Entscheidungsstichwort (Thema)
Jahresarbeitsverdienst. fiktives Arbeitsentgelt. erhebliche Unbilligkeit. unbezahlter Urlaub
Orientierungssatz
1. Bei der Berechnung der Verletztenrente ist der JAV zunächst nach § 571 Abs 1 S 2 RVO zu ermitteln, auch wenn der Verdienstausfall im Jahre vor dem Arbeitsunfall aufgrund einer eigenen Willensentscheidung des Verletzten - durch unbezahlten Urlaub - eingetreten ist. Es ist insoweit grundsätzlich unerheblich, welche Gründe innerhalb des Jahres vor dem Arbeitsunfall zu Zeiten ohne Arbeitsentgelt oder -einkommen geführt haben. Davon zu trennen ist die Frage, ob der danach ermittelte JAV bei erheblicher Unbilligkeit gemäß § 577 RVO zu korrigieren ist (vergleiche Urteile des BSG vom 1981-02-11 2 RU 65/79 = BSGE 51, 178 und 2 RU 69/79).
2. Ein nach § 571 Abs 1 S 2 RVO berechneter JAV ist in erheblichem Maße unbillig (§ 577 RVO), wenn ein das tatsächliche Arbeitsentgelt und Arbeitseinkommen im Jahre vor dem Arbeitsunfall übersteigender JAV auf Dauer zur Grundlage der nach diesem Maßstab bemessenen Verletztenrente gemacht wurde, obwohl der Verletzte vor dem Unfall seinen Lebensstandard aufgrund eigener Willensentscheidung nicht nur vorübergehend auf ein wesentlich geringeres Arbeitsentgelt und Arbeitseinkommen beschränkt hatte (vgl BSG 1982-07-28 2 RU 47/81 = SozR 2200 § 571 Nr 21).
Normenkette
RVO § 571 Abs 1 S 2 Fassung: 1976-12-23, § 577 Fassung: 1963-04-30
Verfahrensgang
SG Stuttgart (Entscheidung vom 30.06.1982; Aktenzeichen S 10 U 550/82) |
Tatbestand
Der Kläger, der italienischer Staatsangehöriger ist und in den Jahren 1963 bis 1966 sowie von August 1970 an in der Bundesrepublik Deutschland beschäftigt war, bezieht von der Beklagten wegen der Folgen eines am 17. Februar 1972 erlittenen Arbeitsunfalls eine Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 30 vH. Der Rentenberechnung legte die Beklagte das vom Kläger im Jahre vor dem Arbeitsunfall in rund 10 Monaten erzielte Arbeitseinkommen in Höhe von 13.760,27 DM als Jahresarbeitsverdienst (JAV) zugrunde (Bescheid vom 5. September 1974). Auf die Klage mit dem Ziel, bei der Festsetzung des JAV auch den Verdienstausfall in den Zeiten unbezahlten Urlaubs vom 11. bis 29. August 1971 sowie vom 2. Januar bis 8. Februar 1972 zu berücksichtigen, nahm die Beklagte durch Vergleich den Bescheid hinsichtlich der Festsetzung des JAV zurück und erklärte sich bereit, nach rechtskräftigem Abschluß rechtsähnlicher Verfahren vor dem Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg insoweit einen neuen Bescheid über die Höhe des JAV zu erteilen.
In diesem am 28. Dezember 1981 erteilten Bescheid setzte die Beklagte den JAV wiederum auf 13.760,27 DM fest und führte zur Begründung aus, der nach § 571 Abs 1 Satz 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) errechnete JAV in Höhe von 15.913,07 DM sei in erheblichem Maße unbillig, da er von 15,65 vH über dem tatsächlich erzielten Verdienst liege. Zur Feststellung des JAV nach billigem Ermessen wurde dem tatsächlich erzielten Arbeitsentgelt das Entgelt gegenübergestellt, das bei tariflicher Arbeitszeit (und Tariflohn) über das ganze Jahr vor dem Arbeitsunfall erreicht worden wäre. Den höheren Betrag (den tatsächlich erzielten Lohn) stellte die Beklagte als JAV fest. Der Widerspruch des Klägers ist mit dessen Zustimmung von der Widerspruchsstelle gem § 85 Abs 4 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) als Klage dem Sozialgericht (SG) zugeleitet worden.
Das SG hat die Beklagte dem Antrag des Klägers entsprechend verurteilt, der Rentengewährung einen JAV von 15.913,07 DM zugrunde zu legen (Urteil vom 30. Juni 1982). Zur Begründung hat es ausgeführt: Für die Zeiten des unbezahlten Urlaubs sei das Arbeitseinkommen in Höhe von 2.152,80 DM anzusetzen, das der Kläger bei normaler Arbeitszeit und tatsächlich gezahltem Stundenlohn erzielt hätte (§ 571 Abs 1 Satz 2 RVO). Der sich danach ergebende JAV sei um 15,64 vH höher als das tatsächliche Arbeitseinkommen. Dies sei zwar unbillig, weil der Kläger seit seiner Arbeitsaufnahme in der Bundesrepublik Deutschland bewußt eine Einbuße seines wirtschaftlichen Lebensstandards durch Zeiten unbezahlten Urlaubs in Kauf genommen habe. Bei der Abweichung von nur 15,64 vH vom tatsächlichen Arbeitseinkommen sei der nach § 571 Abs 1 Satz 2 RVO errechnete JAV jedoch nicht in erheblichem Maße unbillig (§ 577 RVO).
Die Beklagte hat die vom SG im Urteil zugelassene Sprungrevision mit Zustimmung des Klägers eingelegt und unter Hinweis auf das Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 28. Juni 1982 - 2 RU 47/81 - ua geltend gemacht, der nach § 571 Abs 1 Satz 2 RVO errechnete JAV sei entgegen der Auffassung des SG in erheblichem Maße unbillig, weil sich der Kläger aufgrund eigener Willensentscheidung auf ein geringeres Einkommen beschränkt habe.
Sie beantragt, das Urteil des SG aufzuheben und die Klage abzuweisen, hilfsweise, das Urteil des SG aufzuheben und die Sache an das SG oder das LSG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist begründet. Mit Recht ist die Beklagte im angefochtenen Bescheid vom 28. Dezember 1981 davon ausgegangen, daß der nach § 571 Abs 1 RVO berechnete JAV in erheblichem Maße unbillig ist (§ 577 RVO).
Als JAV, der bei der Berechnung der Verletztenrente zugrunde zu legen ist (§§ 570, 581 RVO), gilt nach § 571 Abs 1 Satz 1 RVO der Gesamtbetrag aller Arbeitsentgelte und Arbeitseinkommen des Verletzten im Jahre vor dem Arbeitsunfall. Die Anwendung dieser Vorschrift setzt allerdings voraus, daß der Verletzte während des Jahres vor dem Arbeitsunfall ununterbrochen Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen bezogen hat (BSGE 51, 178, 180 mwN aus Rechtsprechung und Schrifttum). Der Kläger hatte im Jahre vor dem Arbeitsunfall (17. Februar 1971 bis 16. Februar 1972) jedoch während der Zeiten unbezahlten Urlaub vom 11. August bis 29. August 1971 und vom 1. Januar bis 7. Februar 1972 kein Arbeitsentgelt oder -einkommen. Für diese Zeiten ist nach § 571 Abs 1 Satz 2 RVO das Arbeitsentgelt und Arbeitseinkommen zugrunde zu legen, das durch eine Tätigkeit erzielt wird, die der letzten Tätigkeit des Verletzten vor diesen Zeiten entspricht. Bei der Berechnung der Rente des Klägers ist der JAV zunächst nach dieser Vorschrift zu ermitteln, auch wenn der Verdienstausfall im Jahre vor dem Arbeitsunfall aufgrund einer eigenen Willensentscheidung des Verletzten - durch unbezahlten Urlaub - eingetreten ist (BSGE aaO; Urteil vom 11. Februar 1981 - 2 RU 69/79 -). Es ist insoweit grundsätzlich unerheblich, welche Gründe innerhalb des Jahres vor dem Arbeitsunfall zu Zeiten ohne Arbeitsentgelt oder -einkommen geführt haben. Davon zu trennen ist die Frage, ob der danach ermittelte JAV bei erheblicher Unbilligkeit gemäß § 577 RVO zu korrigieren ist (BSGE aaO S 180). Nach den Feststellungen im angefochtenen Urteil hätte das gemäß § 571 Abs 1 Satz 2 RVO zugrunde zu legende - fiktive - Arbeitsentgelt des Klägers in den Zeiträumen vom 11. bis zum 29. August 1971 und vom 1. Januar bis zum 7. Februar 1972 2.152,80 DM betragen. Zusammen mit dem im Jahre vor dem Arbeitsunfall tatsächlich bezogenen Entgelt von 13.760,27 DM ergibt sich somit ein JAV von 15.913,07 DM in Anwendung des § 571 Abs 1 Satz 2 RVO. Dies ist nicht nur, wie das SG meint, unbillig, sondern bedarf, weil in erheblichem Maße unbillig, der Korrektur gemäß § 577 RVO.
Die Wertung, daß ein nach den §§ 571 bis 576 RVO berechneter JAV in erheblichem Maße unbillig zu niedrig oder zu hoch (s BSGE aaO S 181, 182; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. - 9. Aufl, S 576h; Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl, § 577 Anm 3; Podzun, Der Unfallsachbearbeiter, 3. Aufl, Kennzahl 440 S 29) ist, kann das Gericht unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles selbst vollziehen, weil der Unfallversicherungsträger insoweit nicht nach seinem Ermessen entscheidet und auch keinen von den Gerichten nur beschränkt nachprüfbaren Beurteilungsspielraum hat (s BSGE 32, 169, 173; Brackmann aaO S 576k, 577 mwN).
Nach den für das BSG bindenden tatsächlichen Feststellungen des SG (§§ 163, 161 Abs 4 SGG) hat der Kläger seine Lebensstellung im Jahre vor dem Arbeitsunfall, aber auch in den Jahren zuvor auf eine nur etwa 10- bis 11-monatige Erwerbstätigkeit eingerichtet und damit seit seiner Arbeitsaufnahme in der Bundesrepublik Deutschland bewußt eine Einbuße seines wirtschaftlichen Lebensstandards durch Zeiten unbezahlten Arbeitsurlaubs in Kauf genommen. Der nach § 571 Abs 1 Satz 2 RVO berechnete JAV ist demnach höher als das Arbeitsentgelt, das der Kläger tatsächlich erzielt hat und bei gleichbleibender Einstellung erzielt hätte. Nach der Zielvorstellung des Gesetzgebers (s BT-Drucks IV/120 S 57 zu §§ 570 bis 578, Begründung zum Entwurf des Unfallversicherungs- Neuregelungsgesetzes -UVNG- vom 30. April 1963 - BGBl I 241 -; s auch BSGE 28, 274, 276; 44, 12, 14; 51, 178, 180; Brackmann aaO S 576h) soll das als unbillig empfundene Ergebnis vermieden werden, ein aus besonderen Gründen vorübergehend niedriges, der normalen Lebenshaltung des Verletzten nicht entsprechendes Arbeitsentgelt und Arbeitseinkommen als JAV bei der Rentenberechnung zugrunde zu legen und zum Maßstab für die gesamte Laufzeit der Rente zu machen. Daraus folgt zugleich, daß zwar umgekehrt ein nach den §§ 571 bis 576 RVO aus einem nicht nur vorübergehend niedrigen, dem Lebensstandard des Verletzten entsprechendes Arbeitsentgelt und Arbeitseinkommen ermittelter JAV grundsätzlich nicht erheblich unbillig ist, wohl aber dann, wenn in einem solchen Fall der nach den §§ 571 bis 576 RVO berechnete JAV den "normalen" Lebensstandard des Verletzten übersteigt. In Übereinstimmung mit der Zielvorstellung des Gesetzgebers hat der erkennende Senat die Berechnung des JAV nach dem Dreihundertfachen des Ortslohnes (Mindest-JAV gemäß § 575 Abs 1 Satz 1 RVO aF) als nicht in erheblichem Maße unbillig niedrig angesehen, wenn der Lebensstandard des Verletzten bereits im Jahre vor dem Arbeitsunfall nicht nur vorübergehend auf dem Bezug von Renten aus der Sozialversicherung und der Kriegsopferversorgung beruhte (BSGE 44, 12, 14). Ebenfalls aufgrund der Lebensstellung des Verletzten (s § 577 Satz 2 RVO) ist nach den Urteilen des erkennenden Senats vom 11. Februar 1981 (BSGE 51, 178 und 2 RU 69/79) dementsprechend ein nach § 571 Abs 1 Satz 2 RVO berechneter JAV in erheblichem Maße unbillig hoch, wenn sich der Verletzte vor dem Arbeitsunfall auf ein in neun Monaten jährlich erzieltes Arbeitsentgelt und Arbeitseinkommen eingestellt und in den restlichen drei Monaten schon mehrere Jahre vor dem Unfall unbezahlten Urlaub genommen hatte. Das gleiche hat der Senat in seinem Urteil vom 28. Juli 1982 - 2 RU 47/81 - für den Fall angenommen, daß der Verletzte in den Jahren vor dem Arbeitsunfall regelmäßig in nur rund 11 Monaten Arbeitsentgelt und Arbeitseinkommen erzielte. In den Gründen dieses Urteils hat der Senat erneut (s auch BSGE aaO S 182; Urteil vom 11. Februar 1981 - 2 RU 69/79 -; Brackmann aaO S 576h) hervorgehoben, daß eine erhebliche Unbilligkeit iS des § 577 RVO nicht unabhängig von den Besonderheiten des Einzelfalles nach einem bestimmten Vomhundertsatz beurteilt werden darf, um den der nach § 571 Abs 1 Satz 2 RVO berechnete JAV von dem tatsächlich im Jahre vor dem Arbeitsunfall erzielten Arbeitsentgelt und Arbeitseinkommen abweicht (Urteile vom 11. Februar 1981: mehr als 30 vH; Urteil vom 28. Juli 1982: rund 9,3 vH; im vorliegenden Fall 15,64 vH). Die Begründung dafür, daß hier der nach § 571 Abs 1 Satz 2 RVO berechnete JAV in erheblichem Maße unbillig ist (§ 577 RVO), liegt vielmehr darin, daß ein das tatsächliche Arbeitsentgelt und Arbeitseinkommen im Jahre vor dem Arbeitsunfall übersteigender JAV auf Dauer zur Grundlage der nach diesem Maßstab bemessenen Verletztenrente gemacht wurde, obwohl der Verletzte vor dem Unfall seinen Lebensstandard aufgrund eigener Willensentscheidung nicht nur vorübergehend auf ein wesentlich geringeres Arbeitsentgelt und Arbeitseinkommen beschränkt hatte (BSG Urteil vom 28. Juli 1982 aaO).
Die Beklagte hat dadurch, daß sie bei der hiernach gemäß § 577 RVO gebotenen Feststellung des JAV im Rahmen des § 575 RVO nach billigem Ermessen bei der Rentenberechnung insbesondere unter Berücksichtigung der Lebensstellung des Verletzten dessen tatsächlich im Jahre vor dem Arbeitsunfall erzieltes Arbeitsentgelt von 13.760,27 DM zugrunde gelegt hat, weder die gesetzlichen Grenzen ihres Ermessens überschritten noch von ihrem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht (§ 54 Abs 2 Satz 2 SGG). Der angefochtene Bescheid ist somit rechtmäßig und die Klage auf die begründete Revision der Beklagten abzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen