Leitsatz (redaktionell)
Die Frage, ob neurotische oder psychogene Reaktionen Schädigungsfolgen sind, ist in der Regel zu verneinen. Es bedarf jedoch einer besonderen Prüfung, wenn solche Reaktionen an wehrdienstbedingte organische Störungen anknüpfen und sich mit ihnen vermischen. Dabei ist nicht auf die normale Reaktion eines Menschen, sondern auf die Persönlichkeit des Betroffenen und auf seine Reaktion abzustellen. Wunschbedingte Vorstellungen oder Begehrensvorstellungen, die auf Willensschwäche beruhen, kommen allerdings als Schädigungsfolgen nicht in Betracht (vergleiche BSG 1959-07-28 11/8 RV 425/57 = BSGE 10, 209, 212, 213).
Normenkette
BVG § 1 Abs. 1 Fassung: 1950-12-20
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 4. November 1959 wird aufgehoben; die Sache wird zu neuer Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
I
Der Kläger, geboren 1898, erlitt in Oktober 1918 durch Granatsplitter eine Schädelverletzung; durch Bescheid vom März 1922 wurde als Schädigungsfolge "tiefe Stirnnarbe" mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 15 v.H. anerkannt und Rente gewährt; in dem Bescheid vom 12. Juli 1926 wurde das leiden als "nervöse Reizerscheinungen nach Schädelschußverletzung mit Stecksplitterverletzungen" bezeichnet und Rente nach einer MdE um 30 v.H. bewilligt, die Berufung des Klägers wies das Versorgungsgericht Berlin am 8. Juni 1927 auf Grund eines Gutachtens des Gerichtsarztes Prof. Dr. N... zurück. Am 20. April 1945 wurde der Kläger als Angehöriger des Volkssturmes am rechten Bein verwundet, das Bein wurde im unteren Drittel des rechten Oberschenkels amputiert. Durch vorläufigen Bescheid vom 31. August 1951 und sodann durch Bescheid vom 11. Januar 1952 ("Erstanerkennung") wurden als Schädigungsfolgen festgestellt: "1) Hirnkontusion nach Granatsplitterverletzung, 2) statische Beschwerden im linken Bein und Kreuzbeinbereich nach Verlust des rechten Beines infolge Granatsplittereinwirkung", der Kläger erhielt Rente nach einer MdE um 90 v.H., der Bescheid vom 11. Januar 1952 wurde bindend. Im November 1952 beantragte der Kläger Rente nach einer MdE um 100 v.H. und einfache Pflegezulage; er machte geltend, daß er infolge seiner Hirnverletzung an starken Ausfallerscheinungen leide, die sich in Anfällen, starken Kopfschmerzen und Gleichgewichtsstörungen auswirken, er sei deshalb auf ständige Begleitung angewiesen. Das Versorgungsamt hörte als Gutachter den Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. C... dieser verneinte in den Gutachten vom 13. Januar 1955 eine Verschlimmerung und hielt die Gewährung einer Pflegezulage von neurologisch-psychiatrischer Seite aus nicht für begründet. Das Versorgungsamt II Berlin lehnte darauf mit Bescheid vom 1. April 1955 den Antrag ab, den Widerspruch wies das Landesversorgungsamt Berlin am 6. Oktober 1955 zurück. Auf die Klage zog das Sozialgericht (SG) Berlin weitere ärztliche Gutachten bei. Prof. Dr. St... und Dr. B... (Neurochirurgisch-Neurologische Klinik der Freien Universität Berlin im städt. Krankenhaus Westend) kamen in dem Gutachten vom 9. Juli 1957 zu dem Ergebnis, die "Anfälle" des Klägers seien ebenso wie seine "Hilfsbedürftigkeit" mit großer Wahrscheinlichkeit Ausdruck einer abnormen psychischen Reaktion, die sich im Anschluß an die Kopfverletzung von 1918 allmählich entwickelt haben dürfte; nach der zweiten, wesentlich schwereren Verwundung (Verlust des rechten Beines) habe der Kläger dann "vollständig versagt" und sei "psychologisch verständlich und ableitbar in einer Zustand völliger Unfähigkeit geraten, sich selbst zu helfen und zu besorgen"; ein Anspruch auf Pflegezulage bestehe nicht, die Hilflosigkeit sei nicht durch nachweisbare körperliche Schädigungsfolgen bedingt; in einem weiteren Gutachten vom 27. Januar 1958 führte der Facharzt für Chirurgie und Orthopädie Dr. P... aus, der Kläger sei "allein durch die chirurgisch-orthopädischen Folgen" seines Versorgungsleidens nicht hilflos, er sei aber erwerbsunfähig. Durch Urteil vom 6. März 1958 verurteilte das SG den Beklagten, dem Kläger vom 1. November 1952 an die einfache Pflegezulage zu gewähren, im übrigen wies es die Klage ab. Auf die Berufung des Beklagten hob das Landessozialgericht (LSG) Berlin am 4. November 1959 das Urteil des SG auf und wies die Klage ab: Streitig sei allein die Pflegezulage; nach dem Gutachten von Dr. C... sei wegen der Kopfverletzung höchstens eine MdE um 40 v.H., wegen des Beinverlustes rechts mit statischen Beschwerden in linken Bein und Kreuzbeinbereich eine MdE um 80 v.H. anzunehmen, nach den Gutachten von Prof. Dr. St... und Dr. B... betrage die MdE wegen der Kopfverletzung 30 v.H. , diese Gutachter und Dr. P... hätten den Kläger nicht als hilflos bezeichnet; diesen völlig übereinstimmenden Gutachten schließe sich der Senat an; die anerkannten Schädigungsfolgen seien nicht die wesentliche Bedingung für das Auftreten von Anfällen, die Kopfverletzung im Jahre 1918 habe jahrzehntelang nicht zu Anfällen geführt; durch psychogene oder vorstellungsbedingte Zustände, die persönlichkeitsgebundene Reaktionen darstellen, werde der ursächliche Zusammenhang mit exogenen schädigenden Faktoren unterbrochen. Das Urteil wurde dem Kläger am 7. Dezember 1959 zugestellt.
Am 6. Januar 1960 legte der Kläger Revision ein, er beantragte,
das angefochtene Urteil aufzuheben,
hilfsweise,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Zur Begründung führte er aus: Da es sich nach dem Urteil des LSG um eine Neufeststellung der Versorgungsbezüge in Sinne des § 148 Nr. 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) handle, habe das LSG die Berufung als unzulässig verwerfen müssen. Das LSG habe den Sachverhalt im übrigen nicht ausreichend aufgeklärt und damit gegen die §§ 103, 106 SGG verstoßen; im Zeitpunkt der zweiten Verwundung (Verlust des rechten Beines im Jahre 1945) hätten bereits nervöse Störungen mit Stecksplitterverletzungen nach Schädelschußverletzung im ersten Weltkrieg bestanden, die als Schädigungsfolgen anerkannt seien; die Gutachter hätten sieh nicht dazu, geäußert, welchem Einfluß die "anerkannte Gesundheitsstörung der abnormen psychischen Reaktion" zuzuschreiben sei, das LSG habe insoweit den Sachverhalt noch weiter aufklären müssen; aus dem ärztlichen Gutachten vom 9. Juli 1957 ergebe sich, daß der Kläger völlig unfähig sei, sich selbst zu helfen und daß er offenbar die zweite Verwundung (den Beinverlust) seelisch nicht mehr habe verarbeiten können; die ursächliche Bedeutung einer Verletzung dürfe nicht nur nach den vorliegenden organischen Befunden bewertet werden, vielmehr sei zu fragen, wie sich die körperlichen und seelischen Gesundheitsstörungen auf den Betroffenen unter Berücksichtigung seiner Persönlichkeitsartung und seiner Lebensverhältnisse ausgewirkt haben.
Der Beklagte beantragte,
die Revision als unzulässig zu verwerfen.
II
Soweit der Kläger der Meinung ist, das LSG habe zu Unrecht eine Sachentscheidung getroffen, es habe die Berufung des Beklagten als unzulässig verwerfen müssen, ist die Rüge eines Mangels des Verfahrens des LSG nicht begründet. Es ist zwar richtig, daß es in den Gründen des Urteils des LSG heißt, bei der Entscheidung über die Pflegezulage in dem angefochtenen Bescheid vom 1. April 1955 handle es sich um "eine" Neufeststellung der Versorgungsbezüge im Sinne von § 148 Nr. 3 SGG; da das LSG aber weiter ausgeführt hat, die Berufung sei zulässig, "weil" in dem rechtskräftigen Bescheid vom 11. Januar 1952 über die Pflegezulage nicht entschieden sei, handelt es sich bei dem Wort "eine" offensichtlich um einen Schreibfehler, das LSG hat sagen wollen, die Berufung betreffe insoweit "keine" Neufeststellung der Versorgungsbezüge, dies ist auch richtig, die Berufung ist nicht nach § 148 Nr. 3 SGG ausgeschlossen gewesen.
Die Revision ist jedoch statthaft, weil der Kläger zu Recht rügt, das LSG habe keine ausreichenden Unterlagen gehabt, um festzustellen, daß der Kläger nicht infolge der als Schädigungen anerkannten Leiden hilflos sei. Das LSG ist - wie die Gutachter Prof. St und Dr. B..., deren Ausführungen sich das LSG zu eigen gemacht hat - davon ausgegangen, der Kläger befinde sich "in einem Zustand völliger Unfähigkeit, sich selbst zu helfen und zu besorgen", es hat also die Hilflosigkeit des Klägers (§ 35 BVG) festgestellt; wenn das LSG aber weiter festgestellt hat, der Kläger sei nicht "infolge der anerkannten Versorgungsleiden" hilflos, so hat es diese Feststellung nicht auf die Gutachten von Prof. Dr. St... und Dr. C... stützen können. Es trifft zwar zu, daß psychogene Reaktionen und neurotische Erscheinungen in der Regel nicht Schädigungsfolgen sind. Das LSG hat aber nicht gewürdigt, daß Prof. Dr. St... und Dr. B... gesagt haben, daß die abnorme psychische Reaktion des Klägers, die die Gutachter angenommen haben, sich "vielleicht langsam im Anschluß an die Kopfverletzung entwickelt haben dürfte" und daß "bei dem überdeckenden schweren neurotischen Krankheitsbild nicht mit Sicherheit auszuschließen" sei, daß "noch als Rest der damaligen Verwundung (Kopfverletzung) leichte Folgen einer Hirnschädigung bestehen". Das LSG hat auch außer acht gelassen, daß in dem früheren Bescheid vom 12. Juli 1927 viele Jahre lang die Folgen der Kopfverwundung zunächst als "nervöse Reizerscheinungen nach Schädelschußverletzung" bezeichnet worden sind, daß also die schon damals vorhandenen nervösen Störungen als Folge der Kopfverletzung angesehen worden sind, an diesem Krankheitsbild hat sich, auch wenn das Leiden - möglicherweise zu Unrecht - anschließend als "Hirnkontusion nach Granatsplitterverletzung" bezeichnet worden ist, nichts geändert. Das LSG hat schließlich auch nicht berücksichtigt, daß Dr. C..., obwohl er die "Anfälle" des Klägers als offenbar psychisch ausgelöste, vasomotorische Dysregulationen oder Kreislaufstörungen angesehen hat, gesagt hat, man könne bei der Art des Traumas nicht nachweisen, daß keine Hirnschädigung stattgefunden habe, und daß "eine exakte Abgrenzung posttraumatischer Wesensveränderungen von diesen endogenen depressiven Verstimmungen nicht möglich" sei, daß nach seiner Meinung an der Feststellung einer "Hirnkontusion nach Granatsplitterverletzung" in dem Bescheid vom 11. Januar 1952 festzuhalten ist und daß er abschließend den Kläger als "Hirnverletzten" bezeichnet hat. Im Hinblick auf diese Ausführungen in den vom LSG verwerteten Gutachten ist es in medizinischer Hinsicht erheblich gewesen, ob die neurotischen oder psychogenen Reaktionen nicht im vorliegenden Falle an die wehrdienstbedingten organischen Störungen - sowohl die Kopfverletzung als auch den Beinverlust - anknüpfen und sich mit ihnen vermischen, dabei sind die psychogenen und neurotischen Erscheinungen nicht einfach so wie bei einer normalen Reaktionslage zu bewerten gewesen, es war vielmehr geboten, die Betrachtungsweise auf die Persönlichkeit des Betroffenen und auf seine Reaktion abzustellen, auszuschließen waren allerdings wunschbedingte Vorstellungen oder Begehrensvorstellungen, die auf Willensschwäche beruhen (vgl. BSG 10, 209 ff., 212, 213); das LSG hat die Gutachter auf diese Gesichtspunkte hinweisen und sie, da die Gutachten insoweit nicht vollständig und nicht eindeutig sind, hierüber noch hören oder gegebenenfalls ein weiteres ärztliches Gutachten einholen müssen. Der Kläger hat dies zu Recht gerügt. Die Revision ist daher statthaft nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG; sie ist auch frist- und formgerecht eingelegt und sonach zulässig.
Die Revision ist auch begründet. Es ist möglich, daß das LSG, wenn es den Sachverhalt in medizinischer Hinsicht noch weiter aufklärt, zu einem anderen Ergebnis kommt. Das Urteil des LSG ist daher aufzuheben. Der Senat kann nicht selbst entscheiden, da noch weitere Erhebungen erforderlich sind. Die Sache ist deshalb zu neuer Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen. Das LSG wird bei der neuen Entscheidung zu berücksichtigen haben, daß die Hilflosigkeit im Sinne der versorgungsrechtlichen Kausalitätsnorm auch dann eine Folge von Schädigungen ist, wenn die Schädigungsfolgen nur eine von mehreren wesentlichen Bedingungen und damit eine Mitursache neben anderen Mitursachen sind (vgl. BSG 13, 40 ff); insoweit kann es für die Entscheidung darauf ankommen, ob selbst dann, wenn nicht festzustellen ist, daß das neurotische Krankheitsbild eine Folge der Kopfverletzung ist, nicht jedenfalls die Folgen der beiden Verwundungen, die eine MdE um 90 v.H. bedingen, eine gleichwertige Mitursache der Hilflosigkeit neben der etwa anlagebedingten abnormen psychischen Reaktion des Klägers sind; der bisher ermittelte Sachverhalt läßt nicht erkennen, ob das neurotische Krankheitsbild, das nach den Ausführungen der ärztlichen Gutachten zu der Hilflosigkeit geführt hat, überhaupt in Erscheinung getreten wäre, wenn der Kläger nicht eine Kopfverletzung und später den Beinverlust erlitten hätte; wenn die nicht bloß auf Wunschvorstellungen beruhende abnorme psychische Reaktionsweise des Klägers ohne die Verletzungen nicht in Erscheinung getreten wäre, würde sich jedenfalls nicht feststellen lassen, daß die Hilflosigkeit des Klägers allein auf die abnorme psychische Reaktionsweise zurückzuführen, daß also dieser endogen bedingte Zustand die wesentliche Bedingung und damit die versorgungsrechtlich allein erhebliche Ursache gewesen ist.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem abschließenden Urteil des LSG vorbehalten.
Fundstellen