Entscheidungsstichwort (Thema)

Wiederaufleben des Anspruchs auf Witwenrente

 

Orientierungssatz

Nach Auflösung der 3. Ehe besteht kein Anspruch auf eine nach dem Tod des 1. Ehemannes wiederaufgelebte Witwenrente (Anschluß an BSG 1977-07-21 GS 1/76 = SGb 1978, 28). Diese Auslegung des RVO § 1291 Abs 2 verstößt nicht gegen GG Art 2 Abs 1, Art 3 Abs 1 und Art 6 Abs 1.

 

Normenkette

RVO § 1291 Abs. 2 S. 1 Hs. 1 Fassung: 1972-10-16; GG Art. 2 Abs. 1 Fassung: 1949-05-23, Art. 3 Abs. 1 Fassung: 1949-05-23, Art. 6 Abs. 1 Fassung: 1949-05-23

 

Verfahrensgang

LSG Berlin (Entscheidung vom 25.05.1977; Aktenzeichen L 6 J 59/75)

SG Berlin (Entscheidung vom 14.02.1975; Aktenzeichen S 23 J 2749/74)

 

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 25. Mai 1977 wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Umstritten ist, ob die Klägerin einen Anspruch auf wiederaufgelebte Witwenrente nach ihrem früheren Ehemann hat.

Die Klägerin bezog nach dem Tode des Versicherten von der W. Witwenrente. Als sie 1964 Josef W. heiratete, wurde ihr eine Witwenrentenabfindung ausgezahlt, nach der Scheidung dieser Ehe im Jahre 1969 jedoch wieder die Witwenrente gewährt. 1971 heiratete die Klägerin Wolfgang L. Nachdem auch diese Ehe 1972 (aus der Schuld des Ehemannes) geschieden worden war, beantragte die Klägerin im Mai 1973 erneut die "wiederaufgelebte" Witwenrente nach von der W. Die Beklagte lehnte den Antrag ab: Der Anspruch auf Witwenrente aus der Versicherung des ersten Ehemannes könne nach Auflösung einer dritten Ehe nicht wiederaufleben, ohne daß es darauf ankomme, ob nach Auflösung der zweiten Ehe die wiederaufgelebte Witwenrente gezahlt worden sei oder nicht (Bescheid vom 18. Oktober 1974).

Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen, das Landessozialgericht (LSG) die Berufung zurückgewiesen und im Urteil vom 25. Mai 1977 ausgeführt: Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) könne nach Lösung der dritten Ehe die Witwenrente nicht wiederaufleben, weil der Status einer Witwe nach dem ersten Ehemann durch die zweite Ehe wegfalle. Der Schutz aus der Versicherung des ersten Ehemannes ende mit der dritten Heirat.

Die Klägerin hat die - vom LSG zugelassene - Revision eingelegt. Sie meint, der Wortlaut des § 1291 Abs 2 Satz 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) und der Begriff "Witwe" ließen das Wiederaufleben des Witwenrentenanspruchs auch nach Auflösung der dritten Ehe zu. Im übrigen gebiete die verfassungskonforme Auslegung, der Bezieherin der Witwenrente eine von finanziellen Erwägungen unabhängige Entscheidung über die Wiederheirat zu ermöglichen. Das angefochtene Urteil stehe dem Zweck des Gesetzes, sog. Onkelehen zu verhindern, entgegen.

Die Klägerin beantragt,

die Urteile des Landessozialgerichts Berlin vom 25. Mai 1977 und des Sozialgerichts Berlin vom 14. Februar 1975 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, ihr für die Zeit seit Juni 1973 Witwenrente nach dem Versicherten von der W. zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG -).

 

Entscheidungsgründe

Die zugelassene Revision ist unbegründet. Der Klägerin steht kein Anspruch auf Witwenrente nach dem Versicherten von der W. zu.

Maßgebend ist § 1291 Abs 2 Satz 1 RVO in der am 1. Januar 1973 in Kraft getretenen Fassung des Rentenreformgesetzes vom 16. Oktober 1972 (BGBl I 1965). Danach lebt der Anspruch auf Witwenrente wieder auf, wenn sich eine Witwe wieder verheiratet hat und diese Ehe aufgelöst wird. Die Vorschrift ist nach ständiger Rechtsprechung des BSG in dem Sinne auszulegen, daß der Anspruch auf Witwenrente nur nach Auflösung einer zweiten - nicht dritten oder weiteren - Ehe wiederauflebt. Das hat der erkennende Senat mit Urteil vom 21. Januar 1971 (SozR Nr 30 zu § 1291 RVO) ausgesprochen, nachdem für den Fall der insoweit vergleichbaren Witwenrentenabfindung (vgl § 1302 Abs 1 RVO, § 81 Abs 1 Angestelltenversicherungsgesetz - AVG -, § 83 Abs 2 Reichsknappschaftsgesetz - RKG -) bereits entschieden worden war, die Abfindung des Rentenanspruchs sei einer Witwe nur bei der ersten Wiederheirat zu gewähren (BSGE 23, 124; SozR Nr 2 zu § 83 RKG). Diese Rechtsprechung hat der Große Senat des BSG in dem - zur Veröffentlichung vorgesehenen - Beschluß vom 21. Juli 1977 - GS 1 und 2/76 - bestätigt und sinngemäß im wesentlichen ausgeführt:

Nach natürlichem Sprachgebrauch, dem auch das Personenstandsrecht folge, sei eine Ehefrau nach dem Tode ihres Mannes nur solange Witwe, als sie nicht wieder geheiratet habe. Da eine Witwenrentnerin, die sich nicht wiederverheirate, sondern ihr weiteres Leben in eheähnlichen Partnerschaften verbringe, ihre wirtschaftliche Sicherung aus der ersten Ehe nicht einbüße, erscheine es zwar auf den ersten Blick als ein Gebot der Gerechtigkeit, daß auch der mehrmals wiederheiratenden Witwe eine großzügige Bewilligung der aus der ersten Ehe stammenden Sicherungsansprüche zuteil werde. Auch sei die Meinung vertreten worden, das Rentenversicherungsverhältnis des verstorbenen ersten Ehemannes sei so stark, daß es für die Reichweite der wirtschaftlichen Sicherung seiner Witwe unerheblich sei, wieviele weitere Ehen dieser Frau später aufgelöst würden. Diesen Erwägungen stünden jedoch Bedenken gegenüber. So könnte eine unbegrenzte Fortsetzung der vom ersten Ehemann abgeleiteten "Versorgungskette" den nicht unbedenklichen Effekt verstärken, daß eine während der zweiten Ehe in wirtschaftliche Schwierigkeiten geratene Frau als Ausweg die Scheidung suche, um danach in der wiederaufgelebten Witwenrente eine neue wirtschaftliche Grundlage zu finden. Gegen eine Fortsetzung der Versorgungskette spreche auch, daß bei Eingehen einer dritten Ehe ein gegen den zweiten Ehemann bestehender Unterhaltsanspruch erlösche (§ 67 Ehegesetz - EheG -). Bei dritten und weiteren Ehen von Witwenrentnerinnen handele es sich im übrigen nicht mehr um eine Massenerscheinung, die den Gesetzgeber seinerzeit zur Einführung der Wiederauflebensmöglichkeit bewogen habe, sondern um individuelle Schicksale, auf die das Gesetz nicht zwingend zu übertragen sei. Schließlich verlören mit jeder Wiederheirat die inneren Bindungen wie auch die wirtschaftlichen und unterhaltsmäßigen Beziehungen zum verstorbenen ersten Ehemann an Intensität. Durch die Bereitstellung von Heiratsabfindung und Wiederaufleben übernähmen die rentenzahlenden Versicherungsträger keine Garantenstellung, aufgrund deren sie der wiederheiratenden Witwe gegenüber verpflichtet sein könnten, ihr auf Lebenszeit beim Scheitern beliebig vieler späteren Ehen den Unterhaltsstatus zu gewährleisten, den die originäre Witwenrente zunächst geboten habe.

Was der Große Senat insoweit zum Sinn und Zweck der Witwenrentenabfindung ausgeführt hat, gilt mit mindestens ebenso großer Berechtigung für das Wiederaufleben der Witwenrente (vgl die inzwischen ergangenen Urteile des 1. Senats - 1 RA 17/76 - vom 18. Januar 1978 und des erkennenden Senats - 4/12 RJ 164/75 - vom 19. Januar 1978). Beide Sozialleistungen sind zwar in verschiedenen Vorschriften der RVO geregelt, haben aber im wesentlichen das gleiche sozialpolitische Ziel. Dabei ist die Abfindung einer Witwenrente (bei Eingehung einer neuen Ehe) gegenüber deren Wiederaufleben (bei Auflösung der neuen Ehe) die zeitlich und logisch frühere Leistung, so daß eine Frau, die schon keine Witwenrentenabfindung erhält, erst recht nicht das Wiederaufleben der Witwenrente verlangen kann.

Entgegen der Ansicht der Klägerin ist die Auslegung des § 1291 Abs 2 RVO durch die Rechtsprechung des BSG verfassungskonform.

Das Recht der Witwenrentnerin auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art 2 Abs 1 Grundgesetz - GG -) wird nicht verletzt, wenn die Witwenrentenabfindung und ein Wiederaufleben der Witwenrente nur einmal zugebilligt werden. Eine Frau hat kein vom GG geschütztes Recht darauf, daß der Versicherungsschutz nach dem ersten Ehemann über mehr als eine weitere Ehe hinweg aufrechterhalten wird.

Ähnliches gilt für den Grundsatz der Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz (Art 3 Abs 1 GG). Zwischen der Frau, die als Witwe des ersten Mannes eine zweite Ehe eingeht, und derjenigen, die als Witwe oder geschiedene Frau des zweiten Mannes eine dritte Ehe eingeht, besteht im Verhältnis zum ersten Mann ein wesentlicher, auch in der Volksanschauung begründeter Unterschied, der eine verschiedene rechtliche Behandlung zuläßt.

Mit dem Schutz von Ehe und Familie (Art 6 Abs 1 GG) ist die vom Senat vorgenommene Auslegung des § 1291 Abs 2 RVO ebenfalls vereinbar. Diese Auslegung erschwert zwar das Zustandekommen einer dritten Ehe, schützt mittelbar aber die zweite Ehe, weil die Frau kein durch die Aussicht auf das Wiederaufleben der Witwenrente begründetes wirtschaftliches Interesse an einer Scheidung hat. Eine Regelung, die - wie zB auch das Scheidungsrecht - die bestehende Ehe begünstigt und die angestrebte weitere Ehe erschwert, kann nicht als ehefeindlich angesehen werden. Umgekehrt muß eine Regelung, die die Voraussetzungen für das Wiederaufleben einer Witwen- oder Witwerrente erleichtert, insbesondere den Kreis der möglichen Wiederauflebensfälle - über die Auflösung der zweiten Ehe hinaus - erweitert, nicht notwendig ehefreundlicher sein. Wie sie einerseits dem Berechtigten den Entschluß erleichtern mag, eine neue Ehe einzugehen und damit die wirtschaftliche Sicherung aus der bisher bezogenen Rente aufzugeben, so kann sie andererseits bei ihm die Neigung verstärken, sich, wenn in der Ehe Schwierigkeiten auftreten, wieder von ihr zu lösen und in die wiederaufgelebte Rente zu "flüchten" (Urteil des Senats - 4/12 RJ 164/75 - vom 19. Januar 1978).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1651503

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