Orientierungssatz
Bei dem Berufsgruppenkatalog AnV vom 1924-03-08 handelt es sich nur um eine beispielhafte Aufzählung; damit ist der Inhalt des Angestelltenbegriffs nicht im ausschließenden Sinne festgelegt.
Leitsatz (amtlich)
Ein staatlich geprüfter Masseur, der in einer Krankenanstalt auf Grund ärztlicher Anordnung Massagen ausführt, ist angestelltenversicherungspflichtig.
Normenkette
RVO § 1656 Abs. 1 Nr. 6 Fassung: 1945-03-17, § 1226 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1945-03-17; AVG § 1 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1945-03-17; RVO § 1227 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1957-02-23; AVG § 3 Abs. 1 Nr. 6 Fassung: 1957-02-23; AnVBerufsBest Fassung: 1924-03-08
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Celle vom 27. Januar 1956 aufgehoben und die Berufung der Landesversicherungsanstalt B... gegen das Urteil des Sozialgerichts Braunschweig vom 1. Oktober 1954 zurückgewiesen.
Die Landesversicherungsanstalt B... hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Berufungs- und Revisionsverfahrens zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
I.
Der Kläger ist Kriegsblinder und seit 1. März 1947 als staatlich geprüfter Masseur im Kreiskrankenhaus H... beschäftigt. Er führt dort Massagen zu Heilzwecken nach ärztlicher Verordnung aus. Im August 1951 hat er die Sonderprüfung für Bindegewebsmassage abgelegt. Von Mitte 1951 bis Ende Mai 1953 hat er eine ausgeschiedene Heilgymnastin vertreten, bis am 1. Juni 1953 wieder eine solche eingestellt wurde.
Zwischen den Beteiligten besteht Streit, ob der Kläger der Versicherungspflicht in der Rentenversicherung der Arbeiter oder der Angestellten unterliegt. Auf Antrag des Klägers hat das Versicherungsamt der Stadt B... durch Beschluß vom 14. August 1953 festgestellt, der Kläger sei angestelltenversicherungspflichtig. Gegen diesen Beschluß hat die beklagte Landesversicherungsanstalt (LVA.) Beschwerde zum Oberversicherungsamt (OVA.) H... eingelegt, die nach dem Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) als Klage auf das Sozialgericht (SG.) Braunschweig übergegangen ist. Das SG. hat die Allgemeine Ortskrankenkasse (AOK.) für den Landkreis H... beigeladen und nach Beweisaufnahme mit Urteil vom 1. Oktober 1954 festgestellt, der Kläger sei angestelltenversicherungspflichtig, da er bei Durchführung der Massagen, insbesondere der Bindegewebsmassage, in der Heilbehandlung tätig sei und deshalb seine Tätigkeit nicht überwiegend als Handarbeit zu bewerten sei.
Gegen dieses Urteil hat die beklagte LVA. Berufung eingelegt mit dem Vorbringen, die Prüfung für Bindegewebsmassage könne die Versicherungspflicht zur Angestelltenversicherung nicht begründen, weil die allgemeinen Massagen weitaus überwögen und weil die Krankengymnastin mit Aufsichts- und Anordnungsbefugnissen gegenüber dem Kläger eingestellt worden sei. Seine Tätigkeit bewege sich überwiegend auf dem Gebiet des Äußeren und Mechanischen. Demgegenüber hat der Kläger vorgetragen, es bestehe ein Unterschied zwischen ihm und einem Bademeister, der neben Reinigungsarbeiten auch Sportmassagen ausführe; denn er werde überwiegend auf ärztliche Anordnung tätig und befasse sich mit der Behandlung kranker Menschen. Hierzu seien theoretische und medizinische Kenntnisse erforderlich, seine Tätigkeit sei eine solche in der Krankenpflege. Das Landessozialgericht (LSG.) hat die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA.) beigeladen und mit Urteil vom 27. Januar 1956 die Invalidenversicherungspflicht des Klägers festgestellt. Zur Begründung hat es ausgeführt, der Kläger sei kein Angestellter in der Krankenpflege. Zwar sei seine Tätigkeit höchst verantwortungsvoll, sie setze auch theoretische Kenntnisse voraus, der Kläger sei aber überwiegend körperlich tätig, er verrichte auch keine selbständig entscheidende oder aufsichtführende Tätigkeit. Das LSG. hat die Revision zugelassen.
Gegen das am 21. Februar 1956 zugestellte Urteil hat der Kläger am 13. März 1956 Revision eingelegt und sie am 16. April 1956 begründet. Nach seiner Ansicht ist er als Angestellter anzusehen, weil er seine Tätigkeit ausschließlich an kranken Menschen verrichte; vor allem die Bindegewebsmassagen, die bis 1950 im Kreiskrankenhaus H... den Ärzten und Heilgymnasten vorbehalten gewesen seien, setzten weitgehende Kenntnisse auf medizinischem Gebiet voraus.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des LSG. Celle vom 27. Januar 1956 aufzuheben und die Berufung gegen das Urteil des SG. Braunschweig vom 1. Oktober 1954 zurückzuweisen.
Die beklagte LVA. und die beigeladene BfA. bitten um
Zurückweisung der Revision.
Die AOK. Helmstedt hat keinen Antrag gestellt.
II.
Die nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG statthafte, auch form- und fristgerecht eingelegte Revision ist begründet, da der Kläger als Angestellter anzusehen ist.
Die Masseure sind zwar weder in § 165 b Abs. 1 Nr. 6 der Reichsversicherungsordnung (RVO) noch in § 1 Abs. 1 Nr. 1 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) - beide in der Fassung der Ersten Vereinfachungsverordnung (VereinfVO) vom 17. März 1945 - noch in § 3 Abs. 1 Nr. 6 AVG n.F. aufgeführt; sie sind auch im Gegensatz zu den Krankenschwestern und Krankenpflegern nicht in die Bestimmung von Berufsgruppen der Angestelltenversicherung vom 28. März 1924 in der Fassung der Verordnung vom 4. Februar und 15. Juli 1927 (RGBl. 1924 I S. 274, 410; 1927 I S. 58, 222) aufgenommen. Dies ist jedoch nicht ausschlaggebend, da es sich bei den genannten gesetzlichen Vorschriften - wie sich aus dem Wort "insbesondere" ergibt - nur um eine beispielhafte Aufzählung handelt; damit ist der Inhalt des Angestelltenbegriffes aber nicht im ausschließenden Sinne festgelegt. Auch der Berufskatalog führt nur die Berufsgruppen, die unter Nr. 2, 3, 6 und 7 des § 1 Abs. 1 AVG a.F. fallen, im einzelnen an, jedoch gibt auch er keine erschöpfende Aufzählung. Das Gesetz beschränkt sich, ohne den Begriff der versicherungspflichtigen Angestellten zu definieren, darauf, eine Anzahl von Berufsgruppen in dem durch den Oberbegriff "Angestellte" gezogenen Rahmen herauszustellen und deren Versicherungspflicht damit als Beispiel festzulegen. Der Angestelltenbegriff ist deshalb durch Auslegung zu bestimmen. Er läßt sich nach seiner gesetzlichen und sprachlichen Entwicklung und wegen der ständigen Fortbildung und Veränderung der wirtschaftlichen Verhältnisse und der damit zusammenhängenden Umschichtung und Änderung der Berufsgruppen im Wirtschaftsleben nicht in eine feste unveränderliche Form gießen. Er muß vielmehr nach der jeweils herrschenden Verkehrsanschauung ausgelegt werden (vgl. RVA. Grunds. Entsch. Nr. 3272, AN. 1928 S. 315). Die Entscheidung, ob ein Arbeitnehmer der Rentenversicherung der Angestellten oder der der Arbeiter angehört, hängt nach der Verkehrsanschauung im allgemeinen davon ab, ob der Betreffende eine überwiegend geistige Beschäftigung verrichtet oder ob er als Handarbeiter vorwiegend körperlich tätig ist (vgl. Koch-Hartmann-v. Altrock-Fürst, Das Angestelltenversicherungsgesetz, 2. Aufl. Bd. I S. 78; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Bd. III S. 745; vgl. auch Urt. des BAG. vom 24.7.1957 in Arbeitsrechtl. Praxis, HGB § 59 Nr. 5 mit Anm. von Nikisch und in WzS. 1959 S. 148 mit Anm. von Siebeck).
Die Tätigkeit des Klägers als geprüfter Masseur in einem Krankenhaus kann im Gegensatz zu der vom LSG. vertretenen Auffassung nicht als überwiegend körperliche Beschäftigung angesehen werden. Wohl hat das frühere Reichsversicherungsamt in wiederholten Entscheidungen (AN. 1930 S. 180 und EuM. Bd. 41 S. 100) Masseure mit der Begründung als invalidenversicherungspflichtig angesehen, ihre Tätigkeit bewege sich trotz der Anforderungen, die an ihre Ausbildung, Kenntnisse und Fähigkeiten gestellt würden, auf dem Gebiete des Äußerlichen und rein Mechanischen. Diese Entscheidungen betreffen aber Masseure und Bademeister, die auch mit Reinigungsarbeiten befaßt waren; der Kläger hat jedoch keine derartigen Arbeiten zu verrichten. Es kann dahingestellt bleiben, ob diese Entscheidungen des Reichsversicherungsamts heute noch für den sogenannten Sportmasseur Gültigkeit beanspruchen können, sie sind jedenfalls insoweit überholt, als es sich, wie hier bei dem Kläger, um einen staatlich geprüften Masseur handelt, der in einem Krankenhaus tätig ist.
Um den Beruf als Masseur ausüben zu können, hat der Kläger eine Ausbildung durchgemacht und eine entsprechende Prüfung abgelegt. Grundlage hierfür war die Verordnung des Niedersächsischen Staatsministeriums vom 4. Oktober 1948 über die berufsmäßige Ausübung der Massage (Niedersächsisches Gesetz- und Verordnungsbl. 1948 S. 162), die sich ihrerseits wieder auf das Gesetz zur Ordnung der Krankenpflege vom 28. September 1938 (RGBl. I S. 1309) gründet. Danach setzt die berufsmäßige Ausübung der Massage eine Erlaubnis voraus, die von dem Bestehen einer staatlichen Massageprüfung abhängt. Für diese Prüfung hat auf Grund des genannten Landesgesetzes der Minister für Arbeit, Aufbau und Gesundheit am 4. Oktober 1948 die näheren Vorschriften erlassen (Amtsbl. für Niedersachsen 1948 S. 340): Die Prüfung findet vor einem Prüfungsausschuß statt, der aus drei Ärzten besteht, unter denen sich ein beamteter und zwei nicht beamtete Ärzte befinden sollen. Die Zulassung zur Prüfung, die erst nach Vollendung des 20. Lebensjahres abgelegt werden kann, setzt den Nachweis einer erfolgreichen ununterbrochenen sechsmonatigen Ausbildung an einer staatlich anerkannten Massageschule voraus. Die theoretische und praktische Ausbildung erstreckt sich u.a. auf Bau und Verrichtungen des menschlichen Körpers, auf Krankheitslehre, Theorie der Massage, Lehre der physikalischen Behandlungsmaßnahmen, Verbandslehre und Berufslehre (Kenntnis der gesetzlichen Vorschriften). Diese Regelung entspricht - von der Dauer des Lehrgangs und der praktischen Tätigkeit abgesehen - im wesentlichen dem Bundesgesetz über die Ausübung der Berufe des Masseurs, des Masseurs und medizinischen Bademeisters und des Krankengymnasten vom 21. Dezember 1958 (BGBl. I S. 985), das am 1. Juli 1959 in Kraft tritt.
Von erheblicher Bedeutung für die Beurteilung der Versicherungspflicht des Klägers ist die unmittelbare Verantwortung, die dem Masseur bei der Behandlung von Kranken übertragen ist. Er behandelt zu Heilzwecken, seine Massagen dienen der Wiederherstellung der Gesundheit. Der Kläger führt diese Massagen zum großen Teil an Personen aus, die sich noch im Krankenhaus in stationärer Behandlung befinden. Die Massagebehandlung hat in den letzten Jahren in erheblichem Umfang zugenommen. Massagen werden nunmehr bei vielen Krankheiten wie Brüchen, Gelenksveränderungen, Bandscheibenschäden, Kinderlähmungsfolgen, Herz- und Kreislaufstörungen ärztlich verordnet, so daß der unmittelbare Anwendungsbereich von Massagen gegenüber früher wesentlich größer geworden ist. Der Arzt verordnet zwar die Massagen und überwacht sie auch, jedoch ist der Masseur bei der Ausübung seiner Tätigkeit weitgehend selbständig. Er führt die Massagen allein aus. Dabei muß er einen gewissen Überblick über die Krankheiten eines Patienten haben, muß beobachten, wie der Körper auf die Behandlung reagiert, muß aussetzen, wenn Schmerzen oder Komplikationen eintreten, und muß gegebenenfalls den Arzt verständigen. Seine Tätigkeit verlangt deshalb von ihm eine ständige und aufmerksame Kontrolle des Patienten. Nach dem Gesamtbild der verrichteten Arbeit steht hiernach die geistige Leistung im Vordergrund.
Nach Auffassung des Senats muß die Tätigkeit des Klägers im Rahmen der ärztlichen Hilfsberufe derjenigen einer Krankenschwester oder eines Krankenpflegers gleichgeachtet werden, (vgl. Abschnitt C der Berufsgruppenbestimmung), wenn auch nicht zu übersehen ist, daß diese Personen durch den Umgang mit Arzneien, beim Verabfolgen von Spritzen und Hilfe bei Operationen zum Teil eine weitergehende Verantwortung tragen. Berücksichtigt man aber, daß die Tätigkeit eines geprüften Masseurs in einem Krankenhaus jedenfalls weit verantwortungsvoller ist als die eines invalidenversicherungspflichtigen Krankenwärters, dessen Arbeit sich im wesentlichen auf mechanische Hilfeleistungen beschränkt, und daß die Anwendung der Massage zu Heilzwecken erheblich an Bedeutung gewonnen hat, so erscheint es nicht gerechtfertigt, die der Krankenbehandlung dienende Tätigkeit des Masseurs weiterhin als invalidenversicherungspflichtig anzusehen. Der Senat ist deshalb unter Berücksichtigung der Ausbildung und der unmittelbaren Verantwortung des Masseurs, der Massagen zu Heilzwecken ausführt, zu dem Ergebnis gelangt, daß er den Angestellten in einem Beruf der Krankenpflege gleichzustellen ist und daher der Versicherungspflicht in der Angestelltenversicherung unterliegt.
Demgemäß war der Revision des Klägers stattzugeben und unter Aufhebung des Urteils des LSG. die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG. Braunschweig zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 60493 |
BSGE 10, 82 (LT1) |
BSGE, 82 |
RegNr, 874 |
DAngVers 1959, 314 (LT1) |
AP § 3 AVG nF (LT1), Nr 1 |
AmtlMittLVA Rheinpr 1959, 175 (LT1) |
Breith 1960, 47 (LT1) |
EzS, 130/14 |