufung von sachfremden Erwägungen leiten lassen, in denen ein Akt der Willkür zu erblicken sei. Entgegen dem LSG sei in diesen Fällen eine Nachüberprüfungsmöglichkeit durch das nächsthöhere Gericht zulässig, auch wenn § 150 SGG ein solches Verfahren nicht ausdrücklich vorsehe.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Heilbronn vom 13. April 1984 und das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 29. November 1984 aufzuheben und die Sache zur erneuten sachlichen Entscheidung zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Im übrigen sei die Nichtzulassung der Berufung durch das SG nicht willkürlich erfolgt. Auch wenn das SG sich über die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache geirrt haben und die von ihm vertretene Rechtsauffassung abwegig erscheinen solle, könne eine fehlerhafte Rechtsmeinung niemals Willkür sein.
Entscheidungsgründe
II
Die zulässige Revision des Beklagten ist nicht begründet. Das LSG hat die gegen das Urteil des SG eingelegte Berufung zu Recht als unzulässig verworfen.
Streitgegenstand des sozialgerichtlichen Verfahrens war die Entziehung des Vergünstigungsmerkmales „G” nach § 3 Abs. 4, § 58 Abs. 1 SchwbG. Die Berufung war daher nach § 3 Abs. 6 Satz 4 SchwbG ausgeschlossen. Nach § 150 SGG wäre die Berufung dessen ungeachtet jedoch zulässig gewesen, wenn das SG sie im Urteil zugelassen oder ein Verfahrensmangel vorgelegen hätte. Entgegen dem Antrag des Beklagten hat das SG die Berufung nicht zugelassen; in den Urteilsgründen hat es diese Entscheidung ausdrücklich begründet. Das LSG hat sich an diese Nichtzulassung gebunden gefühlt. Das entspricht der ständigen Rechtsprechung (vgl. BSGE 3, 231, 233; 5, 150, 152; SozR Nr. 12, 29, 38, 39, 40 zu § 150 SGG), Ausdrücklich geregelt ist jedoch allein die Bindung des BSG an die Zulassung der Revision (vgl. das Gesetz zur Änderung des SGG vom 30. Juli 1974 –BGBl I 1625– § 160 Abs. 3 und § 161 Abs. 2 Satz 2 SGG). Für den umgekehrten Fall – also bei einer Nichtzulassung des Rechtsmittels – kann eine Überprüfung dieser Entscheidung in dem gesetzlich vorgeschriebenen Rahmen erfolgen. Für das Revisionsverfahren ist dies durch die Einführung der Nichtzulassungsbeschwerde auf Grund des vorgenannten Änderungsgesetzes geschehen (§ 160a SGG). Eine entsprechende oder vergleichbare Regelung ist für das Berufungsverfahren aber nicht in das Gesetz aufgenommen worden.
Gleichwohl laßt sich für den Fall der willkürlichen Nichtzulassung der Berufung durch das SG die Meinung des LSG nicht halten, daß die Berufung unzulässig sei. Das Verbot willkürlichen Handelns hat Verfassungsrang. Die Frage, ob die Nichtzulassung eines Rechtsmittels das Rechtsmittel ausschließt, ist lediglich eine solche der Auslegung einfachen Rechts. Diese Auslegung muß verfassungskonform und somit auch unter Beachtung des Willkürverbots erfolgen. Denn die Gerichte haben nicht nur die negative Verpflichtung, mit der Verfassung nicht in Einklang stehende Eingriffe in grundrechtlich geschützte Bereiche zu unterlassen, sondern sie unterliegen auch der positiven Verpflichtung, die Grundrechte durchzusetzen (vgl. BVerfGE 49, 252, 257; 63, 77, 79). Das Rechtsmittelgericht hat eine grundrechtlich orientierte Handhabung der Prozeßvorschriften vorzunehmen. Dazu gehört es, bei willkürlichen Verstößen gegen Grundrechte und grundrechtsähnliche Rechte prozessuale Wege zu suchen, diese Verstöße zu korrigieren. Die Kompetenz hierzu ergibt sich aus der Verpflichtung, dem Grundrechtsträger zu seinen verfassungsmäßigen Rechten zu verhelfen (vgl. BVerfGE aaO, kritisch: Zuck, JZ 1985, 921, 925).
Der Betroffene darf nicht allein auf die subsidiäre Verfassungsbeschwerde, verwiesen werden, wie der Bundesgerichtshof (BGH) meint (vgl. BGH in NJW 1980, 344 f). Das Verfahrensrecht, hier die Vorschrift des § 150 SGG, muß im Hinblick auf die Grundrechte ausgelegt und angewendet werden (vgl. BVerfGE 49, 252, 256). Die willkürliche Nichtzulassung der Berufung verstößt nicht nur gegen Art. 3 GG, sondern auch gegen die Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 GG und gegen das in Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verankerte Recht auf den gesetzlichen Richter (vgl. BVerfGE 40, 272, 274; 41, 23, 26; 42, 237, 241). Zwar gewährleisten weder Art. 101 GG noch Art. 19 Abs. 4 GG einen Instanzenzug; wenn er jedoch gegeben ist, darf der Zugang zur jeweils höheren Instanz nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert oder ausgeschlossen werden. Es bieten sich verschiedene Wege an, wie ein willkürlicher Gesetzesverstoß zu überwinden ist. Man könnte den Übergang der Kompetenz zur Berufungszulassung an das LSG trotz des Schweigens des SGG annehmen oder entgegen der bisherigen Rechtsprechung (vgl. BSG SozR Nr. 112, 149, 175 zu § 162 SGG; SozR Nr. 8, 12, 17, 38, 39, 40 zu § 150 SGG; SozR 1500 § 150 Nr. 1) einen Verfahrensmangel; der Senat neigt jedoch eher dazu, in der willkürlichen Nichtzulassung der Berufung eine elementare Verletzung grundsätzlicher Verfahrensnormen zu sehen, die in entsprechender Anwendung des § 150 Nr. 2 SGG – zumindest auf Rüge hin – die Zulässigkeit der Berufung bewirkt, ähnlich wie die absoluten Gründe in § 551 der Zivilprozeßordnung –ZPO– die Revision begründen oder in § 579 ZPO die Nichtigkeitsklage eröffnen.
Das kann aber hier unentschieden bleiben, denn die Nichtzulassung der Berufung ist schon deshalb nicht willkürlich, weil sie nicht offensichtlich rechtswidrig ist. Das SG hat dargelegt, warum nach seiner Auffassung § 150 Nr. 1 SGG die Zulassung der Berufung im vorliegenden Fall nicht vorschreibt. Es hat begründet, warum die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat, so daß nach seiner Ansicht keine Berufungszulassung ausgesprochen zu werden braucht. Kur die unter keinem Gesichtspunkt vertretbare Nichtzulassung der Berufung stellt einen Verstoß gegen das Willkürverbot dar (vgl. Urteil des BSG vom. 27. Januar 1982 – 9a/9 RV 22/81 – unveröffentlicht; BVerfGE 67, 90, 94; BVerfG in NJW 1984, 2147 f; jeweils mwN). Eine Verletzung des Gleichheitssatzes liegt daher nicht schon dann vor, wenn die Rechtsanwendung oder das eingeschlagene Verfahren Fehler enthalten. Ein Verstoß gegen Art. 3 GG ist erst gegeben, wenn diese Rechtsanwendung bei verständiger Würdigung der das GG beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich ist und sieh der Schluß aufdrängt, daß sie auf sachfremden Erwägungen beruht (BVerfG aaO).
Das SG hat die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache wegen eines allein auf Seiten des Beklagten an der Klärung der Rechtssache vorliegenden Individualinteresses verneint. Richtig ist, daß ein Individualinteresse eines am Rechtsstreit Beteiligten für die grundsätzliche Bedeutung einer Rechtssache nicht ausreicht. Fraglich erscheint jedoch, ob gerade auf Grund der auch vom SG gesehenen großen Zahl anhängiger, gleichgelagerter Klagen die Rechtssache nicht bereits deswegen grundsätzliche Bedeutung erlangt hat, weil ihre Entscheidung über den Einzelfall hinaus dadurch an Bedeutung gewinnt, daß die Einheit und Entwicklung des Rechts gefördert wird oder daß für eine Anzahl ähnlich liegender Fälle eine Klärung erfolgt (vgl. BSG SozR 1500 § 160a Nr. 7). Dennoch kann hier noch nicht festgestellt werden, daß die Nichtzulassung der Berufung durch das SG schlechthin unhaltbar und unter keinen denkbaren Umständen verständlich, also willkürlich ist. Der Willkürbegriff enthält keinen subjektiven Schuldvorwurf, er ist in einem objektiven Sinne zu verstehen (vgl. BVerfGE 42, 64, 73). Eine Rechtsauslegung verstößt nicht schon dann gegen das Willkürverbot, weil eine andere Auslegung möglicherweise dem Gleichheitssatz des Art. 3 GG besser entspräche. Das SG ging von dem Rechtsstandpunkt aus, daß es sich bei der Mitteilung des Versorgungsamtes über die Aufhebung des Merkzeichens „G” um einen Verwaltungsakt handele. Die Frage der Aufhebung eines Verwaltungsaktes, der ohne Anhörung in die Rechte eines Beteiligten eingreift, ist ohne grundsätzliche Bedeutung. Diese Frage ist in § 24 Abs. 1 SGB X ausdrücklich geregelt und höchstrichterlich geklärt. Auch ob der vermeintliche Verwaltungsakt zu denjenigen gehört, die nach § 24 Abs. 2 SGB X ohne Anhörung ergehen dürfen, ist nicht notwendigerweise eine rechtsgrundsätzliche Frage. Der erkennende Senat hat allerdings inzwischen entschieden, daß die gesetzliche Vermutung, nach der alle Schwerbehinderten mit einer MdE von wenigstens 80 vH ohne weitere Prüfung als erheblich bewegungsbehindert zu behandeln waren, zu Lasten all dieser Schwerbehinderten durch Gesetz beendet worden ist; die Mitteilung an die Betroffenen über diese Änderung der Rechtslage stellt entgegen der Auffassung des SG keinen Verwaltungsakt dar, der in die Rechte der Betroffenen eingreift (vgl. BSG SozR 3870 § 58 Nr. 1), Gleichwohl ist die Nichtzulassung nicht willkürlich. Denn die Nichtzulassung der Berufung beruht letztlich nicht auf einer unrichtigen rechtlichen Beurteilung, die nicht nachvollziehbar oder nicht verständlich ist.
Der Beklagte kann sich auch nicht darauf berufen, daß die ihm vom SG gewährte Einlassungsfrist zu kurz gewesen sei und damit ein Verstoß gegen seinen Anspruch auf rechtliches Gehör vorliege, der einen Verfahrensmangel begründe (§ 150 Nr. 2 SGG). Insoweit reicht es aus, daß das Gericht den Beteiligten von Amts wegen die Möglichkeit gibt, sich zu äußern. Allein mit der Gelegenheit, dies im Rahmen der mündlichen Verhandlung zu tun, wird dem Erfordernis des rechtlichen Gehörs in der Regel genüge getan. Darauf, daß vor der mündlichen Verhandlung das Versorgungsamt und nicht der Vertreter des Beklagten zum Klageverfahren schriftlich Stellung genommen hat, kommt es somit nicht an. Hätte sich der Beklagte aber in seinem Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt gefühlt, hätte ihm in der mündlichen Verhandlung zumindest die Möglichkeit offengestanden, einen Antrag auf Vertagung des Rechtsstreites zu stellen. Von dieser Möglichkeit hat er gerade keinen Gebrauch gemacht.
Das LSG hat somit die Berufung des Beklagten zu Recht als unzulässig verworfen. Die Revision des Beklagten war deshalb zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen