Entscheidungsstichwort (Thema)
Konkrete Verweisung eines Ungelernten
Orientierungssatz
Bei der Verweisung eines Versicherten mit dem bisherigen Beruf des Hilfsarbeiters bedarf es "grundsätzlich" keiner konkreten Bezeichnung von Verweisungstätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes, weil sich die Fülle der nicht durch Ausbildung und/oder Berufserfahrung qualifizierten Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsfeldes einer charakterisierenden kurzen Benennung entzieht. Jedoch gilt dann anderes, wenn der Versicherte selbst leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes nur noch mit vielfältigen und/oder erheblichen Einschränkungen ausführen kann. So kann es sein, daß auch der allgemeine Arbeitsmarkt für solche überdurchschnittlich stark leistungsgeminderten Personen (hier: durch Alkoholismus) keine Arbeitsstellen bereithält oder dies doch nur ganz vereinzelt vorkommt; soziale Wirklichkeit und soziales Leistungsrecht dürfen bei Anwendung des § 1246 Abs 2 S 2 RVO aber nicht auseinanderfallen (vgl BSG vom 1981-06-23 1 RJ 72/80 = SozR 2200 § 1246 Nr 81).
Normenkette
RVO § 1246 Abs 2 S 2 Fassung: 1957-02-23
Verfahrensgang
Schleswig-Holsteinisches LSG (Entscheidung vom 22.09.1981; Aktenzeichen L 5 J 215/80) |
SG Kiel (Entscheidung vom 22.05.1980; Aktenzeichen S 5 J 305/78) |
Tatbestand
Streitig ist die Frage der Berufsunfähigkeit (BU) des Klägers.
Der 1929 geborene, ungelernte und zuletzt in einer Landschaftsgärtnerei beschäftigt gewesene Kläger beantragte im April 1978 Versichertenrente wegen Erwerbs- oder Berufsunfähigkeit. Mit dem streitigen Bescheid vom 14. September 1978 lehnte die beklagte Landesversicherungsanstalt (LVA) den Rentenantrag wegen mangelnder BU ab: Der Kläger könne trotz einer Lebererkrankung noch leichte Arbeiten verrichten.
Mit der Klage hatte der Kläger zwar vor dem Sozialgericht (SG), nicht aber in zweiter Instanz vor dem Landessozialgericht (LSG) Erfolg: Im angefochtenen Urteil vom 22. September 1981 hat das LSG die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU) zusprechende Entscheidung des SG vom 22. Mai 1980 aufgehoben und die Klage abgewiesen. In der Begründung ist im wesentlichen ausgeführt, beim Kläger bestünden als Folgen eines chronischen Alkoholismus eine Leberschädigung, Herz- und Kreislaufbeschwerden sowie psychische Störungen, ferner eine Bronchitis und Beschwerden am Stütz- und Bewegungsapparat. Zumutbar seien dem Kläger noch vollschichtig leichte Arbeiten im Wechselrhythmus mit Einschränkungen. Auf dem weiten Arbeitsfeld ungelernter Tätigkeiten gebe es für den Kläger geeignete Arbeitsplätze in hinreichender Anzahl, so daß ohne den Nachweis konkreter Arbeitsmöglichkeiten der Arbeitsmarkt offen sei. Durch längere, strikte Alkoholkarenz könnten die objektiven und subjektiven Beschwerden des Klägers wesentlich gebessert werden. Wenn der Kläger in Zukunft nicht mehr bereit sei, sich einer Entziehungskur zu unterziehen, so müsse er damit rechnen, daß die Beklagte künftig Leistungsansprüche ablehnen werde, weil er sich absichtlich erwerbsunfähig gemacht habe (§ 1277 Abs 1 Satz 1 der Reichsversicherungsordnung -RVO). Die Frage der Vermittelbarkeit des Klägers in eine Arbeitsstelle falle nicht in den Bereich der Rentenversicherung.
Gegen dieses Urteil hat der Senat die Revision zugelassen (Beschluß vom 27. April 1982).
Mit seiner Revision bringt der Kläger vor: Er sei ein schwer alkoholkranker Mann. In solchen Fällen der zwangshaften Abhängigkeit sei die Durchführung einer Entgiftungs- und Entwöhnungsbehandlung nicht Voraussetzung des Rentenanspruchs. Das LSG habe nicht festgestellt, ob es eine Phase gegeben habe, in der es ihm noch möglich gewesen sei, von seinem Tun abzulassen (Hinweis auf BSGE 21, 163).
Der Kläger beantragt, das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 22. September 1981 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Kiel vom 22. Mai 1980 zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt, die Revision des Klägers gegen das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 22. September 1981 als unbegründet zurückzuweisen.
Sie führt aus, der Revisionsbegründung stünden die tatsächlichen Feststellungen des LSG entgegen. Die auf Seite 10 des Urteils erörterte Möglichkeit, die Beschwerden des Klägers durch Alkoholkarenz und durch eine Entziehungskur zu verbessern, widerspräche nicht den vorhergehenden Feststellungen, daß der Kläger noch einfache körperliche Arbeiten verrichten könne. Nach den bindenden Feststellungen des LSG sei der Kläger nicht schwer alkoholkrank. Der Rechtssache komme keine grundsätzlich Bedeutung zu. Den Ausführungen des LSG zu § 1277 RVO könne sie nicht folgen.
Entscheidungsgründe
Die zugelassene Revision ist im Sinne der Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz begründet.
Das Begehren des Klägers auf Rente zumindest wegen BU wäre nach § 1246 Abs 2 Satz 1 RVO begründet, wenn seine Erwerbsfähigkeit infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte auf weniger als die Hälfte derjenigen eines körperlich und geistig gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten herabgesunken wäre. Dabei umfaßt nach Satz 2 aaO der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit des Versicherten zu beurteilen ist - auf die der Versicherte also unter Verneinung von BU noch "verwiesen" werden kann -, alle Tätigkeiten, die seinen Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihm unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs seiner Ausbildung sowie seines bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen seiner bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können. Der Kreis der zumutbaren Verweisungstätigkeiten bestimmt sich hiernach im wesentlichen nach der Qualität des bisherigen Berufs des Versicherten (vgl statt vieler die Urteile des erkennenden Senats in SozR 2200 § 1246 Nr 86 und 90 sowie das Urteil vom 24. März 1983 - 1 RA 15/82). Da bisheriger Beruf des Klägers der des ungelernten Arbeiters ist, hat das LSG zutreffend alle Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsfeldes für den Kläger als zumutbar iS von § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO gehalten, soweit er sie nach seinen gesundheitlichen Kräften auszuüben in der Lage ist. Dabei geht das LSG offensichtlich davon aus, daß der Kläger seine letzte Tätigkeit in einer Landschaftsgärtnerei nicht mehr auszuüben vermag.
Ob der Kläger fähig ist, auf dem allgemeinen Arbeitsfeld im rechtserheblichen Umfang erwerbstätig zu sein, ist dem angefochtenen Urteil nicht ganz sicher zu entnehmen. Zwar hat das Berufungsgericht auf Blatt 9 Abs 2 seiner Entscheidung festgestellt, daß der Kläger - mit bestimmten weiteren Einschränkungen (Bl 8 aaO) - noch leichte Arbeiten "im Wechsel von Sitzen und Stehen" auszuführen in der Lage sei. Ob hierbei neben den organischen Störungen die "dezenteren psychischen Veränderungen" (Bl 8 Abs 1, Bl 9 Abs 2 aaO) bereits berücksichtigt sind oder ob ihnen das LSG - und unter Umständen auch bestimmten alkoholbedingten organischen Beschwerden - eine nur geringere rechtsrelevante Bedeutung zugemessen hat, weil sie durch "längere, strikte Alkoholkarenz .. wesentlich gebessert" und dem Kläger "die für eine kurmäßige Behandlung erforderliche Willenskraft zugemutet werden kann" (Bl 10 Abs 1 aaO), ist nicht ganz klar. Bei den letzterwähnten Ausführungen im angefochtenen Urteil könnte es sich um Gründe handeln, die die angefochtene Entscheidung tragen, möglicherweise aber auch nur um Randbemerkungen wie bei der Warnung an den Kläger, er müsse bei Unterlassen einer Entziehungskur damit rechnen, daß ihm die Beklagte mit Leistungsausschluß nach § 1277 Abs 1 Satz 1 RVO entgegentreten werde (Bl 10 Abs 1). Im einzelnen kann dies jedoch - vorerst - aus folgenden Gründen dahinstehen:
Nach der gesicherten Rechtsprechung des Bundessozialgerichts -BSG- (vgl zB SozR 2200 § 1246 Nr 30, 36 und 38) sind die Rentenversicherungsträger und die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit bei Anwendung des § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO verpflichtet, den Beruf, auf den der Versicherte in dem zu entscheidenden konkreten Fall zur Abwendung von BU verwiesen wird, "konkret zu bezeichnen". Diese Pflicht der konkreten Bezeichnung einer dem Versicherten zumutbaren Tätigkeit begegnet der Gefahr, daß der Rentenbewerber mit pauschalen und allgemein gehaltenen Wendungen auf eine Tätigkeit verwiesen wird, die in der Wirklichkeit der Berufswelt nicht oder nur ganz vereinzelt aufzufinden ist (so der erkennende Senat in SozR 2200 § 1246 Nr 81 und SozR 1500 § 160 Nr 46). Das LSG hat dem Kläger Verweisungstätigkeiten in diesem Sinne nicht konkret bezeichnet; es hat ihn vielmehr "auf alle leichten und ungelernten Arbeiten im gesamten Bundesgebiet" verwiesen und dazu herausgestellt, auf dem weiten Feld ungelernter Tätigkeiten gebe es, "ohne daß es insoweit des Nachweises konkreter Einsatzmöglichkeiten" bedürfe, für vollschichtig Arbeitsfähige geeignete Arbeitsplätze in hinreichender Zahl, so daß der Arbeitsmarkt offen sei. Zwar ist richtig, daß es nach der Entscheidung des erkennenden Senats in SozR 2200 § 1246 Nr 81 bei der Verweisung eines Versicherten mit dem bisherigen Beruf des Hilfsarbeiters "grundsätzlich" keiner konkreten Bezeichnung von Verweisungstätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes bedarf, weil sich die Fülle der nicht durch Ausbildung und/oder Berufserfahrung qualifizierten Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsfeldes einer charakterisierenden kurzen Benennung entzieht. Jedoch gilt dann anderes, wenn der Versicherte selbst leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes nur noch mit vielfältigen und/ oder erheblichen Einschränkungen ausführen kann: Der erkennende Senat hat dazu aaO ausgeführt, es könne sein, daß auch der allgemeine Arbeitsmarkt für solche überdurchschnittlich stark leistungsgeminderten Personen keine Arbeitsstelle bereithalte oder dies doch nur ganz vereinzelt vorkomme; soziale Wirklichkeit und soziales Leistungsrecht dürften bei Anwendung des § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO aber nicht auseinanderfallen.
Bei dem Kläger bestehen nach den den Senat bindenden Feststellungen des LSG (§ 163 Sozialgerichtsgesetz -SGG) vielfältige, möglicherweise auch erhebliche Einschränkungen seiner Leistungsfähigkeit. Er leidet an einer alkoholtoxischen Lebergewebsschädigung, leichter Blählunge, leichter Bronchitis, verschiedenen alkoholbedingten Herz- und Kreislaufbeschwerden, abendlicher Schwellung der Unterschenkel, Veränderungen an der Brust- und Lendenwirbelsäule und beginnender Kniegelenksarthrose; auf neurologisch-psychiatrischem Gebiet liegen bei ihm eine Polyneuropathie der Beine und - ebenfalls Folgeerscheinungen eines fortgeschrittenen Alkoholismus - dezente psychische Veränderungen in der Form einer Indifferenzierung und Enthemmung mit zeitweiliger kritischer Dekompensation bei Gefahr eines Delirium tremens vor. Der Kläger kann nach den Feststellungen des LSG deshalb nur noch Arbeiten im Wechsel von Sitzen und Stehen ohne einseitige Körperhaltung bei Schutz vor Nässe, Kälte und Zugluft, nicht an gefährdenden Arbeitsplätzen, nicht auf Leitern und Gerüsten, ohne besondere Verantwortung, ohne Heben und Tragen schwerer Lasten sowie ohne dauerndes Überkopfarbeiten ausführen. Durch Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz mußte dieser Gelegenheit gegeben werden, die zumindest durch die Vielfalt der gesundheitlichen Leistungsbeeinträchtigungen des Klägers veranlaßte "konkrete Verweisung" nachzuholen und die hierfür erforderlichen tatsächlichen Feststellungen zu treffen.
Im übrigen wird das LSG in seiner neuen Entscheidung ggf näher ausführen können, wieweit es die Auswirkungen einer Alkoholabhängigkeit als Krankheit, als Gebrechen oder Schwäche der körperlichen oder geistigen Kräfte des Klägers iS von § 1246 Abs 2 Satz 1 RVO ansieht (vgl hierzu BSGE 21, 163 und 46, 41, 43; Krasney, DRV 1971, 325, 326 und derselbe, Sozialrechtliche Vorschriften bei der Betreuung Suchtkranker, 3. Aufl, 125 ff; Hennies, MedSach 1983, 2 ff). Zugleich hat das LSG Gelegenheit zu klären, wieweit die Beklagte bereit wäre, dem alkoholkranken Kläger eine Entwöhnungskur zu gewähren (vgl §§ 2, 4 Nr 1 der sog Suchtvereinbarung zwischen den Spitzenverbänden ua der Krankenkassen und dem Verband Deutscher Rentenversicherungsträger - DOK 1979, 489 - und den Erfahrungsbericht in DOK 1983, 278) und wieweit dieser selbst willens wäre, sich einer solchen Heilbehandlung zu unterziehen (vgl §§ 1236, 1237 RVO; §§ 63, 66 Abs 2 des Allgemeinen Teils des Sozialgesetzbuches - SGB 1).
Die Kostenentscheidung bleibt der Endentscheidung in der Sache vorbehalten.
Fundstellen