Leitsatz (amtlich)
1. Bei der Beurteilung der Erwerbs- oder Berufsunfähigkeit sind die Tätigkeiten, die dem Versicherten nach seinen Kräften und Fähigkeiten und beruflich zumutbar sind, grundsätzlich konkret zu prüfen und zu benennen;
das gilt nicht, wenn es im Einzelfall, insbesondere bei allgemeiner Beschränkung auf leichtere Arbeiten, offensichtlich ist, daß es für den Versicherten entsprechende Tätigkeiten gibt.
2. Eine konkrete Benennung geeigneter Tätigkeiten ist jedenfalls dann nicht entbehrlich, wenn bei dem Versicherten besondere Umstände vorliegen, die die Ausübung von Tätigkeiten zusätzlich erschweren (zB spezifische gesundheitliche oder berufliche Einschränkungen).
3. Ob für die Tätigkeiten Arbeitsplätze in ausreichendem Umfang vorhanden sind, braucht bei einer Vollzeitarbeitskraft in der Regel nicht geprüft zu werden (Anschluß an BSG 1977-05-27 5 RJ 28/76 = SozR 2200 § 1246 Nr 19 und BSG 1977-09-21 4 RJ 131/76).
Normenkette
RVO § 1246 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1957-02-23, § 1247 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23
Verfahrensgang
LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 19.11.1976; Aktenzeichen L 6 J 74/76) |
SG Koblenz (Entscheidung vom 14.01.1976; Aktenzeichen S 12 J 121/73) |
Tenor
Das Urteil des Landessozialgericht Rheinland-Pfalz vom 19. November 1976 wird aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird an das Landessozialgericht Rheinland-Pfalz zurückverwiesen.
Tatbestand
Der im Jahr 1917 geborene Kläger verrichtete ungelernte, allenfalls kurzfristig angelernte Beschäftigungen in der Landwirtschaft, als Holzarbeiter und im Tonbergbau. Er war von 1970 bis Februar 1974 erwerbsunfähig. Seitdem ist er zwar wegen gesundheitlicher Einschränkungen nicht voll leistungsfähig, kann aber leichte Arbeiten des allgemeinen Arbeitsfeldes vollschichtig verrichten, wenn sie vorwiegend im Sitzen mit gelegentlichem Stehen in geschlossenen, temperierten Räumen zu erbringen sind und dabei das Besteigen von Leitern und Gerüsten, Arbeiten in gebückter Haltung sowie das Heben und Tragen schwerer Lasten vermieden werden.
Die Beklagte lehnte eine Rentengewährung ab (Bescheid vom 6. Februar 1973), ua deswegen, weil über August 1972 hinaus keine Berufsunfähigkeit mehr vorliege. Die Klage ist erfolglos geblieben (Urteil des Sozialgerichts Koblenz vom 14. Januar 1976). Auf die Berufung des Klägers hin hat das Landessozialgericht (LSG) mit Urteil vom 19. November 1976 die Beklagte verurteilt, dem Kläger für die Zeit vom 1. September 1972 bis 28. Februar 1974 Übergangsgeld bzw Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu zahlen; im übrigen hat es die Berufung als unbegründet zurückgewiesen. In den Entscheidungsgründen ist zu dem zurückweisenden Teil des Urteils ausgeführt: Dem Kläger sei eine vollschichtige Arbeitstätigkeit unter den erwähnten Einschränkungen durchaus zumutbar. Eine Berufsunfähigkeit bestehe daher nicht. Soweit der Kläger sich darauf berufe, daß das Arbeitsamt bisher nicht in der Lage gewesen sei, ihm einen angemessenen Arbeitsplatz zu verschaffen, so falle dies in das Risiko der Arbeitsvermittlung, nicht jedoch in dasjenige der Rentenversicherung. Das LSG hat einzelne Tätigkeiten, die der Kläger noch verrichten kann, im Urteil nicht bezeichnet.
Mit der von dem Bundessozialgericht (BSG) zugelassenen Revision rügt der Kläger die Verletzung der §§ 1246, 1247 der Reichsversicherungsordnung (RVO) und führt aus: Das Berufungsgericht hätte dartun müssen, welche bestimmten und konkreten Tätigkeiten er noch verrichten könne; in der Auffassung, es bedürfe keiner Darlegung der Tatsachen, welche bestimmten und konkreten Tätigkeiten er noch ausüben könne, liege ein Rechtsirrtum. Im übrigen könne er, der Kläger, aus gesundheitlichen Gründen auch die von der Beklagten im Beschwerdeverfahren bezeichneten Tätigkeiten als Lagerarbeiter, Magazinarbeiter und Packer nicht verrichten. Er beantragt sinngemäß,
das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 19. November 1976 zu ändern, das Urteil des Sozialgerichts Koblenz vom 14. Januar 1976 in vollem Umfang aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm auch für die Zeit vom 1. März 1974 an Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Sie trägt vor: Bei dem Leistungsvermögen des Klägers habe das Berufungsgericht nicht aufzählen müssen, welche Verweisungstätigkeiten der Kläger im einzelnen noch verrichten könne. Bei Vollzeittätigkeiten, die in Tarifverträgen erfaßt seien, könne davon ausgegangen werden, daß es in ausreichender Zahl Arbeitsplätze gebe.
Die Beteiligten haben sich damit einverstanden erklärt, daß der Senat ohne mündliche Verhandlung entscheidet.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist im Sinn der Zurückverweisung begründet. Denn für eine endgültige Entscheidung fehlen die erforderlichen Feststellungen.
Ob der Kläger einen Anspruch auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit hat, hängt nach § 1247 iVm § 1246 RVO, wenn die Wartezeit erfüllt ist, davon ab, ob er erwerbsunfähig ist.
Die Fähigkeit des Versicherten, eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit auszuüben oder mehr als nur geringfügige Einkünfte durch Erwerbstätigkeit zu erzielen, ist dann wesentlich eingeschränkt, wenn es keine Tätigkeiten gibt, die diesem nach seinen Kräften und Fähigkeiten, nach sozialen Gesichtspunkten und nach der Höhe des Entgelts zumutbar sind.
Der Versicherungsträger und im Prozeß das Gericht müssen grundsätzlich im Wege der Amtsermittlung das Vorhandensein solcher Tätigkeiten prüfen. Sie sind im Bescheid oder im Urteil zu benennen.
Eine Ausnahme gilt, wenn es im Einzelfall offensichtlich ("evident") ist, daß es für den Versicherten geeignete Tätigkeiten gibt. Kann zB ein auf das allgemeine Arbeitsfeld verweisbarer Versicherter zwar nicht mehr schwere, aber mittelschwere oder leichtere Arbeiten ohne besondere sonstige Einschränkungen verrichten, dann ist im allgemeinen die Zahl der in Frage kommenden Tätigkeiten so groß, daß die Benennung einzelner Tätigkeiten durch Versicherungsträger oder Gericht überflüssig ist. Eine Benennung geeigneter Tätigkeiten ist indessen dann nicht entbehrlich, wenn bei dem Versicherten besondere Umstände vorliegen, die die Ausübung solcher Tätigkeiten erschweren, sei es, daß er zur Gruppe der Facharbeiter gehört (Urteil vom 26. April 1977 - 4 RJ 93/76 - DRV 1977, 371 mit Anmerkung von Tannen), oder daß er gesundheitlich stärker oder in spezifischer Weise (zB Einarmigkeit, Einäugigkeit) eingeschränkt ist oder nur unter besonderen unüblichen Arbeitsbedingungen tätig sein kann, oder schließlich, daß er wegen seines besonders gearteten Berufslebens aus dem Kreis der sonstigen in der Arbeiterrentenversicherung Versicherten deutlich herausfällt.
Ist es hiernach nicht offensichtlich, daß der Versicherte noch für bestimmte Tätigkeiten in Betracht kommt, dann muß das Tatsachengericht - soweit erforderlich unter Hinzuziehung von Sachverständigen - ermitteln oder auch aufgrund etwa vorhandener Allgemein- oder Gerichtskunde feststellen, welche konkret zu bezeichnenden Tätigkeiten der Kläger noch ausüben kann. Denn Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit sind Versicherungsfälle, die - anders als etwa in der Kriegsopferversorgung und in der Unfallversicherung - in dem Wegfall oder in der wesentlichen Einschränkung gerade der individuellen - konkreten - Erwerbsfähigkeit bestehen. Diese kann aber nur an konkret zu bezeichnenden Tätigkeiten gemessen werden.
Im vorliegenden Fall ist es nicht evident, daß es geeignete Tätigkeiten gibt, die der Kläger noch ausfüllen kann. Denn der Kläger ist nicht nur hinsichtlich des Schweregrades der Arbeit behindert, es muß auch auf die Arbeitsumgebung (geschlossene, temperierte Räume) Rücksicht genommen werden und es scheiden von vornherein bestimmte Arbeiten aus (Besteigen von Leitern und Gerüsten, Arbeiten in gebückter Haltung). Als Hindernis für eine Umstellung auf eine fabrikmäßig organisierte Arbeit ist auch die Gewöhnung des Klägers an verhältnismäßig grobe und undifferenzierte Arbeit im Freien anzusehen; dabei kann in dieser Hinsicht das Alter des 1917 geborenen Klägers mitberücksichtigt werden. Das LSG muß demnach konkret prüfen und feststellen, welche Tätigkeiten der Kläger noch verrichten kann.
Diese Untersuchung ist von der Prüfung zu unterscheiden, ob es für in Frage kommende Tätigkeiten Arbeitsplätze in ausreichendem Umfang gibt, ob also der Arbeitsmarkt für den Kläger offen oder praktisch verschlossen ist. Diese Prüfung braucht, wie das Berufungsgericht zutreffend ausgeführt hat, bei einer Vollzeitarbeitskraft in der Regel nicht vorgenommen zu werden; man kann vielmehr davon ausgehen, daß es solche Arbeitsplätze in ausreichendem Umfang gibt (BSG SozR § 1246 Nr 19, Urteile vom 21. September 1977 - 4 RJ 131/76 -, vom 30. November 1977 - 4/5 RJ 20/77 - und vom 28. Februar 1978 - 4/5 RJ 50/77 -). Die Rechtsprechung für Teilzeitarbeitskräfte (BSGE 43, 75) gilt insoweit nicht.
Die Sache war an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
Dieses wird auch über die Kosten entscheiden.
Fundstellen