Leitsatz (amtlich)
Die Voraussetzungen des RVO § 571 Abs 1 S 3 liegen grundsätzlich nur dann vor, wenn der unfallbringenden Tätigkeit überhaupt keine Tätigkeit vorangegangen ist, etwa weil der Verletzte sich damals in Schulausbildung befand oder wegen Krankheit oder Gebrechen keine Tätigkeit verrichten konnte, für die auf Grund eines Arbeitsverdienstes oder gewährter Sachbezüge ein Jahresarbeitsverdienst hätte gebildet werden können.
Normenkette
RVO § 571 Abs. 1 S. 3 Fassung: 1963-04-30, § 160 Abs. 1 S. 1, § 577 S. 1 Fassung: 1963-04-30, § 780 Abs. 2 Fassung: 1963-04-30
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 15. August 1973 insoweit aufgehoben, als die Beklagte unter teilweiser Aufhebung ihres Bescheides vom 27. August 1971 verurteilt worden ist, bei der Berechnung der Dauerrente einen Jahresarbeitsverdienst von 8.151,- DM zugrunde zu legen. Insoweit wird die Klage der Klägerin abgewiesen. Im übrigen - d.h. hinsichtlich der vorläufigen Rente - wird die Revision der Beklagten zurückgewiesen.
Kosten des Rechtsstreits hat die Beklagte der Klägerin nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Höhe des Jahresarbeitsverdienstes (JAV) der Klägerin, insbesondere darüber, ob die Mithilfe in der elterlichen Landwirtschaft in Jugoslawien eine Tätigkeit mit Arbeitseinkommen ist, die bei der Festsetzung des JAV berücksichtigt werden muß.
Die Klägerin ist 1944 geboren und jugoslawische Staatsbürgerin. Seit dem 22. Oktober 1969 arbeitete sie in der Bundesrepublik bei der Firma V & S in W als Fabrikarbeiterin. Am 28. November 1969 erlitt sie einen Arbeitsunfall, den die Beklagte mit einer vorläufigen Rente von 30 v.H. der Vollrente (Bescheid vom 26. März 1971) und ab 1. Oktober 1971 mit einer Dauerrente von 20 v.H. der Vollrente (Bescheid vom 27. August 1971) entschädigte. Die Dauerrente entzog die Beklagte mit Ablauf Mai 1973 durch Bescheid vom 26. April 1973. Hiergegen hat die Klägerin vor dem Sozialgericht (SG) Düsseldorf Klage erhoben, über die noch nicht entschieden worden ist.
Bei der Berechnung sowohl der vorläufigen als auch der Dauerrente legte die Beklagte einen JAV von 5.561,10 DM zugrunde. Diesen errechnete sie wie folgt:
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28. 11. 1968 - 31. 12. 1968 27 Tage x 13,50 DM Ortslohn = |
364,50 DM |
1. 1. 1969 - 21. 10. 1969 244 Tage x 17,70 DM Ortslohn = |
4.318,80 DM |
22. 10. 1969 - 27. 11. 1969 tatsächlich von der Klägerin erzielter Verdienst = |
877,80 DM |
Summe |
5.561,10 DM |
Gegen diesen die JAV-Festsetzung enthaltenden Bescheid der Beklagten vom 26. März 1971 hat die Klägerin Klage erhoben. Während des Klageverfahrens erteilte die Beklagte den Bescheid vom 27. August 1971, der die Dauerrente festsetzte und ebenfalls den JAV von 5.561,10 DM enthielt.
Das SG hat die Beklagte mit Urteil vom 18. Mai 1972 unter Abänderung der Bescheide vom 26. März 1971 und 27. August 1971 verurteilt, der Rentenberechnung einen JAV von 9.050,15 DM zugrunde zu legen. Auf die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) am 15. August 1973 das Urteil des SG abgeändert und die Beklagte unter teilweiser Aufhebung des Bescheides vom 27. August 1971 verurteilt, bei der Berechnung der Dauerrente einen JAV von 8.151,- DM zugrunde zu legen. Im übrigen hat es die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt: Hinsichtlich der vorläufigen Rente sei die Berufung unzulässig. Im übrigen sei die Beklagte zu Unrecht davon ausgegangen, daß die Klägerin vom 28. November 1968 bis 21. Oktober 1969 Arbeitseinkommen auf dem elterlichen Hof in Form von Sachleistungen (Kost, Wohnung, Kleidung) von ihren Eltern erhalten habe. Da sie kein Entgelt erhalten habe, sei ihr lediglich Unterhalt in Form von Sachleistungen von ihren Eltern gewährt worden. Zu Unrecht verweise die Beklagte auf § 780 Abs. 2 Reichsversicherungsordnung (RVO), wonach in der deutschen landwirtschaftlichen Unfallversicherung für mithelfende Familienangehörige durchschnittliche Jahresarbeitsverdienste festgesetzt werden, die bei Arbeitsunfällen als Bewertungsmaßstab gelten. Mithin habe die Klägerin kein Arbeitseinkommen i.S. des § 571 Abs. 1 Sätze 1 und 2 RVO erzielt. Sie sei aus diesem Grunde vor dem 22. Oktober 1969 nicht erwerbstätig gewesen, weshalb ihr JAV nach § 571 Abs. 1 Satz 3 RVO zu berechnen sei. Danach ergebe sich aber nur ein JAV von 8.151,- DM, der nicht erheblich unbillig sei.
Gegen dieses Urteil hat die Beklagte die zugelassene Revision eingelegt und zur Begründung vorgetragen, es gehe nur noch um den JAV für die Dauerrente. Bei der Übersiedlung nach Deutschland sei die Klägerin bereits 25 Jahre alt gewesen. Bis dahin habe sie für die elterliche Landwirtschaft eine erhebliche und wichtige Arbeitskraft dargestellt. Daß sie dafür keinen Barlohn, sondern im wesentlichen nur Unterhalt erhalten habe, entspreche den Verhältnissen des jugoslawischen Heimatortes M, denn sonst liefe das auf den Vorwurf hinaus, eine Haustochter in einem landwirtschaftlichen Betrieb in Jugoslawien arbeite gar nichts. Außerdem müßten auch ausländische Sachbezüge bei der Festsetzung des JAV berücksichtigt werden. Es sei deswegen nicht zu beanstanden, daß die Beklagte in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des erkennenden Senats in SozR Nr. 3 zu § 571 RVO die in der ausländischen landwirtschaftlichen Familientätigkeit verbrachte Zeit mit dem höheren deutschen Ortslohn ausgefüllt habe.
Die Beklagte beantragt sinngemäß,
die Urteile des LSG für das Land Nordrhein-Westfalen und des Sozialgerichts Düsseldorf aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend und bestreitet nicht den Erfahrungssatz, daß der hiesige Ortslohn höher liege als der nach der Sachbezugsverordnung umgerechnete Sachbezug.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG -).
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist begründet.
Zutreffend ist das LSG zunächst davon ausgegangen, daß die Berufung der Beklagten, soweit die Höhe des JAV in dem Bescheid über die Festsetzung der vorläufigen Rente vom 26. März 1971 erfolgte, unzulässig gewesen ist. Bei den Ansprüchen auf die vorläufige und auf die Dauerrente handelt es sich um selbständige prozessuale Ansprüche, so daß die Zulässigkeit der Berufung für jeden dieser Ansprüche gesondert geprüft werden muß (BSG in SozR Nr. 48 zu § 150 SGG; BSG 7, 35; 8, 228, 231; BSG in SozR Nr. 8 zu § 145 SGG, ferner BSG in Breithaupt 1970, 893 mit weiteren Nachweisen). Da die Voraussetzungen des § 150 Nrn. 2 und 3 SGG nicht gegeben sind, war die Berufung nach § 145 Nr. 3 SGG unzulässig.
Soweit die Berufung der Beklagten ihren Bescheid vom 27. August 1971 betraf, der die Dauerrente festsetzte, war sie hingegen zulässig.
Das LSG hat die Berechnung des JAV nach § 571 Abs. 1 Satz 3 RVO deswegen bejaht, weil die Klägerin bis zu ihrer Arbeitsaufnahme im Bundesgebiet am 22. Oktober 1969 nur als mithelfende Familienangehörige in der elterlichen Landwirtschaft tätig gewesen sei und hat diese Mithilfe in der elterlichen Landwirtschaft dahin gedeutet, daß die Klägerin, einem allgemeinen Grundsatz folgend, deswegen verpflichtet gewesen sei, im Haushalt der Eltern mitzuarbeiten, weil sie von diesen unterhalten wurde. Dieser Auffassung vermochte der Senat nicht zu folgen. Ob ein solcher allgemeiner Grundsatz auch in Jugoslawien besteht, hat das LSG an Hand des jugoslawischen Rechts nicht geprüft. Art. 19 des Einführungsgesetzes zum Bürgerlichen Gesetzbuch bestimmt zwar nur, daß das Rechtsverhältnis zwischen Eltern und einem ehelichen Kind nach den deutschen Gesetzen beurteilt wird, wenn der Vater die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt, jedoch ist diese unvollständige Kollisionsnorm von Lehre und Rechtsprechung zu einer vollständigen ausgebaut worden, wonach sich die Rechtsverhältnisse zwischen Eltern und ehelichen Kindern nach den Gesetzen des Staates beurteilen, dem der Vater angehört (vgl. das zur Veröffentlichung bestimmte Urteil des Senats vom 27. Juni 1974 - 8 RU 29/73).
Der erkennende Senat konnte jedoch darauf verzichten, solche Feststellungen zu treffen, weil er aufgrund des bisher festgestellten Sachverhalts, des Vorbringens der Klägerin - auch in der Revisionsinstanz - und der hier anzulegenden rechtlichen Maßstäbe der Auffassung ist, daß die Mithilfe der Klägerin in der elterlichen Landwirtschaft bis zum 25. Lebensjahr sich nicht nur im Rahmen von Unterhaltsleistungen und -verpflichtungen abgespielt hat, sondern eine "Tätigkeit" i.S. des § 571 Abs. 1 RVO darstellte, so daß die Anwendung § 571 Abs. 1 Satz 3 RVO für die Berechnung des JAV ausscheidet.
Nach § 571 Abs. 1 Satz 1 RVO gilt als JAV das Jahreseinkommen des Verletzten im Jahre vor dem Arbeitsunfall. Nach Satz 3 aaO ist dann, wenn er früher nicht tätig gewesen ist, die Tätigkeit maßgebend, die er zur Zeit des Arbeitsunfalls ausgeübt hat. Wie der Senat in seinem Urteil vom 11. Oktober 1973 (SozR Nr. 3 zu § 571 RVO Bl. Aa4) bereits ausgeführt hat, ist der JAV nicht nach § 571 Abs. 1 Satz 3 RVO - also lediglich nach den Einkommensverhältnissen auf Grund einer Tätigkeit in der Bundesrepublik zur Zeit des Arbeitsunfalls - deshalb zu berechnen, weil die vom Verletzten ohne Barlohn und nur durch Sachbezüge (Unterkunft und Verpflegung) abgegoltene Tätigkeit in der elterlichen Landwirtschaft etwa keine "irgendwie faßbare" Tätigkeit darstelle. Auch Sachbezüge sind gemäß § 160 Abs. 1 Satz 1 RVO Entgelt im sozialversicherungsrechtlichen Sinne und gehören zu dem Arbeitseinkommen, das bei der Berechnung des JAV Berücksichtigung findet. Das hat das LSG nicht hinreichend beachtet, als es in seinen Entscheidungsgründen feststellte, daß die Klägerin Sachleistungen von ihren Altern erhalten hat und sich gelegentlich auch in Nachbarschaftshilfe für andere Landwirte gegen ein geringes Entgelt zur Verfügung stellte. Die Voraussetzungen des § 571 Abs. 1 Satz 3 RVO liegen also grundsätzlich nur dann vor, wenn der unfallbringenden Tätigkeit überhaupt keine Tätigkeit vorangegangen ist, etwa weil der Verletzte sich damals noch in Schulausbildung befand oder wegen Krankheit oder Gebrechen keine Tätigkeit verrichten konnte, für die aufgrund eines Arbeitsverdienstes oder gewährter Sachbezüge ein JAV hätte gebildet werden können.
Dem steht auch nicht § 780 Abs. 2 RVO entgegen, nach dem für die im Unternehmen mitarbeitenden Familienangehörigen des Unternehmers als JAV Durchschnittssätze festgesetzt werden. Diese Vorschrift macht vielmehr deutlich, daß kraft ausdrücklicher gesetzlicher Bestimmung das Entgelt für die Arbeiten der mithelfenden Familienmitglieder in der Landwirtschaft ihrer Eltern nicht als bloßer Unterhalt anzusehen ist, sondern als Arbeitseinkommen, das dann bei Arbeitsunfällen als Bewertungsmaßstab gilt. Nur so wird man auch dem Einsatz einer 25jährigen in der Landwirtschaft ihrer Eltern gerecht, denn sonst könnte das auf den Vorwurf hinauslaufen, daß eine Haustochter in einem landwirtschaftlichen Betrieb in Jugoslawien, auch wenn sie gesund und erwachsen ist, "untätig" i.S. des § 571 Abs. 1 RVO herumsitze. Nach alledem hat die Klägerin also Sachbezüge i.S. der obigen Entscheidung des erkennenden Senats erhalten und war deshalb früher schon "tätig" gewesen.
Ausländische Sachbezüge sind - soweit möglich - nach verbrauchergeldparitätischen Gesichtspunkten umzurechnen und erst wenn dies nicht möglich ist, nach dem Devisenkurs (vgl. Urteil des Senats, SozR aaO Bl. Aa 7 R). Die Bewertung der ausländischen Sachbezüge erfolgt nach der für den Beschäftigungsort des Verletzten maßgeblichen Sachbezugsverordnung gemäß § 160 Abs. 2 RVO, die zur Zeit des Arbeitsunfalls gültig ist. Wie der Senat in der mehrfach genannten Entscheidung ausgeführt hat, bietet sich die Anwendung der Sachbezugsverordnungen deshalb an, weil - im Prinzip - durch diese Rechtsverordnungen Sachbezüge in ihrem DM-Wert für den Verbraucher - dem Bezieher des Sachbezugs - umgerechnet werden und somit ihr DM-Wert insoweit dem Grundsatz der Verbrauchergeldparität Rechnung trägt. Durch die Anwendung der für den deutschen Beschäftigungsort maßgeblichen Sachbezugsverordnung wird sichergestellt, daß die Frage des anzuwendenden Rechts Schwierigkeiten nicht erwarten läßt. Diese Grundsätze gelten allerdings nur insoweit, als durch das internationale Sozialversicherungsrecht nichts anderes bestimmt wird. Dies ist für Jugoslawien nicht der Fall (vgl. SozR aaO Aa 8). Für die Umrechnung des ausländischen Sachbezugs ist für den vorliegenden Fall die für das Kalenderjahr 1968 bzw. 1969 geltende Sachbezugsverordnung für das Land Nordrhein-Westfalen vom 12. Dezember 1967 bzw. 4. Dezember 1968 (GVBl 1967, 253; 1968, 393) i.V.m. der Sachbezugsverordnung für das Land Nordrhein-Westfalen vom 29. November 1966 (GVBl NRW 1966, 509) maßgeblich. Danach würde die Klägerin günstigenfalls unter Berücksichtigung der Bewertungsgruppe I gemäß § 1 A I 2. monatlich 168,- DM oder pro Tag 5,60 DM für die Zeit der Tätigkeit in Jugoslawien einschl. der Zeit der Einreise bis zur Aufnahme ihrer Beschäftigung in Deutschland umgerechnet erhalten können. Diese Beträge liegen unter dem vom LSG festgestellten Ortslohn von täglich 13,50 DM für 1968 und 17,70 DM für 1969. Der gemäß § 571 Abs. 1 Sätze 1 und 2 RVO rechnerisch richtige JAV ist somit niedriger als der von der Beklagten errechnete JAV, so daß der Bescheid der Beklagten vom 27. August 1971 aus diesem Grunde nicht zu beanstanden ist.
Eine Berücksichtigung der in Jugoslawien erzielten Sachbezüge ist auch nicht in erheblichem Maße unbillig (§ 577 Satz 1 RVO), da die Klägerin im Unfallzeitpunkt noch nicht mehr als drei Monate in Deutschland gearbeitet hat (siehe dazu Urteil des Senats aaO Bl. Aa 8 R, Aa 9, wo dargelegt worden ist, daß kurzfristige Einkommenslagen unberücksichtigt zu bleiben haben und die Arbeitsverhältnisse im Jahre vor dem Arbeitsunfall in einem solchen Falle vorwiegend durch das heimatliche Arbeitsleben geprägt sind).
Da das LSG zutreffend erkannt hat, daß die Berufung der Beklagten nur insoweit zulässig war, als sie die Festsetzung der Höhe des JAV in dem Bescheid der Beklagten vom 27. August 1971 über die Dauerrente betrifft, es aber die Beklagte zu Unrecht verurteilt hat, der Berechnung der Dauerrente einen höheren JAV als den von der Beklagten in dem genannten Bescheid festgesetzten JAV zugrunde zu legen, nämlich einen solchen von 8. 151,- DM, war auf die Revision der Beklagten das Urteil insoweit aufzuheben und die Klage abzuweisen. Im übrigen mußte die Revision der Beklagten zurückgewiesen werden, allerdings nur aus formalen Gründen, da sie deutlich gemacht hat, daß sich ihr Rechtsmittel nicht auf den Bescheid über die vorläufige Rente beziehe.
Die Kostenentscheidung, bei der letzteres berücksichtigt wurde, beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen