Orientierungssatz
Zur Frage des Wiederauflebens der Witwenrente nach Auflösung einer dritten Ehe.
Normenkette
RVO § 1291 Abs. 2 S. 1 Hs. 1 Fassung: 1972-10-16
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 22.04.1975; Aktenzeichen L 13 J 27/75) |
SG Dortmund (Entscheidung vom 10.12.1974; Aktenzeichen S 13 J 121/74) |
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 22. April 1975 wird als unbegründet zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die im Jahre 1925 geborene Klägerin heiratete im Jahr 1950 den Straßenbahnwagenführer G Blaue, der bei der Beklagten in der Rentenversicherung der Arbeiter versichert war. B starb im Jahr 1957. Die Klägerin bezog darauf von der Beklagten Witwenrente. Diese endete, als die Klägerin im Jahr 1961 eine zweite Ehe einging; die Klägerin erhielt jedoch von der Beklagten die Witwenrentenabfindung (§ 1302 der Reichsversicherungsordnung - RVO -). Die zweite Ehe wurde im Jahr 1962 geschieden. Eine wiederaufgelebte Witwenrente (§ 1291 RVO) wurde weder von der Klägerin beantragt noch von der Beklagten gewährt. Im Jahr 1969 ging die Klägerin eine dritte Ehe ein. Diese Ehe wurde im Jahr 1974 aus dem Verschulden des Mannes geschieden. Im gleichen Jahr beantragte die Klägerin die Gewährung der Witwenrente aus der Versicherung B. Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 5. August 1974 den Antrag ab, weil der Schutz aus der Versicherung des ersten Ehemannes in dem Zeitpunkt geendet habe, in dem die dritte Ehe eingegangen worden sei.
Die Klage ist vor dem Sozialgericht (SG) Dortmund (Urteil vom 10. Dezember 1974) und dem Berufungsgericht (Urteil vom 22. April 1975) erfolglos geblieben. In den Entscheidungsgründen des Berufungsgerichts ist ua ausgeführt: Die Klägerin habe die dritte Ehe nicht als Witwe des ersten, sondern als geschiedene Frau des zweiten Ehemannes geschlossen. Insoweit schließe sich das Gericht dem Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 21. Januar 1971 (SozR Nr 30 zu § 1291 RVO) an. Die vom BSG vorgenommene Auslegung sei verfassungsgemäß, da einerseits das Wiederaufleben der Witwenrente nur den auf Dauer ausgerichteten Ehen zugute kommen solle und andererseits die Interessen der Versichertengemeinschaft zu berücksichtigen seien. Daß die Klägerin nach Scheidung der zweiten Ehe das Wiederaufleben der Witwenrente nicht beantragt habe, sei in diesem Zusammenhang ohne Bedeutung.
Mit der vom BSG zugelassenen Revision trägt die Klägerin vor: Sie habe die Eigenschaft als Witwe des ersten Ehemannes durch die beiden weiteren Heiraten nicht verloren. Sinn und Zweck des § 1291 Abs 2 RVO (insbesondere Verhinderung von "Onkelehen" mit deren Auswirkungen auf die aus ihnen hervorgehenden Kinder) verlangten das Wiederaufleben der Witwenrente auch nach Auflösung der dritten Ehe. Sie, die Klägerin, habe durch die Haushaltsführung pflichtgemäß ihren Beitrag zum Unterhalt des ersten Ehemannes und der ganzen Familie geleistet und damit dem Mann erst ermöglicht, Beiträge zur Rentenversicherung zu zahlen. Es sei nicht richtig, daß das Wiederaufleben der Witwenrente nur den auf Dauer angelegten Ehen zugute kommen solle, zumal Kriterien dafür fehlten, wann eine Ehe als auf Dauer angelegt anzusehen sei. Zwar werde die Versichertengemeinschaft durch das Wiederaufleben belastet, das sei aber nicht inadäquat; auch könne durch die Aussicht auf ein Wiederaufleben der Witwenrente die Frau stärker zur Eingehung einer weiteren Ehe veranlaßt werden, was dann wieder die Versichertengemeinschaft entlaste. Schließlich verstoße die vom Berufungsgericht vorgenommene Auslegung gegen das Grundgesetz (GG).
Die Klägerin beantragt,
die Urteile der Vorinstanzen sowie den Bescheid der Beklagten vom 5. August 1974 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr für die Zeit vom 1. April 1974 an Witwenrente aus der Versicherung ihres ersten Ehemannes zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision der Klägerin als unbegründet zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich damit einverstanden erklärt, daß der Senat ohne mündliche Verhandlung entscheidet.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Klägerin ist nicht begründet. Der angefochtene Bescheid ist, wie die Vorinstanzen zutreffend entschieden haben, rechtmäßig. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf die - wiederaufgelebte - Witwenrente aus der Versicherung des ersten Ehemannes.
§ 1291 Abs 2 Satz 1 Halbsatz 1 RVO in der am 1. Januar 1973 in Kraft getretenen Fassung des Rentenreformgesetzes (RRG) vom 16. Oktober 1972 (BGBl I 1965) bestimmt:
Hat eine Witwe ... sich wieder verheiratet und wird diese Ehe aufgelöst ..., so lebt der Anspruch auf Witwenrente vom Ablauf des Monats, in dem die Ehe aufgelöst ... ist, wieder auf, wenn der Antrag spätestens zwölf Monate nach der Auflösung ... der Ehe gestellt ist.
Vorher hatte die Vorschrift zwischen "Ehe" und "aufgelöst" noch die Worte enthalten: "ohne alleiniges oder überwiegendes Verschulden der Witwe ...". Nach Art 2 § 26 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) gilt sie nur, wenn die neue Ehe, was hier für die zweite und die dritte Ehe der Klägerin zutrifft, nach dem 31. Dezember 1956 aufgelöst oder für nichtig erklärt ist.
§ 1291 Abs 2 Satz 1 RVO ist nach der ständigen Rechtsprechung des BSG so auszulegen, daß die Witwenrente aus der Versicherung des ersten Ehemannes nach Auflösung einer dritten Ehe nicht wieder auflebt.
Nachdem das BSG zunächst für die Kriegsopferversorgung entschieden hatte, daß mit der Eingehung einer dritten Ehe die "Versorgungskette" endet (vgl BSGE 21, 35 mwN), hat es auch für die Rentenversicherung einen Anspruch auf Witwenrentenabfindung bei Eingehung der dritten Ehe verneint und dies ua damit begründet, daß eine Frau die dritte Ehe nicht als Witwe des ersten Ehemannes schließe (BSGE 23, 124, 125). Im Anschluß daran hat der erkennende Senat entschieden, daß die Witwenrente aus der Versicherung des ersten Ehemannes nach Auflösung einer dritten Ehe nicht wieder auflebt (SozR Nr 30 zu § 1291 RVO). Nachdem ein Teil des Schrifttums gegen diese Auffassung Bedenken erhoben hatte (vgl vor allem Söchting, SozVers 1971, 63, 66), hat der 12. Senat des BSG dem Großen Senat die Fragen vorgelegt, ob einer Witwe die Abfindung des Rentenanspruchs nur bei der ersten Wiederheirat oder auch bei jeder folgenden Eheschließung zu gewähren sei und ob eine Witwenrente nur bei Auflösung der zweiten Ehe oder auch bei Auflösung der dritten und jeder weiteren Ehe wieder auflebe. Der Große Senat des BSG hat in dem - zur Veröffentlichung vorgesehenen - Beschluß vom 21. Juli 1977 - GS 1/76 und 2/76 - die zweite Frage, weil für die Ausgangsverfahren unerheblich, unbeantwortet gelassen und die erste Frage dahin beantwortet, daß einer Witwe die Abfindung des Rentenanspruchs nur bei der ersten Wiederheirat zu gewähren ist. In den Gründen des Beschlusses ist ua ausgeführt: Da eine Witwenrentnerin, die sich nicht wiederverheirate, sondern ihr weiteres Leben in eheähnlichen Partnerschaften verbringe, ihre wirtschaftliche Sicherung aus der ersten Ehe nicht einbüße, erscheine es zwar auf den ersten Blick als ein Gebot der Gerechtigkeit, daß auch der mehrmals wiederheiratenden Witwe eine großzügige Bewilligung ihrer aus der ersten Ehe stammenden Sicherungsansprüche zuteil werde. Auch sei die Meinung vertreten worden, das Rentenversicherungsverhältnis des verstorbenen ersten Ehemannes sei so stark, daß es für die Reichweite der wirtschaftlichen Sicherung seiner Witwe unerheblich sei, wieviele weitere Ehen dieser Frau später aufgelöst würden. Diesen Erwägungen stünden jedoch Bedenken gegenüber. So könnte eine unbegrenzte Fortsetzung der vom ersten Ehemann abgeleiteten "Versorgungskette" den nicht unbedenklichen Effekt verstärken, daß eine während der zweiten Ehe in wirtschaftliche Schwierigkeiten geratene Frau als Ausweg die Scheidung suche, um danach in der wiederaufgelebten Witwenrente eine neue wirtschaftliche Grundlage zu finden. Bei dritten und weiteren Ehen von Witwenrentnerinnen handele es sich im übrigen nicht mehr um eine Massenerscheinung, die den Gesetzgeber seinerzeit zur Einführung der Wiederauflebensmöglichkeit bewogen habe, sondern um individuelle Schicksale, auf die das Gesetz nicht zwingend zu übertragen sei. Schließlich verlören mit jeder Wiederheirat die inneren Bindungen wie auch die wirtschaftlichen und unterhaltsmäßigen Beziehungen zum verstorbenen ersten Ehemann an Intensität. Durch die Bereitstellung von Heiratsabfindung und Wiederaufleben übernähmen die rentenzahlenden Versicherungsträger keine Garantenstellung, aufgrund deren sie der wiederheiratenden Witwe gegenüber verpflichtet sein könnten, ihr auf Lebenszeit beim Scheitern beliebig vieler späteren Ehen den Unterhaltsstatus zu gewährleisten, den die originäre Witwenrente zunächst geboten habe.
Was der Große Senat insoweit zu Sinn und Zweck der Witwenrentenabfindung ausgeführt hat, gilt nach Ansicht des erkennenden Senats in gleicher Weise für das Wiederaufleben der Witwenrente. Beide Sozialleistungen sind zwar in verschiedenen Vorschriften der RVO geregelt, haben aber im wesentlichen das gleiche sozialpolitische Ziel. Im übrigen ist die Abfindung einer Witwenrente (bei Eingehung einer neuen Ehe) gegenüber ihrem Wiederaufleben (bei Auflösung der neuen Ehe) die zeitlich und logisch frühere Leistung, so daß eine Frau, die schon keine Witwenrentenabfindung erhält, erst recht nicht das Wiederaufleben der Witwenrente verlangen kann.
Auch die - von der Klägerin aufgeworfene - Frage nach der Verfassungsmäßigkeit des § 1291 Abs 2 RVO, wie er in der Rechtsprechung des BSG ausgelegt worden ist, wird vom Senat in Übereinstimmung mit dem Großen Senat bejaht.
Das Recht der Witwenrentnerin auf freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit (Art 2 Abs 1 GG) wird nicht verletzt, wenn ihr die Witwenrentenabfindung und ein Wiederaufleben der Witwenrente nur einmal zugebilligt werden. Eine Frau hat kein vom GG geschütztes Recht darauf, daß der Versicherungsschutz nach dem ersten Ehemann über mehr als eine weitere Ehe hinweg aufrechterhalten wird.
Ähnliches gilt für den Grundsatz der Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz (Art 3 Abs 1 GG). Zwischen der Frau, die als Witwe des ersten Mannes eine zweite Ehe eingeht, und derjenigen, die als Witwe oder geschiedene Frau des zweiten Mannes eine dritte Ehe eingeht, besteht im Verhältnis zum ersten Mann ein wesentlicher, auch in der Volksanschauung begründeter Unterschied, der eine verschiedene rechtliche Behandlung zuläßt. Der Beschluß des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 12. November 1974 (BVerfGE 38, 187 = NJW 75, 341), auf den sich die Klägerin beruft, betrifft einen anderen Sachverhalt.
Auch mit dem Schutz von Ehe und Familie (Art 6 Abs 1 GG) ist die vom Senat vorgenommene Auslegung des § 1291 Abs 2 RVO ebenfalls vereinbar. Diese Auslegung erschwert zwar das Zustandekommen einer dritten Ehe, schützt mittelbar aber die zweite Ehe, weil die Frau kein durch die Aussicht auf das Wiederaufleben der Witwenrente begründetes wirtschaftliches Interesse an einer Scheidung hat. Eine Regelung, die - wie zB auch das Scheidungsrecht - die bestehende Ehe begünstigt und die angestrebte weitere Ehe erschwert, kann nicht als ehefeindlich angesehen werden. Umgekehrt muß eine Regelung, die die Voraussetzungen für das Wiederaufleben einer Witwen- oder Witwerrente erleichtert, insbesondere den Kreis der möglichen Wiederauflebensfälle - über die Auflösung der zweiten Ehe hinaus - erweitert, nicht notwendig ehefreundlicher sein. Wie sie einerseits dem Berechtigten den Entschluß erleichtern mag, eine neue Ehe einzugehen und damit die wirtschaftliche Sicherung aus der bisher bezogenen Rente aufzugeben, so kann sie andererseits bei ihm die Neigung verstärken, sich, wenn in der Ehe Schwierigkeiten auftreten, wieder von ihr zu lösen und in die wiederaufgelebte Rente zu "flüchten".
Schließlich verstößt die Entscheidung des Senats nicht gegen das Sozialstaatsgebot (Art 20 Abs 1 GG). Auch insoweit wird auf die Begründung des Beschlusses des Großen Senats vom 21. Juli 1977 Bezug genommen.
Die Revision der Klägerin war deshalb als unbegründet zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen