Leitsatz (amtlich)
1. Die Erwerbsunfähigkeit eines ehemaligen landwirtschaftlichen Unternehmers darf nicht schon deshalb verneint werden, weil er die für Altenteiler (Austrägler) üblichen Arbeiten im übergebenden Betrieb verrichten könnte.
2. Vorzeitiges Altersgeld darf nicht für Zeiten vor Mai 1965 gewährt werden, wenn die Voraussetzung der Beitragsentrichtung für 60 Kalendermonate erst durch Nachentrichtung von Beiträgen aufgrund der seit 1965-05-01 bestehenden Nachentrichtungsmöglichkeit des AHNG 1965 Art 2 § 9 erfüllt worden ist.
Normenkette
RVO § 1247 Fassung: 1957-02-23; GAL § 2 Abs. 2 Fassung: 1965-09-14; GALNReglG Art. 2 § 9 Fassung: 1965-09-14, § 17 Fassung: 1965-09-14
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 11. Oktober 1966 aufgehoben, soweit der Kläger vorzeitiges Altersgeld für die Zeit vom 1. Mai 1965 an begehrt. Insoweit wird der Rechtsstreit zu neuer Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Im übrigen wird die Revision zurückgewiesen.
Gründe
I
Der 1903 geborene Kläger beantragte im November 1963 vorzeitiges Altersgeld aus der Altershilfe für Landwirte. Er bewirtschaftete ab 1937 ein landwirtschaftliches Unternehmen von ca. 9 ha und übergab es im August 1961 an seine verheiratete Tochter C. Von Mai 1963 an erhielt er aus der Arbeiterrentenversicherung (ArV) Rente wegen Berufsunfähigkeit; diese ist inzwischen in das Altersruhegeld umgewandelt worden.
Durch Bescheid vom 27. April 1964 lehnte die Beklagte den Antrag des Klägers ab, weil er statt für 60 nur für 46 Kalendermonate (Oktober 1957 bis Juli 1961) wirksame Beiträge entrichtet habe. Das Sozialgericht Landshut wies die Klage durch Urteil vom 20. Januar 1965 ab. Während des Berufungsverfahrens entrichtete der Kläger die fehlenden Beiträge auf Grund des Art. 2 § 9 des Gesetzes zur Neuregelung der Altershilfe für Landwirte in der Fassung vom 14. September 1965 (BGBl I 1458) - AHNG 1965 - nach. Das Bayerische Landessozialgericht (LSG) wies die Berufung des Klägers durch Urteil vom 11. Oktober 1966 zurück: Der Kläger habe zwar inzwischen die Voraussetzung der Beitragsentrichtung erfüllt, er erfülle jedoch nicht die Voraussetzung der Erwerbsunfähigkeit. Nach den ärztlichen Stellungnahmen könne er trotz seiner inaktiven Lungentuberkulose noch leichte Arbeiten im Stehen oder Sitzen in geschlossenen Räumen verrichten. Er müsse sich auf alle Tätigkeiten verweisen lassen, die auf dem nun seiner Tochter gehörenden Hof anfielen. Deshalb könne dahingestellt bleiben, ob - nach einer Auskunft des Arbeitsamtes - keine Möglichkeit bestünde, den Kläger in geeignete unselbständige Beschäftigungen am oder nahe beim Wohnort zu vermitteln. Der Senat folge den Ausführungen von Enz (ZfS 1963, 388), wonach die Verhältnisse vor der Hofübergabe zugrunde zu legen seien. Das bedeute, daß der Kläger auf die für Austrägler allgemein üblichen Arbeiten im früher selbst betriebenen Unternehmen verwiesen werden könne.
Mit der zugelassenen Revision beantragt der Kläger,
die Urteile der Vorinstanzen und den Bescheid vom 27. April 1964 aufzuheben und die Beklagte zur Gewährung des vorzeitigen Altersgeldes in gesetzlicher Höhe zu verurteilen.
Er rügt, das LSG habe den Begriff der Erwerbsunfähigkeit verkannt. Es sei unvorstellbar, wie der Kläger bei seinem Gesundheitszustand und Alter in wenigen Stunden im landwirtschaftlichen Betrieb noch eine erwerbbringende Tätigkeit verrichten könne; erfahrungsgemäß könne nicht einmal ein gesunder Austrägler damit Einnahmen erzielen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
II
Die Revision ist zulässig und zum Teil begründet.
Nach § 2 Abs. 2 des Gesetzes über eine Altershilfe für Landwirte idF v. 14.9.1965 (BGBl I 1449) - GAL 1965 - erhält ein landwirtschaftlicher Unternehmer - das war der Kläger von 1937 bis 1961 - vorzeitiges Altersgeld, wenn er
a) erwerbsunfähig im Sinne des § 1247 der Reichsversicherungsordnung (RVO) ist,
b) für mindestens 60 Kalendermonate Beiträge gezahlt und
c) das Unternehmen abgegeben hat.
Das LSG hat die Erwerbsunfähigkeit verneint. Nach § 1247 Abs. 2 RVO ist erwerbsunfähig ein Versicherter, der infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte entweder auf nicht absehbare Zeit eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit nicht mehr ausüben oder nicht mehr als nur geringfügige Einkünfte durch Erwerbstätigkeit erzielen kann. Diese zwei Tatbestände sind alternative Tatbestände (SozR Nr. 5 zu § 1247 RVO, BSG 21, 133); nur wenn beide nicht vorliegen, darf die Erwerbsunfähigkeit verneint werden.
Das LSG hat mit der von ihm gegebenen Begründung Erwerbsunfähigkeit beim Kläger nicht verneinen dürfen. Es hat festgestellt, daß der Kläger - offenbar in der üblichen Arbeitszeit - noch leichte Arbeiten im Stehen oder Sitzen in geschlossenen Räumen verrichten kann. Darauf hat es die weitere Feststellung gegründet, daß der Kläger in dem früher selbst betriebenen Unternehmen die für Austrägler allgemein üblichen Arbeiten verrichten kann. Ob diese Arbeiten sämtlich in geschlossenen Räumen verrichtbar sind, ist dem Urteil des LSG nicht zu entnehmen, kann aber dahingestellt bleiben. Ebensowenig braucht der Senat auf die Angriffe des Klägers gegen die tatsächlichen Feststellungen des LSG einzugehen. Auch wenn man diese zugrundelegt, läßt sich damit keiner der beiden Alternativtatbestände der Erwerbsunfähigkeit ausschließen. Die Feststellungen des LSG besagen nur, daß der Kläger bestimmte Arbeiten verrichten kann. § 1247 Abs. 2 RVO stellt jedoch in beiden Alternativen auf Erwerbstätigkeiten ab. Erwerbstätigkeiten sind aber nur solche Tätigkeiten (Arbeiten), durch die sich Einkünfte (Lohn, Verdienst oder sonstiger "Gewinn") erzielen lassen; eine unentgeltliche Arbeit ist keine Erwerbstätigkeit (BSG 19, 147; SozR Nr. 27 zu § 1246 RVO). Das LSG hat nicht festgestellt, daß der Kläger mit den Arbeiten in dem von ihm früher selbst betriebenen Unternehmen Einkünfte erzielen kann. Das ist nicht selbstverständlich. Dem Senat ist nicht bekannt, daß eine übliche Mitarbeit von Austräglern (Altenteilern) von den Hofübernehmern üblicherweise auch vergütet wird. Für den Regelfall dürfte eher das Gegenteil zu vermuten sein. Jedenfalls fehlt im vorliegenden Fall jeder Anhalt, daß der Kläger durch die Arbeiten Einkünfte erzielen könnte.
Nun hat allerdings das LSG gemeint, daß die Verhältnisse vor der Hofübergabe zugrunde zu legen seien. Damals wären die fraglichen Arbeiten wie überhaupt die gesamte Arbeit des Klägers im eigenen Betrieb ohne Zweifel eine Erwerbstätigkeit gewesen. Die damaligen Verhältnisse dürfen aber nicht mehr zugrunde gelegt werden. Der gegenteiligen Auffassung von Enz (ZfS 1963, 388) kann der Senat nicht folgen. Enz meint, es gebe im Rentenversicherungsrecht einen allgemein geltenden - auch hier anzuwendenden - Grundsatz, wonach von den Verhältnissen zur Zeit der Beitragsentrichtung (zur Zeit der Entrichtung der Pflichtbeiträge) auszugehen sei. Einen solchen allgemeinen Grundsatz gibt es nicht. Die Entscheidung BSG 7, 66, auf welche sich Enz stützt, betrifft die Frage, welcher Beruf bei der Prüfung der Berufsunfähigkeit als bisheriger Beruf anzusehen ist, wenn der Versicherte sowohl pflichtversichert als auch freiwillig versichert war. Für den vorliegenden Fall hat diese Entscheidung keine Bedeutung.
Auch die Erwägungen im Urteil des 1. Senats vom 26. September 1967 (SozR Nr. 15 zu § 1247 RVO), auf das die Beklagte hingewiesen hat, können die Verneinung der Erwerbsunfähigkeit durch das LSG nicht rechtfertigen. Nach diesem Urteil ist ein versicherter Handwerker, der Mitgesellschafter seines von Sohn und Schwiegersohn als Gesellschaft weitergeführten Bauunternehmens ist, nicht erwerbsunfähig, wenn er in diesem noch drei Stunden am Tage Büroarbeiten verrichten kann. Wie die Urteilsgründe ergeben, läßt auch der 1. Senat weder die bloße Arbeitsmöglichkeit genügen noch legt er der Würdigung der Büroarbeit als Erwerbstätigkeit die Verhältnisse vor dem Abschluß des Gesellschaftsvertrages zugrunde. Die übrigen Ausführungen des 1. Senats lassen sich auf den vorliegenden Fall nicht übertragen. Das gilt zunächst für die Auffassung, bei selbständigen Handwerkern, deren Betrieb unter ihrer Beteiligung fortgeführt wird, hänge die Verrichtung einer Erwerbstätigkeit so sehr von ihrer Arbeitswilligkeit und Initiative ab, daß die abstrakte Möglichkeit zu einer solchen Tätigkeit genügen müsse. Ein solcher allgemeiner Schluß kann für Fälle der vorliegenden Art nicht gezogen werden. Der Kläger ist seit August 1961 an dem landwirtschaftlichen Unternehmen nicht mehr beteiligt. Es fehlt jeder Anhalt, daß es entscheidend von seinem Willen und seiner Initiative abhinge, ob und wie er in dem ihm nicht mehr gehörenden Betrieb erwerbstätig wird. Nicht übertragbar ist auch das - andersartige - Argument des 1. Senats, der Handwerker habe es in der Hand gehabt, sich in dem - nach Eintritt seiner Berufsunfähigkeit geschlossenen - Gesellschaftsvertrag die für ihn geeigneten Arbeits- und Erwerbsmöglichkeiten offen zu halten. Auf der gleichen Ebene bewegt sich Lütje (Der Sozialrichter, 1966, 21, 33), der den landwirtschaftlichen Unternehmern zur Abwendung ihrer Erwerbsunfähigkeit gegebenenfalls zumuten will, bei der Abgabe einen Unternehmensteil bis zur Grenze des § 2 Abs. 7 GAL 1965 zurückzubehalten. Damit ist die Frage gestellt, ob ein landwirtschaftlicher Unternehmer bei der Unternehmensabgabe irgendwelche Positionen (Eigentum, Rechte) behalten muß, um seine etwaige Erwerbsunfähigkeit abzuwenden. Das ist zu verneinen. Es ist schon nicht recht klar, aus welchen Rechtsprinzipien (entsprechende Anwendung des § 1277 Abs. 1 RVO, Subsidiaritätserwägungen ?) eine solche Pflicht abzuleiten wäre. In jedem Falle ließe sich eine derartige Forderung überhaupt nur aufstellen, wenn die volle Unternehmensabgabe die Erwerbsunfähigkeit herbeiführen würde. Das schon trifft für den Regelfall nicht zu, so daß auf die subjektive Seite nicht mehr einzugehen ist. Bei der Prüfung der Erwerbsunfähigkeit von ehemaligen Unternehmern sind nämlich nicht nur Erwerbstätigkeiten im (früheren) Betrieb - selbständige Tätigkeiten im noch eigenen Unternehmensteil, unselbständige Beschäftigungen im abgegebenen Unternehmensteil - zu berücksichtigen. Die ehemaligen (landwirtschaftlichen) Unternehmer können vielmehr auch auf selbständige oder unselbständige Berufstätigkeiten außerhalb des Betriebes, die ihren Kräften und Fähigkeiten entsprechen, verwiesen werden; die Frage des sozialen Abstiegs, die in der Rentenversicherung bei der Prüfung der Berufsunfähigkeit (§ 1246 RVO) von wesentlicher Bedeutung ist, spielt insoweit keine Rolle; nur Treu und Glauben könnten hier im Einzelfalle der Verweisung Grenzen ziehen (BSG 19, 147, 149). In der Regel kann deshalb die volle Unternehmensabgabe noch nicht zur Erwerbsunfähigkeit führen. Davon abgesehen widerspräche das Verlangen, Rechte und sonstige Positionen zurückzubehalten, im Recht der landwirtschaftlichen Alterssicherung auch dem agrarpolitischen Ziel des GAL, die landwirtschaftlichen Betriebe rechtzeitig möglichst ungeschmälert in die Hände jüngerer Kräfte übergehen zu lassen. Die Verneinung der Erwerbsunfähigkeit durch das LSG läßt sich demnach auch nicht mit der Erwägung halten, daß der Kläger sich bei der Unternehmensabgabe im August 1961 die Befugnis, jederzeit im übergebenen Betrieb übliche Austrägerarbeiten gegen Vergütung zu verrichten, hätte vorbehalten müssen.
Soweit es sich um die Zeit vor Mai 1965 handelt - der Kläger begehrt das vorzeitige Altersgeld offenbar ab November 1963 - stellt sich die Entscheidung des LSG jedoch aus anderen Gründen als richtig dar (§ 170 Abs. 1 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -). Diese betreffen die Beitragsentrichtung, also die Voraussetzung in § 2 Abs. 2 Buchst. b GAL 1965. Die einschlägigen tatsächlichen Feststellungen des LSG sind nicht angegriffen worden und daher bindend (§ 163 SGG). Danach steht fest, daß der Kläger die erforderliche Beitragszeit (60 Kalendermonate) erst dadurch erreicht hat, daß er von der Nachentrichtungsmöglichkeit des Art. 2 § 9 AHNG 1965 Gebrauch gemacht hat. Die Vorschrift ist aus dem 3. Gesetz zur Änderung und Ergänzung des GAL vom 13. August 1965 übernommen worden (sie war als Art. 2 § 7 b in das AHNG eingefügt worden). Dieses Gesetz ist jedoch erst am 1. Mai 1965 in Kraft getreten (Art. 6 § 2). Erst von diesem Tage bestand daher die Möglichkeit zur Nachentrichtung. Dem steht nicht entgegen, daß die Neufassung des GAL vom 14. September 1965, zu welcher der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung auf Grund des Art. 4 § 4 des Gesetzes vom 13. August 1965 ermächtigt war, als Tag ihres Inkrafttretens in Art. 2 § 17 einheitlich den 1. Januar 1962 bezeichnet. Die erst durch die Änderungsgesetze vom 23. Mai 1963 und 13. August 1965 eingeführten Neuerungen (wie zB das vorzeitige Altersgeld und mehrere Nachentrichtungsmöglichkeiten) können dadurch nicht betroffen worden sein; der Zeitpunkt ihres Inkrafttretens richtet sich nach wie vor nach den Vorschriften der Änderungsgesetze vom 23. Mai 1963 und 13. August 1965 über das Inkrafttreten dieser Gesetze. Wenn aber die Möglichkeit zur Nachentrichtung von Beiträgen nach Art. 2 § 7 b des Gesetzes vom 13.8.1965 bzw. Art. 2 § 9 der Neufassung vom 14. September 1965 erst vom 1. Mai 1965 an bestanden hat, so bedeutet das, daß Leistungen auf Grund der nachentrichteten Beiträge nicht für Zeiten vor Mai 1965 gewährt werden dürfen. Wird die Voraussetzung der Beitragsentrichtung für 60 Kalendermonate erst auf Grund einer neu geschaffenen Nachentrichtungsmöglichkeit erfüllt, dann kann sie frühestens mit dem Inkrafttreten des Gesetzes erfüllt sein, das die Nachentrichtungsmöglichkeit geschaffen hat. Das vorzeitige Altersgeld darf aber frühestens vom Beginn des Monats an gewährt werden, in dem seine Voraussetzungen erfüllt sind (§§ 10 Abs. 2, 11 GAL 1965).
Die Revision ist daher zurückzuweisen, soweit der Kläger das vorzeitige Altersgeld für die Zeit vor Mai 1965 begehrt. Im übrigen muß das Urteil des LSG aufgehoben und der Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden.
Das LSG wird nun nochmals zu prüfen haben, ob der Kläger seit Mai 1965 erwerbsunfähig ist. Dabei kann es nicht darauf ankommen, ob das Arbeitsamt den Kläger in Beschäftigungen zu vermitteln vermag; auch nach der sog. konkreten Betrachtungsweise würde das Vorhandensein von Arbeitsplätzen genügen, es wäre unerheblich, ob sie frei oder besetzt sind.
Bei der Endentscheidung muß das LSG über die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens mitbefinden.
Fundstellen