Entscheidungsstichwort (Thema)
Mitverursachung. Leistungsausschließungsgrund. abgekürztes Strafurteil. Strafverfahren. strafrechtliche Ermittlungen. Verwertbarkeit. Strafakten
Leitsatz (amtlich)
Die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit haben bei der Entscheidung über Versorgungsansprüche von Gewaltopfern zusätzliche Ermittlungen anzustellen, wenn sich der entschädigungsrechtlich bedeutsame Sachverhalt aus den Feststellungen des Strafurteils gegen den Gewalttäter nicht vollständig ergibt. Das kann insbesondere bei abgekürzten Strafurteilen der Fall sein.
Normenkette
OEG § 2 Abs. 1 S. 1; StPO § 267 Abs. 4; SGG § 103
Verfahrensgang
LSG Niedersachsen (Urteil vom 19.04.1994; Aktenzeichen L 8 Vg 6/93) |
SG Hildesheim (Urteil vom 13.10.1993; Aktenzeichen S 7 Vg 19/89) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 19. April 1994 aufgehoben.
Die Rechtssache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Der Kläger erlitt Kopfverletzungen mit schweren Dauerfolgen, als er in der Nacht zum 24. Oktober 1987 von M.… W.… (W.) einen Stoß mit dem Kopf und anschließend eine Ohrfeige erhielt und dadurch der Länge nach zu Boden fiel. W.… wurde vom Jugendschöffengericht wegen gefährlicher Körperverletzung nach §§ 223a Abs 1, 223 Strafgesetzbuch (StGB) und wegen weiterer Straftaten zu einer Jugendgesamtstrafe von 2 1/2 Jahren verurteilt.
Der Beklagte lehnte die beantragte Versorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) ab. Der Kläger sei zwar durch einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff iS des § 1 Abs 1 Satz 1 OEG geschädigt worden. Leistungen seien aber ausgeschlossen, weil er die Schädigung mitverursacht habe (§ 2 Abs 1 Satz 1 1. Alternative OEG). Im Strafverfahren sei festgestellt worden, daß der Kläger W.… in dem von beiden besuchten Lokal vor der Tat fortgesetzt belästigt habe. Es ergebe sich kein Anhalt, daß der Kläger anschließend am Tatort vor dem Lokal das Nötige getan habe, um die Schlägerei abzuwenden (Bescheid vom 17. November 1988; Widerspruchsbescheid vom 20. Februar 1989).
Klage und Berufung hatten keinen Erfolg (Urteile des Sozialgerichts vom 13. Oktober 1993 und des Landessozialgerichts ≪LSG≫ vom 19. April 1994). Das LSG hat ausgeführt, der Kläger trage nach den im OEG-Recht zugrundezulegenden Tatsachenfeststellungen des Jugendschöffengerichts für die Auseinandersetzung mit W.… einschließlich des für ihn ungünstigen Endes auf der Straße eine gleichwertige Mitverantwortung, so daß Leistungen ausgeschlossen seien.
Der Kläger macht mit seiner – vom Senat zugelassenen – Revision ua geltend, das LSG habe sich verfahrensfehlerhaft allein auf das nach § 267 Abs 4 Strafprozeßordnung (StPO) abgekürzte Strafurteil gestützt. Es hätte eigene Ermittlungen anstellen, insbesondere den Gastwirt H.… als Zeugen zu der Behauptung vernehmen müssen, daß der Streit bereits beendet gewesen sei, als der Täter ihn, den Kläger, angegriffen habe.
Der Kläger beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 19. April 1994 und des Sozialgerichts Hildesheim vom 13. Oktober 1993 sowie den Bescheid des Beklagten vom 17. November 1988 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. Februar 1989 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, dem Kläger Beschädigtenversorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen,
hilfsweise,
den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫)
Entscheidungsgründe
II
Die Revision des Klägers ist iS der Zurückverweisung begründet. Das LSG hat zwar zu Recht angenommen, daß der Kläger infolge eines vorsätzlichen rechtswidrigen tätlichen Angriffs eine gesundheitliche Schädigung erlitten und deshalb grundsätzlich Anspruch auf Versorgung nach dem OEG in entsprechender Anwendung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) hat. Ob dieser Anspruch aber – wie das LSG weiter angenommen hat – zu versagen ist, weil der Kläger seine Schädigung (mit-)verursacht hat, läßt sich nach den Feststellungen des angefochtenen Berufungsurteils abschließend nicht entscheiden.
Der Kläger wirft dem LSG vor, es habe den Sachverhalt von Amts wegen nicht ausreichend erforscht (§ 103 SGG), weil es – anders als vom Kläger verlangt – den Gastwirt H.… nicht als Zeugen zu den Vorgängen vor dessen Lokal vernommen habe. Der Vorwurf des Klägers trifft zu, obwohl dieser Zeuge bereits im Ermittlungs- und im Strafverfahren gehört worden war. Das LSG durfte sich bei der Ermittlung des Sachverhalts nicht darauf beschränken, die vom Jugendschöffengericht im Strafurteil getroffenen Feststellungen zu übernehmen und die beigezogenen Strafakten auszuwerten (vgl zur Verwertbarkeit strafrechtlicher Ermittlungsergebnisse im sozialgerichtlichen Verfahren BSGE 50, 95, 97 = SozR 3800 § 2 Nr 2; BSGE 63, 270, 273 = SozR 1500 § 128 Nr 34; SozR 1500 § 128 Nr 40; SozR 3800 § 2 Nr 4; BSG, Urteil vom 10. November 1993 – 9 RVg 2/93 – Die Leistungen 1995, 44). Es mußte sich gedrängt füblen, den Zeugen H.… im sozialgerichtlichen Verfahren nochmals zu den Vorgängen vor dem Lokal zu vernehmen.
Darauf hat das LSG verzichtet, weil der Zeuge die Vorgänge vor dem Lokal im Strafverfahren zeitnah geschildert habe, so daß eine erneute Vernehmung sechs Jahre nach der Tat keine neuen Erkenntnisse verspreche. Das träfe nur zu, wenn die Gesichtspunkte übereinstimmten, unter denen der Sachverhalt strafrechtlich und entschädigungsrechtlich zu ermitteln ist, und wenn das Strafurteil Feststellungen zu den entschädigungsrechtlich bedeutsamen Gesichtspunkten enthielte. Das ist nicht der Fall. Das Jugendschöffengericht konnte sich auf die Feststellung beschränken, daß der Kläger vor dem Lokal keinerlei Anstalten gemacht hatte, gegenüber dem Täter handgreiflich zu werden, bevor dieser ihm einen Kopfstoß und unmittelbar danach eine Ohrfeige versetzte. Bereits daraus ergab sich eine die Körperverletzung als gefährlich iS des § 223a Abs 1 StGB qualifizierende, weil das Leben des Opfers gefährdende, Behandlung (vgl Hirsch in Leipziger Kommentar, 10. Aufl 1989, § 223a Rz 22). Ob daneben auch der weitere Qualifikationsgrund eines, hinterlistigen Oberfalls vorgelegen hat, etwa weil der Täter mit Vorbedacht und unter Verdeckung seiner wahren Absicht angegriffen hat, nachdem der Streit beigelegt war, brauchte das Strafgericht nicht zu untersuchen (vgl zur Konkurrenz mehrerer Tatbestandsalternativen BGHR § 223a StGB “Konkurrenzen” Nr 4). In dem nach § 267 Abs 4 StPO abgekürzten Strafurteil waren durch das Jugendschöffengericht auch nicht die Umstände anzuführen, die für die Zumessung der Strafe bestimmend gewesen sind (§ 267 Abs 3 Satz 1 StPO). Aus dem Urteil ergibt sich deshalb nicht, ob und ggf aufgrund welcher Umstände das Jugendschöffengericht etwa zugunsten des Täters eine Provokation durch das Opfer angenommen hat oder ob es zu Lasten des Täters von einem hinterlistigen Überfall ausgegangen ist. Hierauf kam es aber entschädigungsrechtlich für den Leistungsausschluß nach § 2 Abs 1 Satz 1 1. Alternative OEG entscheidend an. Der tätliche Angriff des W.… vor dem Lokal und das provozierende Verhalten des Klägers in der Gastwirtschaft lassen sich allenfalls dann als gleichgewichtige Ursachen der eingetretenen Schädigung bewerten, wenn die Auseinandersetzung zwischen Täter und Opfer trotz Vermittlung des Wirtes H.… nicht beendet war, bevor es zu der entscheidenden Verletzungshandlung kam. Denn ein plötzlicher Angriff erst nach Beendigung eines bis dahin verhältnismäßig harmlos verlaufenden Zwistes wäre als selbständige, überragende Ursache der Schädigung zu werten (vgl BSGE 50, 95, 96 f = SozR 3800 § 2 Nr 2). So hat sich aber das Geschehen nach der Behauptung des Klägers abgespielt. Das LSG hätte deshalb die Ermittlungen nachholen müssen, die im Strafverfahren unterbleiben konnten und unterblieben waren. Insbesondere wäre aufzuklären gewesen, ob der Streit beigelegt war, als der Angriff des Täters erfolgte. In diesem Zusammenhang hätte das LSG den Zeugen H.… dazu vernehmen müssen, wie er den Streit zu schlichten versucht hat, wie der Kläger und wie der Täter darauf reagiert haben und aufgrund welcher Umstände der Zeuge angenommen hat, der Streit sei beigelegt.
Sollte die Frage einer dem Angriff des W.… vorangegangenen Streitbeilegung auch nach den vom LSG noch anzustellenden Ermittlungen offenbleiben, so wird zu beachten sein, daß die Beweislast für eine wesentliche Mitwirkung des Klägers an seiner Schädigung den Versorgungsträger trifft (BSG SozR 3-3800 § 2 Nr 4).
Das LSG wird auch über die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen
Haufe-Index 955697 |
Breith. 1997, 720 |